Mariette Solty vor der "Hong-Kong-Bar" in Hamburg-St. Pauli. © NDR/Videomotion

Eine Bar als letztes Relikt der Hamburger Chinatown

Stand: 13.05.2024 00:00 Uhr

Bis in die 1940er-Jahre gab es in Hamburg ein lebendiges Chinesenviertel - bis eine brutale Razzia der Gestapo ihm am 13. Mai 1944 ein Ende bereitet. Einziges Überbleibsel ist die "Hong-Kong-Bar".

Samstagnachmittag. Strahlender Sonnenschein. Doch davon bekommt Mariette Solty in ihrer schummrigen "Hong-Kong-Bar" nichts mit. Die Kneipe unweit der Hamburger Reeperbahn ist gut gefüllt, der Alkoholpegel hoch. Ruhig, aber bestimmt managt die 77-Jährige die Wünsche der Gäste, während sie Schwarz-Weiß-Fotos und vergilbte Dokumente auf dem Tresen ausbreitet. "Das sind mein Vater und ich auf einem Pass." Ein gelbes Dokument mit chinesischen Schriftzeichen, darauf ein Stempel: "Hamburg".

Soltys Vater, der Kantonese Chong Tin Lam, war 1926 als Seemann in die Hansestadt gekommen, wie Hunderte andere Chinesen auch. Sie ließen sich unweit des Hamburger Hafens in St. Pauli nieder, eröffneten Restaurants, Geschäfte, Wäschereien. Ein kleines Chinatown entstand. 

Chinesen den Behörden ein Dorn im Auge

Den Hamburger Behörden jedoch waren die Männer aus Asien ein Dorn im Auge. Sie vermuteten Opiumhandel und zwielichtige Geschäfte, meist zu Unrecht. Nach der Kriegserklärung Chinas an Nazi-Deutschland 1941 nahm die Verfolgung der Chinesen ein bedrohliches Ausmaß an. Dass sich deutsche Frauen auf chinesische Männer einließen und mit ihnen Kinder bekamen, habe schließlich die nationalsozialistische Rassenpolitik auf den Plan gerufen, erzählt der Hamburger Historiker Lars Amenda. Die gemeinsamen Kinder galten als "Bastarde", da sie nicht arisch waren. So erging es auch Mariette Solty.

Ihre Geburt 1942 fiel in die Zeit des Bombenkriegs. Bei den Angriffen durften die Chinesen nicht in die Bunker, sie mussten im Eingang bleiben. Für sie als Kind sei das wie "Weihnachten" gewesen, erzählt Solty, weil das immer "so schön bunt geflimmert" habe. Ihrem Vater war die Gefahr weit mehr bewusst: Wie viele andere Familien brachte er seine Tochter raus aus der Stadt, nach Heidelberg. Und ersparte ihr damit womöglich viel Leid.

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Im Mai 1943 eskaliert die Verfolgung

Am 13. Mai 1944 eskalierte die Verfolgung in der sogenannten "Chinesenaktion": 200 Beamte der damaligen Polizei und Gestapo stürmten am frühen Morgen die Chinatown, verhafteten rund 130 Chinesen. Vorwurf: Feindbegünstigung. Unter den Verhafteten war auch Chong Tin Lam. Auch er wurde in Arbeitserziehungslager gesteckt und misshandelt. Ihr Vater sei danach nicht mehr derselbe gewesen, erzählt Solty: "Früher war er lebenslustig und aufgeschlossen, jetzt zog er sich vollkommen zurück, traf sich mit niemandem mehr."

Eine Entschädigung oder Wiedergutmachung für die Zeit in Haft hat Chong Tin Lam nie erhalten, auch wenn er jahrelang dafür gekämpft hat. Die "Chinesenaktion" wurde wie ein gewöhnlicher polizeilicher Vorgang behandelt und nicht als rassistisch motiviert anerkannt. Darin sieht Historiker Lars Amenda einen Fehler: "Anhand der Dokumente, die überliefert sind, lässt sich ganz klar erkennen, dass sich die Gestapo-Beamten als eine Art Rassekrieger empfunden haben und die NS-Rassenpolitik auch gegenüber den Chinesen durchsetzen wollten." Die "Chinesenaktion" nicht als Verfolgung anzuerkennen, habe die Opfer ein zweites Mal gedemütigt.  

17 Menschen sterben

Mindestens 17 Chinesen starben an den Folgen des Gestapo-Terrors und der Zwangsarbeit in Arbeitslagern. Die Überlebenden kehrten Deutschland nach Kriegsende mehrheitlich den Rücken. Chong Tin Lam blieb und baute die Hong-Kong-Bar wieder auf. Seit seinem Tod 1983 führt Tochter Mariette die Kneipe weiter. Heute ist sie mit 77 eine der ältesten Kneipenchefinnen auf St. Pauli.

Dass ihr Vater keine Wiedergutmachung erhalten hat, damit hat sie sich mittlerweile abgefunden. Aber etwas anderes macht sie wütend: der wiederaufkeimende Rassismus. In ihrer Bar sei sie ganz nah dran, habe den Eindruck, dass es immer schlimmer werde: "Die Menschen haben nichts dazu gelernt, ich mache mir Sorgen, allein wegen meiner Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder." Sie sieht neben Politik und Schule vor allem die ältere Generation in der Pflicht, den jungen Leuten zu erzählen, was damals war. Deswegen erzähle sie ihre Geschichte immer wieder. Damit sie sich nicht wiederholt.

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