Seit 85 Jahren ziehen die Moorsoldaten
"Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum. Vogelsang uns nicht erquicket, Eichen stehen kahl und krumm. Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit dem Spaten ins Moor. Hier in dieser öden Heide ist das Lager aufgebaut. Wo wir frei von jeder Freude hinter Stacheldraht verstaut." Das Lied der Moorsoldaten ist heute eines der bekanntesten musikalischen Zeugnisse des Widerstands gegen den Nationalsozialismus.
Verfasst im KZ Börgermoor
Seine Uraufführung hat das Lied am 27. August 1933 im Konzentrationslager Börgermoor bei Papenburg im Emsland. Den Text haben zwei Häftlinge, der Bergmann Johann Esser und der Regisseur Wolfgang Langhoff, gemeinsam geschrieben. Die Musik hat der kaufmännische Angestellte Rudi Goguel komponiert. Die drei Männer sind überzeugte Kommunisten und gehören zu einer Reihe politischer Gefangener aus dem Rhein-Ruhrgebiet, die bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 in das Lager verschleppt wurden.
Reaktion auf Pogrom der SS-Wachen
Im August 1933 inszenieren die Häftlinge unter der Federführung Wolfgang Langhoffs eine Kulturveranstaltung mit dem Titel "Zirkus Konzentrazani". Anlass ist die "Nacht der langen Latten" - ein nächtlicher Überfall der SS-Leute auf eine Baracke, bei der zahlreiche Gefangene verletzt werden. Die Aufführung mit Clownauftritten und Musik soll den Mitgefangenen Mut zusprechen und "unsere höhere Moral gegenüber der SS öffentlich demonstrieren", erklärte Komponist Goguel 1974 in einer Sendung des DDR-Rundfunks.
Verschlüsselter Aufruf zum Widerstand
Am 27. August versammeln sich Insassen und Wachen zu der Aufführung. Bei der Veranstaltung ist das Lied Höhepunkt und letzte Nummer, ein sechzehnköpfiger Gefangenenchor trägt es vor. Mit seiner eingängigen Melodie zieht es die Zuhörer sofort in seinen Bann: "Schon bei der ersten Strophe merkten wir, welche Wirkung es ausstrahlte", so Goguel. Der Text schildert die Härte des Lageralltags, verzichtet aber auf direkte Anklagen oder revolutionäres Vokabular. Zeilen wie "ewig kann's nicht Winter sein" oder "einmal werden wir froh sagen: Heimat, du bist wieder mein" sind für die Häftlinge allerdings leicht zu entschlüsseln - als Aufruf, den Widerstand nicht aufzugeben. "Bereits bei der zweiten Strophe begannen die fast Tausend Gefangenen den Refrain mitzusingen", erinnert sich Regisseur und Texter Langhoff 1935.
Ein Lied geht im Untergrund um die Welt
Selbst die Wachmänner können sich dem Sog des Liedes nicht entziehen: "Bei der letzten Strophe sangen auch die SS-Leute, die mit ihren Kommandanten erschienen waren, einträchtig mit uns mit, offenbar, weil sie sich selbst als 'Moorsoldaten' angesprochen fühlten", erinnert sich Langhoff. Doch nur zwei Tage nach der Uraufführung lässt die Lagerleitung das Lied verbieten. Doch da lässt sich die Verbreitung des Moorsoldatenliedes schon nicht mehr aufhalten: Über entlassene oder in andere Lager verlegte Gefangene wird es schnell weit über die Grenzen des Emslandes hinaus bekannt. In Spanien singen es die Internationalen Brigaden im Bürgerkrieg der demokratischen Kräfte gegen den Diktator Franco, in Frankreich wird es als Chant de Marais zum Lied der Resistance, der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer.
Dutzende Versionen des Moorsoldatenliedes
Das Lied der Moorsoldaten erfährt unzählige Überarbeitungen und bleibt auch nach dem Zweiten Weltkrieg populär. In der DDR gehört es zum Liedgut des Schulunterrichts, in der Bundesrepublik wird es in den 1970er-Jahren vor allem durch eine Fassung des Liedermachers Hannes Wader bekannt. Eine der jüngsten Versionen verfasst 2012 die Deutschpunk-Band "Die Toten Hosen". Deren Sänger Campino bezeichnet das Lied als "Hymne gegen die Unterdrückung und für das Durchhalten in brutalen Zeiten".
Verfasser des Börgermoorlieds überlebten
Die drei Verfasser der Widerstandshymne hielten durch und überlebten den NS-Terror: Johann Esser kommt 1934 aus dem KZ frei, wird aber in den Folgejahren mehrfach von den Nazis verhaftet. Nach dem Krieg arbeitet er wieder als Bergmann und Gewerkschafter in Moers. Wolfgang Langhoff wird 1934 aus dem KZ Lichtenburg entlassen und flieht in die Schweiz. Bereits 1935 verfasst er einen Tatsachenbericht, in dem er seine Erlebnisse im Konzentrationslager schildert. Er kehrt 1945 nach Deutschland zurück.
Rudi Goguel geht nach seiner Entlassung erneut in den Untergrund und wird zu zehn Jahren "Strafhaft" verurteilt. 1944 kommt er zunächst in das KZ Sachsenhausen bei Berlin, dann in das KZ Neuengamme bei Hamburg. Im Mai 1945 überlebt er den Untergang der "Cap Arcona", bei der mehr als 7.000 Menschen, hauptsächlich evakuierte KZ Häftlinge, ums Leben kommen. Er lebt nach dem Krieg zunächst in Süddeutschland, später in Ost-Berlin.
Zehntausende Tote in Emslandlagern
Schätzungen zufolge starben von 1933 bis Kriegsende mehr als 20.000 Gefangene in den insgesamt 15 Emslandlagern. Wie viele Häftlinge an den unmenschlichen Arbeitsbedingungen starben oder gezielt ermordet wurden, ist bis heute nicht bekannt. Bis zu 180.000 Menschen waren in den Lagern inhaftiert - unter anderem aus politischen, sozialen, rassistischen oder religiösen Gründen, später kamen Kriegsgefangene hinzu. Die Häftlinge wurden als Zwangsarbeiter zur Entwässerung des Moores, zum Torfabbau und Straßenbau eingesetzt, nach Kriegsbeginn auch in der Rüstungsindustrie und Landwirtschaft. Ihr Schicksal sowie die Geschichte des Moorsoldatenlieds dokumentiert heute eine Dauerausstellung in der Gedenkstätte KZ Esterwegen.