Kriegsanleihen: Bürger finanzieren den Ersten Weltkrieg

Stand: 23.07.2023 05:00 Uhr

Im Sommer 1915 herrscht seit einem Jahr Krieg in Europa. Bezahlt wird er vor allem von denen, die auf die Rückkehr ihrer Ehemänner, Söhne und Väter warten - mit sogenannten Kriegsanleihen. Auch die damals 24-jährige Anna Lendt aus Groß Laasch geht deshalb "zeichnen".

von Carolin Kock

Anna Lendt zögert lange, bevor sie am 4. September 1915 die Sparkasse in Ludwigslust betritt. Schon zum dritten Mal hat das Deutsche Reich die Bevölkerung aufgerufen, Geld in den Krieg zu investieren. Nun will auch Anna 100 Mark Kriegsanleihe zeichnen. Für sie ist das viel Geld, denn sie wächst in Groß Laasch in einfachen Verhältnissen auf und hat keine Anstellung. 100 Mark verdient Annas Vater monatlich als Postbote.

Enkel schreibt ein Buch über seine Großmutter

Anna Lendt aus Groß Laasch © NDR
Anna Lendt entscheidet sich 1915 dafür, den Krieg mitzufinanzieren - damit er schnell endet.

All das hat ihr Enkel Michael Herms aus Dokumenten und Erzählungen rekonstruiert und ein Buch über zehn Jahre aus dem Leben seiner Großmutter Anna geschrieben. Kennengelernt hat er sie nicht, doch er kann sich heute gut erklären, warum sie sich gerade im September 1915 dafür entschieden hat, den Ersten Weltkrieg mitzufinanzieren: "Kurz vorher traf die Nachricht ein, dass einer ihrer Brüder an der Front gefallen ist. Zwei weitere Brüder und ihr Verlobter Hermann haben da noch im Krieg gekämpft und sie hat sich gewünscht, dass die drei wohlbehalten zurückkehren", sagt Michael Herms. Seine Großmutter habe mit ihrer Zeichnung also das Ende des Krieges beschleunigen wollen.

Kriegsanleihe: Patriotische Pflicht mit Gewinnaussicht

Solche persönlichen Motive sorgen mit dafür, dass die Kriegsanleihen von Beginn an das wichtigste Mittel werden, um den Krieg überhaupt zu finanzieren. Das Deutsche Reich versucht zuletzt im Sommer 1914 einen Kredit an der Wall Street aufzunehmen - vergeblich. Im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien ist es damit von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten. Steuern kommen nicht infrage, die würden die Moral des Volkes dämpfen.

Mit Zeitungsannoncen, Plakaten und Filmen ruft das Deutsche Reich stattdessen alle sechs Monate zur Zeichnung der Kriegsanleihe auf und verspricht fünf Prozent Zinsen. Das habe einen großen moralischen Druck aufgebaut, dem sich damals kaum jemand entziehen kann, sagt die Rostocker Historikerin Antje Strahl: "Die Botschaft des Deutschen Reiches war: 'Damit unterstützt Ihr Eure Männer und der Krieg wird schneller beendet sein. Alles wird sich zum Guten wenden, ihr müsst nur Euer Geld geben'." Der gesellschaftliche Druck, das große Zinsversprechen und auch die anfängliche Kriegsbegeisterung bringen Millionen Deutsche dazu zu "zeichnen". In den vier Kriegsjahren zahlen sie insgesamt 98 Milliarden Mark ein und decken damit 60 Prozent der Kriegskosten.

Kirchenglocken werden für Kriegszwecke eingeschmolzen

Anna Lendt und ihr Ehemann Hermann © NDR
Frisch verheiratet: Anna Lendt und ihr Ehemann Hermann.

Doch der Krieg dauert länger, als viele erwarten und wird schnell zur Materialschlacht. Nicht nur an der Front ist die Versorgung schlecht, auch in der Heimat. Schon im ersten Kriegsjahr gibt es kaum noch Landarbeiter, die die Ernte einfahren. Die Bevölkerung leidet unter dem extrem kalten "Kohlrübenwinter" 1916/17. "Alle Hauptnahrungsmittel waren rationiert und es ging so weit, dass es 1917 in Mecklenburg zu Hungerunruhen kam", sagt Antje Strahl. "Es wurden Bäckerläden gestürmt und Brote gestohlen, nicht nur in Rostock und Schwerin, auch in Städten wie Ludwigslust."

Von dort zieht Anna Lendt im Frühjahr 1917 zurück nach Groß Laasch, denn auf dem Dorf ist es noch leichter sich zu ernähren. Noch immer bangt sie um ihre Brüder, doch ein Wunsch erfüllt sich für sie: Im Mai 1917 heiratet Anna in der Kirche von Groß Laasch. Ihr Verlobter Hermann bekommt für die Hochzeit eine Woche Fronturlaub. Bei ihrer Trauung läuten die Kirchenglocken wohl zum letzten Mal, denn kurz darauf werden sie für Kriegszwecke eingeschmolzen.

Jeder vierte Mann aus Groß Laasch fällt im Krieg

Michael Herms, Enkel von Anna Lendt aus Groß Laasch © NDR
Michael Herms, Enkel von Anna Lendt, hat auch zur Geschichte von Groß Laasch geforscht.

Insgesamt 850 Millionen Granaten werden im Ersten Weltkrieg verschossen. Zehn Millionen Soldaten fallen - zwischen 10.000 und 12.000 davon aus dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns. Hinzu kommen Tausende Hungertote und Opfer der spanischen Grippe. Auch die zwei Brüder von Anna Lendt, die noch an der Front gekämpft haben, kommen ums Leben. Damit verliert sie drei ihrer vier Brüder durch den Krieg. Auf dem Dorfplatz in Groß Laasch steht ein Denkmal für die Kriegstoten. Zum Glück kommt Anna Lendts Mann heim. Ende 1918 ist er einer der ersten Rückkehrer.

Für sein Buch hat Michael Herms auch recherchiert, was der Krieg mit dem Dorf gemacht hat, das noch um 1900 mit 1.000 Bewohnern das Größte im Großherzogtum Mecklenburg war: "Jeder vierte Mann aus Groß Laasch ist im Krieg gefallen. Zählt man die Verletzten, Verkrüppelten und Traumatisierten dazu, war jeder Zweite vom Krieg betroffen. Das hat mich sehr erschüttert", sagt Michael Herms.

Die Kriegsanleihen "platzen"

Von den versprochenen Gewinnen bekommen die Geldgeber nichts, denn das Deutsche Reich verliert den Krieg. Schon vorher haben die Inflation eingesetzt und das Finanzsystem sei komplett zusammengebrochen, erklärt Antje Strahl: "Mit Kriegsschluss wurden dem Deutschen Reich Reparationszahlungen an Frankreich und Großbritannien aufgelastet. Dieses Geld sollte fortwährend gezahlt werden und dafür wurde immer mehr gedruckt, aber es stand kein Gegenwert da. So verlor das Geld praktisch von Stunde zu Stunde an Wert."

"Es waren Jahre der Hoffnung"

Anna Lendt und ihr Mann bekommen 1925 Post von der Reichsschuldenverwaltung - mit einer Schuldverschreibung. Damit haben sie auf dem Papier noch das Recht auf ihre 100 Mark plus Zinsen. Doch wert sind die zu dieser Zeit nichts mehr. Damit endet auch die Erzählung von Michael Herms über seine Großmutter, die von 1915 bis 1925 wohl ihre schrecklichsten Jahre, aber auch ihre glücklichsten verbracht hat: "Es waren Jahre der Hoffnung, dass sich ihr Eheglück erfüllt, ihre ersten beiden Kinder wurden geboren. Aber es war eben auch eine Kriegszeit und es war schwer, die Familie durch dieses unruhige Fahrwasser zu bringen", sagt Michael Herms. Damit steht die Geschichte seiner Großmutter Anna für die von Millionen Deutschen, die bangten, zahlten und alles verloren.

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Nordmagazin | 23.07.2023 | 19:30 Uhr

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