VIDEO: Philippinische Seemannsfamilie Alviola will in Hamburg bleiben (4 Min)

Kirchenasyl gebrochen: Vor 40 Jahren wird Familie Alviola abgeschoben

Stand: 15.11.2024 06:11 Uhr

Am 15. November 1984 holt die Polizei die Philippinerin Susan Alviola und ihre Kinder gewaltsam aus einer Hamburger Kirche und schiebt sie ab - ein Tabubruch heute vor 40 Jahren. Alviola lebt inzwischen in Kanada. Sie sagt, sie habe in Hamburg die schlechtesten Menschen getroffen - und die besten.

von Daniel Sprenger, NDR.de

"Dann hat es an der Tür geklopft. Als ich das hörte, habe ich meine Tochter genommen und bin mit ihr zum Altar gelaufen. Und vom Altar haben sie uns weggeschleppt, starke Polizeikräfte waren das. Wir haben gekämpft, geschrien und geweint." Susan Alviola

Aller Widerstand nutzt am Ende nichts: Die Familie Alviola und ihre Unterstützer kommen gegen die Staatsmacht nicht mehr an. Am Nachmittag des 15. November 1984 stürmen Dutzende Polizisten die Kirche der St. Stephanus-Gemeinde in Hamburg-Eimsbüttel. Sie führen Mutter Susan, die 14-jährige Tochter Clarizze und den zwölfjährigen Sohn Alvin ab. Nach einer Fahrt im Polizeiwagen werden sie vorübergehend in einen dunklen Raum gesperrt.

Noch am selben Abend wird die Familie dann zum Flughafen gefahren. Von Hamburg geht es über Frankfurt am Main nach Manila, in die Heimat der Alviolas auf die Philippinen. Fünf Polizisten begleiten die drei während der ganzen Strecke.

Alles beginnt mit falschen Versprechungen

Susan Alviola geht mit ihren Kindern Alvin und Clarizze an den Hamburger Landungsbrücken entlang. © Screenshot
Susan Alviola und ihre Kinder Clarizze und Alvin kommen 1981 nach Deutschland. Erwünscht von den Behörden sind sie hier von Anfang an nicht.

Mit der dramatischen Abschiebung endet die rund dreijährige Zeit der Familie in Hamburg. Ein Aufenthalt, der mit falschen Versprechungen begonnen hatte - von Alviolas erstem Mann Emilio und vom deutschen Konsul in Manila. Emilio Alviola ist als Seemann für eine deutsche Reederei auf den Weltmeeren unterwegs. Er teilt seiner Frau Anfang der 1980er-Jahre mit, dass sie und die Kinder im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihm nach Deutschland kommen könnten. "Ich bin ohne Vater aufgewachsen", sagt Susan Alviola 40 Jahre nach ihrer Abschiebung im Gespräch mit dem NDR. "Ich wollte nicht, dass meine Kinder auch ohne Vater aufwachsen. Deshalb habe ich alles, was ich auf den Philippinen geliebt habe, hinter mir gelassen: meine Freiwilligenarbeit für die Kirche und meine Freunde. Ich wollte, dass meine Kinder dicht bei ihrem Vater sind."

Familienzusammenführung in diesem Fall nicht rechtens

Zwar gibt es damals in der Tat eine Regelung, dass ausländische Seemänner ihre Angehörigen nachholen können. Doch im Fall Alviola gibt es ein Problem: Emilio fährt zwar für eine deutsche Reederei, aber unter ausländischer Flagge. "Ein ausländischer Seemann muss auf einem deutschen Schiff fahren, wenn er seine Familie nachholen lassen will nach Deutschland", erklärt Innensenator Rolf Lange (SPD) seinerzeit im Hamburger Journal des NDR. "Dieses Schiff muss regelmäßig einen deutschen Hafen anlaufen, sonst gibt es natürlich keinen Sinn einer Familienzusammenführung. Drittens: Dieses muss eine Mindest-Fahrenszeit von drei Jahren bedeuten. Nichts von diesen drei Kriterien passt auf den Fall Alviola."

Alviola geht zur Ausländerbehörde: "Bist du verrückt?!"

Der deutsche Konsul in Manila habe ihr hingegen gesagt, dass sie vor Ablauf von drei Monaten in Deutschland bei der Ausländerbehörde vorstellig werden solle, um ihren Status zu legalisieren. Alviola geht tatsächlich zum Amt, anders als andere Philippiner, die sich vor den Behörden verstecken. "Die haben zu mir gesagt, ich sei verrückt, zur Ausländerbehörde zu gehen. Ich habe gesagt: Wieso bin ich verrückt? Ich mache das Richtige." Doch in der Behörde habe sie nur eine sehr unerfreuliche Begegnung mit einer Sachbearbeiterin gehabt. "Die Frau hat auf meinen Pass geguckt, ihn zu mir zurückgeschoben und gesagt: 'RAUS!'"

Rechtlich ist die Lage ziemlich klar, doch Susan Alviola lässt nichts unversucht und kontaktiert den Anwalt Rolf Geffken, der sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Es wird prozessiert, ein Unterstützerkreis formt sich, setzt Petitionen auf. Anders als andere Philippiner sucht Susan Alviola die Öffentlichkeit. Der NDR sendet 1983 einen Bericht über den Fall. "Ich möchte glücklich sein und frei und akzeptiert. Der Status illegal zu sein ist wie ein Gefängnis", sagt Alviola darin.

Innensenator Lange: Es handelt sich um eine illegale Einreise

Ihre Ehe mit Emilio ist zu der Zeit bereits zerrüttet, doch für ihre beiden Kinder Clarizze und Alvin will sie unbedingt eine Zukunft in Deutschland sichern. Denn die beiden sind in der Katholischen Schule Am Weiher nach zwei Jahren gut integriert, sprechen sehr gut Deutsch. Doch die Behörden lassen nicht locker:

"Hierbei handelt es sich um eine illegale Einreise. Frau Alviola hat alle Rechtsmittel ausgeschöpft." Innensenator Rolf Lange (SPD) in den Tagesthemen am 14.11.1984

Wenn man in die USA einreise als Tourist und das Land nicht innerhalb einer bestimmten Zeit verlasse, werde man wieder herauskomplimentiert. "Und wenn ich nicht freiwillig gehe, dann werde ich rausgeworfen", so Lange. Um dem zu entgehen, verlässt Alviola im Herbst 1984 ihre Zwei-Zimmer-Wohnung in der Wrangelstraße und begibt sich ins Kirchenasyl.

Flucht in die Kirche als letzte Chance

"Die letzte Möglichkeit war in die Kirche zu gehen. Ich wurde katholisch erzogen, sehr konservativ. Mein Großvater sagte, wenn ich mal in Schwierigkeiten kommen sollte, dann führe der erste Weg in die Kirche", sagt Alviola. Sie betrachte die Kirche als einen heiligen Platz, den die Leute mehr respektieren als andere Orte. "Und wir haben gehofft, Gnade von den Behörden zu erfahren."

Doch diese Gnade kommt nicht. Stattdessen startet die Innenbehörde Anfang November 1984 einen ersten Abschiebeversuch. Der scheitert, weil sich im Gemeindehaus eine große Unterstützergruppe um die Familie schart. Auch Wolf Biermann singt aus Solidarität mit der Familie im Gemeindehaus. "Ich finde es richtig, dass die Beamten in der Kirche von Zwangsmitteln abgesehen haben", erklärt Innensenator Lange. "Andachtsräume sollen nicht Schauplatz solcher Auseinandersetzungen sein." Kirchen seien aber keine rechtsfreien Räume.

Pastor Heß: Christlicher Auftrag wichtiger als Gesetze

Pastor Thomas Heß steht im Interview für die Tagesthemen vor der St. Stephanus-Kirche. © Screenshot
Pastor Thomas Heß bietet der Familie in der St. Stephanus-Kirche in Hamburg-Eimsbüttel Schutz.

"Ich bin nicht der Meinung, dass ich irgendwelche Gesetze breche", sagt Thomas Heß, der Pastor der St. Stephanus-Gemeinde, seinerzeit den Tagesthemen. "Ich nehme hier mein Recht wahr, als Seelsorger tätig zu werden. Wenn ich damit auf Konfliktkurs gehen und Gesetze tatsächlich brechen sollte, dann muss ich das in Kauf nehmen. Der Auftrag, den ich durch das Neue Testament habe, der ist mir wichtiger als Gesetze."

"Keine Angst, solange man sich richtig verhält"

Am 14. November 1984 mehren sich die Anzeichen, dass ein weiterer Abschiebeversuch unmittelbar bevorsteht. Angst habe sie damals nicht gehabt, sagt Alviola. "Ich habe von meinem Großvater gelernt, niemals vor irgendwem oder irgendetwas Angst zu haben, solange man sich richtig verhält. Deshalb hatte ich keine Angst, ich habe permanent gebetet."

Auch an diesem Abend sind die Kirche und das Gemeindehaus voll von Unterstützern der Familie. "Es wurde gesungen. Es gab zu essen. Es war eine gute, friedliche Stimmung, also friedlicher Widerstand, damit die Familie nicht allein ist", erinnert sich Arnim Joop. Er war ein gutes Jahr zuvor als freier Journalist auf den Fall der Alviolas aufmerksam geworden und hatte zusammen mit Pastor Heß und dem Rechtsanwalt Geffken den Kampf der Familie um ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland in die Öffentlichkeit geführt.

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An dem Abend und in der Nacht passiert nichts. "Am nächsten Tag gegen Morgen sind die meisten nach Hause gegangen und mussten arbeiten oder schlafen", sagt Joop. Die Ruhe vor dem Sturm - im wahrsten Sinne. Denn dieses Mal gehen die Beamten nicht so zurückhaltend vor wie einige Wochen zuvor. "Es war überwältigend. Wir waren vielleicht fünf, sechs Leute gegen 20 oder 30 Polizisten, alle in Zivil, die ins Gebäude hereinstürmten." Sie hätten sich in den Räumlichkeiten sehr gut zurechtgefunden. Deshalb ist Joop sich sicher, dass sich ein staatlicher Spion unter die Unterstützergruppe gemischt hatte, um die Kirche auszukundschaften. "Wir waren da zu blauäugig oder naiv", resümiert er heute. Eigentlich war auch geplant, bei einem staatlichen Übergriff die Glocken zu läuten, um die umliegende Bevölkerung zu alarmieren, dass ihre Unterstützung gebraucht werde. "Doch als ich den Raum betreten wollte, wo der Schalter für die Glocken war, stand darin schon ein Polizist", so Joop.

"Ich bin davon überzeugt, dass das ein abschreckendes Beispiel sein sollte", sagt Joop. Innensenator Lange rechtfertigt sein Vorgehen so: "Wenn die Kirchengemeinde es zulässt, dass ihre Kirche zu einem Instrument wird, um gegen eine bestimmte Ausländerpolitik, wie wir sie in Hamburg vertreten, nämlich Begrenzung des Zuzugs von Ausländern, anzugehen und auch nicht kompromissbereit ist, dann muss ich sagen, ist dies eine schlimme Sache und die Kirchengemeinde hat dies so gewollt."

Neuanfang in alter Heimat - ohne Geld und Job

Der offene und bewusste Bruch des Kirchenasyls sorgt in der Folge für erbitterte Wortgefechte zwischen Opposition und SPD-geführtem Senat in der Hamburgischen Bürgerschaft - und stellt Susan Alviola und ihre Kinder vor die Herausforderung, in der alten, aber fremd gewordenen Heimat völlig neu anzufangen, mit 38 Jahren. 

"Wir hatten kein Geld und keine Wohnung", sagt Alviola. Zunächst schlafen sie in der Wohnung ihrer Schwester in Manila, zu neunt in einem Raum. "Für Clarizze und Alvin war es schwer, sich wieder in die eigene Kultur zu integrieren. Alvin konnte nicht mal mehr die Sprache sprechen."

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Mehr als 2.000 Luftpostbriefe und eine Heirat später

Arnim Joop fliegt vier Tage nach der Abschiebung hinterher und bringt der Familie die nötigsten Sachen. "Sie hatten ja nicht mal Gelegenheit, ihre Handtasche oder ihren Pass mitzunehmen", sagt Joop. Insgesamt reist er vier Mal auf die Philippinen, lernt auch Alviolas Eltern kennen. Er hält den Kontakt, auch als Alviola zunächst in Hongkong eine Anstellung als Nanny findet und sich von Emilio scheiden lässt. Auf den streng katholischen Philippinen war das nicht möglich.

Über eine Agentur wird Alviola 1988 nach Kanada vermittelt, auch hier reißt der Kontakt zu Joop nicht ab. "Arnim hat sechs Jahre lang geschrieben, immer wieder geschrieben", sagt Alviola. "Wir haben in der Zeit mehr als 2.000 Luftpostbriefe geschrieben, es gab ja kein Zoom oder Facetime und nicht mal E-Mail. Das hat die Verbindung erhalten." Auch Joop sucht sich einen Job in Kanada. 1989 heiraten die beiden in Kanada, 1991 kommen Clarizze und Alvin nach. Seitdem leben sie in Edmonton in der Provinz Alberta.

Potenzial der Alviolas wird in Kanada genutzt

"Wir sind in Kanada jetzt glücklich", sagt Alviola. Ihre Kinder, die in Deutschland als "nicht im öffentlichen Interesse" bezeichnet worden seien, seien in Kanada nun gute Bürger. Alvin hat zwei Abschlüsse an einer Technischen Hochschule gemacht, ist Luftfahrttechniker und dient nun der Royal Canadian Air Force. Clarizze hat eine eigene Firma und schafft Jobs für Kanadier. Zudem hilft sie philippinischen Zeitarbeitern und Neuankömmlingen bei der Integration in Kanada. Alviola selbst hat 25 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet.

"Was Kanada gewonnen hat durch die Beiträge, die Susan und ihre Kinder hier leisten! Der Gewinn für Kanada war der Verlust für Deutschland. Deutschland hätte das haben können", sagt Joop. Doch Deutschland habe sich vor 40 Jahren anders entschieden. Im Rückblick auf das Kirchenasyl in der St. Stephanus-Kirche sagt Joop, dass man ja eigentlich nicht erfolgreich gewesen sei. "Susan und die Kinder mussten das Land verlassen. Aber ein Erfolg war, dass es so eine brutale Aktion für viele Jahre nicht wiedergegeben hat." Erst Anfang Oktober dieses Jahres wurde ein Afghane aus dem Kirchenasyl in Bergedorf abgeschoben - der zweite Fall in Hamburg überhaupt, nach einer Pause von fast 40 Jahren.

"Wie man Frau und Kinder aus einer Kirche verschleppen kann"

"Ich bin nicht böse auf Deutschland", sagt Alviola im Rückblick. "Dort leben wunderbare Menschen." Nur die Bürokratie und die traumatische Erfahrung, die ihr die Behörden zugefügt hätten, seien negative Erinnerungen. "Ich habe in Hamburg die besten Leute getroffen, aber auch die schlimmsten." Das seien die Mitarbeiter der Ausländerbehörde gewesen. "Ich kann bis heute nicht verstehen, wie man eine Frau, ihre Tochter und ihren Sohn aus einer Kirche verschleppen kann. Das ist so gemein."

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NDR Info | Aktuell | 15.11.2024 | 07:07 Uhr

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