Stand: 11.06.2013 14:18 Uhr

"Assis" und Akademiker: Konnte das gut gehen?

von Oliver Diedrich

Arbeiter, Akademiker, Alte, Junge, Studenten, kinderreiche Familien, Menschen mit Drogenproblemen, Ex-Gefängnis-Insassen - alle zusammen in einem Plattenbau. Wie soll das funktionieren? Ausgedacht hat sich das Rolf Spille. Er ist Anfang der 1970er-Jahre ein junger Architekt. In Hamburg-Steilshoop kann er seine Idee umsetzen. Im dortigen Plattenbau-Neubaugebiet richtet er einen Wohnblock für mehr als 200 Leute nach deren Vorstellungen ein - von der 20-Personen-WG bis zur Kleinwohnung für Alleinstehende mit Kind.

Es ist ein Versuch, die Anonymität der Großstadt-Hochhäuser zu durchbrechen. Ganz bewusst sollen Menschen aus unterschiedlichen Milieus unter einem Dach leben. Sie wollen voneinander lernen, sich gegenseitig helfen und sogar die Miete solidarisch finanzieren. Doch nach wenigen Jahren geht dem frühen Diversity-Projekt die Luft aus. NDR.de fragte ehemalige Bewohner und den Architekten Rolf Spille, was damals schief lief.

"Es war ein Experiment"

Architekt Rolf Spille vor dem Gebäude des früheren "Wohnmodells Steilshoop". © NDR Foto: Oliver Diedrich
In der Architektur gehe es heute zu wenig um die Inhalte, kritisiert Architekt Spille.

Rolf Spille steht vor dem Betonklotz am Gropiusring, Kette rauchend. "Das Projekt ist nicht gescheitert", sagt er. "Es war ein Experiment. Die Erfahrungen mussten gemacht werden." Die Schwachen mitnehmen - das hätten die Leute im Modell Steilshoop vorgelebt. Heute dagegen gehe es in der Architektur doch nur noch ums Erscheinungsbild, nicht mehr um die Inhalte. "Das ärgert mich!"

Der Architekt, damals selbst SPD-Mitglied, hatte Anfang der 70er-Jahre Hamburgs Sozialdemokraten von seinem Plan überzeugt und viele junge Leute zum Mitmachen animiert. "So etwas kann man nur mit Idealismus umsetzen. Die Arbeit kann einem keiner bezahlen." Immerhin sei er damals "der bekannteste Architekt in Europa" gewesen, erzählt Spille. Journalisten aus aller Welt interessierten sich für das Modell Steilshoop. Der NDR drehte eine Dokumentation.

"Die endlosen Problemdebatten ödeten mich an"

Wohnprojekt Steilshoop Teil 1

Wegen großer Wohnungsnot entstehen in Hamburg Ende der 1960er-Jahre mehrere Hochhaussiedlungen - zum Beispiel in Steilshoop. Der Verein "Urbanes Wohnen" will dafür sorgen, dass der Mensch im Hochhausghetto nicht zu kurz kommt - es ist die Zeit der Studentenbewegung. Architekt Rolf Spille gelingt im SPD-regierten Hamburg eine Vereinbarung mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft SAGA. Einer der Plattenbauten in Steilshoop wird im Inneren komplett nach den Vorstellungen der künftigen Bewohner gestaltet.

In Gemeindehäusern gibt es Vortreffen mit jeweils 40 bis 50 Leuten, allmählich finden sich die einzelnen Wohngruppen zusammen. Mit Architekt Spille wird der Zuschnitt der künftigen Wohnung geplant. Hartmut Wolf, damals angehender Kunsterzieher, zieht 1972 mit Ehefrau und zehnjährigem Sohn in eine 400 Quadratmeter-WG. Sechs Familien haben dort jeweils eigene Bereiche - Küche und Wohnzimmer teilen sie sich.

"Bei uns war alles ziemlich bürgerlich - fast alle in der WG waren Akademiker und verheiratet", erinnert sich Wolf. Ihre Wohngemeinschaft nennen sie "Graut vor nix" - in Anspielung auf die Asterix-Comics. Doch sehr schnell stellt sich heraus, "dass solche Projekte leicht Menschen anziehen, die nicht ganz glücklich durchs Leben ziehen und ihre Probleme gerne durch die Gruppe bewältigt hätten". Zwar habe es auch lustige Abende gegeben, "aber die endlosen Problemdebatten ödeten mich an".

"Da zu wohnen war eine ganz große Bereicherung"

Wohnprojekt Steilshoop Teil 2

220 Leute ziehen ab Mitte 1972 in das Wohnprojekt. Arbeitsgemeinschaften sollen sich um das Wohl der Bewohner kümmern und die Integration der "Randständigen" - kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Ex-Strafgefangene und ehemalige Drogensüchtige. Es gibt einen Sozialfonds, der einspringt, wenn jemand die Miete nicht zahlen kann. Doch das Zusammenleben verursacht viel Stress. Viele Bessergestellte verlassen das rasch verwahrloste Neubaugebiet wieder. Nach knapp zehn Jahren löst sich der Verein "Wohnmodell Steilshoop" auf. In dem Block gibt es heute wieder normale Mietwohnungen.

Auch Christa Daniel ist Anfang der 70er-Jahre eines der Gründungsmitglieder des Wohnmodells. Sie lebt zwei Jahre am Gropiusring. "Da zu wohnen war eine ganz große Bereicherung. Ich habe viel gelernt über ganz unterschiedliche Menschen und über Beziehungen." Allerdings sei es sehr anstrengend gewesen - die vielen Projekte im Haus, alles musste organisiert werden. "Eigentlich war das ein Fulltimejob." Ihr damaliger Mann habe tatsächlich seine Arbeit aufgegeben, um sich dem Wohnmodell ganz zu widmen, erzählt Daniel heute. Im Management des Projektes seien damals eher die Männer aktiv gewesen. Aber Geschlechterprobleme habe es nicht gegeben: "Da wurde sehr drauf geachtet."

Forscher machen sich zum Gegenstand der Forschung

Szene aus der Dokumentation "Das Haus in Steilshoop" - NDR 1973 © NDR Foto: Screenshot
Gruppendiskussion im Wohnprojekt: "Eigentlich war das Leben dort ein Fulltimejob".

Thomas Deuber arbeitet damals in einigen AGs mit, kümmert sich um den Ausbau der Dachterrasse und einer Teestube am Gropiusring. "Das Spannendste für mich war aber die Arbeit in der Forschungsgruppe." Sie sollte das Projekt wissenschaftlich begleiten. "Der Witz war, dass uns die Ergebnisse direkt zufließen sollten, dass sich der Forscher ganz bewusst zum Teil des beobachteten Gegenstandes machte". Deuber wohnt vier Jahre lang im "Modell Steilshoop" - in verschiedenen WGs, mal in einer besonders politisch-aktiven, mal in einer mit Hetero- und Homosexuellen. Kontakt zu den "Randständigen" habe er damals kaum gehabt, sagt Deuber. "Wir merkten damals schnell, dass wir mit der sozialen Integration etwa der Drogengruppe überfordert waren." Und auch von der Freiheit bei der Gestaltung der Wohnräume seien sie überfordert gewesen. Das zeigte sich zum Beispiel, als eine Gruppe viel zu kleine Flure in ihre Wohnung bauen ließ.

"Von vornherein zum Scheitern verurteilt"

Hartmut Wolf ist einer der ersten, der mit seiner Familie vom Gropiusring wieder wegzieht - schon 1973. "Das Umfeld in Steilshoop war damals sehr prekär" - viele "Sozialfälle" seien eingezogen, berichtet Wolf. "Für Kinder war das nicht so zuträglich, mein Sohn hat sehr gelitten." Das Neubaugebiet sei auch optisch unschön gewesen. "Es wirkte sehr unfertig, immer war alles eine Baustelle." Unter den Jugendlichen habe es Banden gegeben. Auch die neu entstandene Gesamtschule, in der er selbst arbeitete, sei ihm zu unorganisiert gewesen. Wolf bilanziert: "Das Ganze war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Was Menschen in solchen Wohngruppen leisten müssen, können unfertige und unreife Gestalten gar nicht wuppen."

"Das ganze zerbröselte in Kleingruppen"

Frau schaut aus einem Fenster in einem Plattenbau-Hochhaus. © NDR Foto: Oliver Diedrich
"Solidarisches Wohnen statt genormter Isolation"? Am Gropiusring herrscht 40 Jahre nach dem Aus für das "Modell Steilshoop" wieder Plattenbaualltag.

Christa Daniel sagt, am Geld habe es damals nicht gefehlt, auch wenn am Ende Mietschulden blieben. "Das Ganze zerbröselte einfach in Kleingruppen, der Zusammenhalt ging verloren." Das Projekt sei überdimensioniert und zu ambitioniert gewesen, kritisiert sie. "Zum Beispiel hatten wir eine Familie mit 13 Kindern im Haus, und wir haben uns eingebildet, wir könnten die entschulden." Tatsächlich habe die Familie aber wohl von der Sozialhilfe und vom Kindergeld ganz gut gelebt.

Nach zwei Jahren in Steilshoop trennt sich Daniel damals von ihrem Mann und zieht aus. Das habe aber nichts mit dem Wohnmodell zu tun gehabt. Sie finde das Leben in solchen Projekten immer noch interessant. Kürzlich informierte sie sich über das Leben in einem Mehrgenerationen-Haus.

Andere Projekte profitierten von Hamburger Erfahrungen

Rolf Spille schnippt am Gropiusring einen weiteren Zigarettenstummel weg. Der Architekt hat damals ein Buch über das Projekt in Steilshoop geschrieben. "Solidarisches Wohnen statt genormter Isolation" forderte er darin. Heute räumt Spille ein, das Projekt sei "überladen" gewesen, mit "zu vielen Sozialfällen". Auch das Umfeld sei nicht optimal gewesen. "Hätten wir das in Eppendorf gemacht, wäre vieles anders gelaufen." Spätere Projekte, zum Beispiel in Holland, hätten aber aus den Fehlern in Hamburg lernen können - weniger Leute, ein geringerer Anteil an sozialen Problemfällen. "Ich würd' sowas immer wieder machen", lautet Spilles Resümee.

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 07.07.2013 | 19:30 Uhr

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