Eine Kindheit im Bombenkrieg
Als die ersten Bomben auf Hannover-Misburg fallen, ist Edith Reinecke gerade neun Jahre alt geworden. "Wir hielten es zuerst für ein Gewitter", berichtet sie. In der Nachbarschaft hatte zu der Zeit noch niemand einen Bombenangriff erlebt. Als der Vater, der im Misburger Hafen arbeitet, nach Hause kommt, um weiteres Verbandszeug für die Verwundeten zu holen und von den Einschlägen berichtet, wird die dunkle Ahnung zur Gewissheit: Am 19. Mai 1940 ist Hannover erstmals Ziel eines Bombenangriffs geworden.
In ständiger Erwartung des nächsten Angriffs
Als die Stadt im Oktober 1943 die schwersten Angriffe des Krieges erlebt, glaubt Edith Reinecke längst nicht mehr an Gewitter, wenn sie die Explosionen der Sprengbomben hört. Die fröhliche Unbeschwertheit des jungen Mädchens ist der ständigen Anspannung des Kriegsalltags gewichen. Über einen ruhigen Schlaf im Nachthemd kann sich die inzwischen Zwölfjährige nur noch an Weihnachten freuen. Ansonsten wird in Kleidung übernachtet: "Wir haben alles angehabt, von oben bis unten, nur dass man im Winter noch einen Mantel überziehen und laufen konnte." Bei Fliegeralarm ging es direkt aus dem Bett im Laufschritt zu dem in der Nachbarschaft errichteten Bunker. "Ein Angriff kam ja nach dem anderen!"
Eine Stadt in Trümmern
"Wir wussten ja nicht, dass ganz Hannover zerstört wurde", erinnert sich Edith Reinecke an die Nacht auf den 9. Oktober 1943. Als die Bomben auf die Innenstadt niedergehen, sitzt die Schülerin mit ihrer Mutter im Bunker. Misburg liegt weit von der Innenstadt entfernt. So ahnt die damals Zwölfjährige zu diesem Zeitpunkt nicht, welches Ausmaß dieser Angriff hat. Im Bombenhagel kommt auch der Sohn einer Freundin ihrer Mutter ums Leben. Sie beschließen, die Freundin am anderen Ende der Stadt in Hannover-Linden zu besuchen. Auf dem Weg bietet sich Mutter und Tochter ein Bild des Grauens: "Solche Trümmerberge, die qualmten teilweise noch, und ein Gestank überall", erinnert sich Edith Reinecke. "Es war fürchterlich!"
Ein ungewisser Abschied
Beim Weg durch die zerstörte Innenstadt fällt ihr ein Erlebnis vom Beginn des Krieges wieder ein. Als sie einmal mit ihren Eltern in der Karmarschstraße in der Innenstadt unterwegs ist, beobachtet sie, wie ein junger Soldat Abschied von seiner Liebsten nimmt. "Da schaute eine Frau aus dem Fenster. Man sah, dass sie ganz traurig war und dass sie wohl auch weinte. Und sie winkte so, ganz leicht und er stand unten, winkte auch. Also: sie nahmen Abschied." Nach den schweren Angriffen im Oktober 1943 führt sie ihr Weg wieder durch die Karmarschstraße. Dieses Mal liegt die Straße in Schutt und Asche. Nur notdürftig sind die Wege geräumt. Am Straßenrand türmen sich die Trümmer meterhoch auf. In der Luft liegt noch immer der beißende Brandgeruch. "Da fiel mir das schlagartig wieder ein von diesem Ehepaar", erzählt Edith Reinecke. "Da habe ich nur zu meiner Mutter gesagt, ob die wohl noch beide leben? Das hat mich wirklich sehr berührt."
"Die Teppiche rollten!"
Nur zehn Tage nach dem erstem schweren Angriff im Oktober 1943 wird Hannover erneut das Ziel britischer Bomber. Gemeinsam mit ihrer Mutter flüchtet die zwölfjährige Schülerin in den Bunker. Der Vater ist an Scharlach erkrankt. Wegen der Ansteckungsgefahr darf er nicht in den Schutzraum. Er bleibt während des Angriffs im Haus der Familie. "Und die Teppiche rollten", erinnert sich Edith Reinecke an die Flächenbombardements. "Und der Teppich kam immer näher, immer näher. Der Bunker wackelte, er bebte. Und dann kam der Putz von den Wänden. Die Teppiche kamen näher und näher. Ich bin bald wahnsinnig geworden! Meine Mutter hat mich getröstet. Hat meinen Kopf in ihren Schoss gelegt und mich festgehalten. Wir wussten nicht mehr, was wir machen sollten. Meine Mutter hatte genauso viel Angst wie ich. Die Kinder weinten. Die Frauen schrien."
Vater ist in Sicherheit
Dann mit einem Mal ist Stille. Der Angriff ist vorüber. Mutter und Kind haben im Bunker überlebt. Doch was war mit dem kranken Vater zu Hause? Noch bevor die beiden den Schutzraum verlassen, kommt ein Freund der Eltern in den Bunker und berichtet: "Elsbeth, Arthur ist in Sicherheit! Ich wollte zu euch nach Haus und wollte gucken, was passiert ist, da kam er mir schweißgebadet entgegen, der alte Mann. Mit eurem Überseekoffer!" Doch das Haus ist beschädigt. Die Nacht soll die Familie bei den Freunden verbringen. Die Erzählung des Vaters lässt Schlimmes erahnen. "Bei uns sind die Balken von der Decke gekommen. Ich bin nur noch über Schuttberge geklettert!"
Besichtigung der Schäden
Am nächsten Morgen sehen sich Mutter und Tochter den Schaden an. Bis zur Hälfte ist die Haustür mit Schutt versperrt. "Wie der da rausgekommen ist, weiß ich auch nicht", sagt Edith Reinecke. Vorderhaus und Seite sind abgedeckt. Die Ziegel türmen sich vor dem Haus. Die Fensterscheiben sind zersplittert. Doch das Haus hat keinen direkten Treffer bekommen. Was der Vater in der Nacht für Balken hielt, waren Gardinenleisten, die von der Decke gefallen waren und halb vor den Fenstern hingen. Mit Hilfe des Freundes und junger Wehrpflichtiger gelingt es, das Haus bis zum Abend einigermaßen herzurichten. Noch anderthalb Jahre dauert der Bombenkrieg. Am 28. März wird Hannover zum letzten Mal Ziel eines größeren Luftangriffs. Edith Reinecke und ihre Eltern überleben. Am 10. April 1945 marschieren die Briten in Hannover ein. Als der Krieg zu Ende geht, ist Edith Reinecke 14 Jahre alt.