Zwei Packungen mit Bockshornkleesprossen stehen im Juni 2011 auf einem Labortisch des Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) in Oldenburg. © picture alliance / dpa Foto: Ingo Wagner

EHEC: Als Sprossen eine Krise auslösten

Stand: 09.05.2021 20:20 Uhr

Inmitten der Corona-Pandemie ist die EHEC-Krise fast in Vergessenheit geraten. Doch Aufregung und Sorgen sind groß, als von Mai 2011 an vor allem in Norddeutschland blutige Durchfallerkrankungen auftreten. Tausende erkranken, 53 Menschen sterben.

Als dem Berliner Robert Koch-Institut (RKI) Anfang Mai 2011 gehäuft Durchfallerkrankungen aufgrund von EHEC-Infektionen gemeldet werden, scheint das zunächst nicht ungewöhnlich. Denn im Durchschnitt infizieren sich pro Jahr rund 1.000 Menschen mit dem Keim. Doch schnell wird klar: Dieser Erreger ist aggressiver als andere. Denn die Erkrankungen sind zum Teil sehr schwer, und ungewöhnlich viele Patienten leiden an einer Komplikation, dem Hämolytisch-Urämischen Syndrom (HUS), das mit der Zerstörung von Blutzellen und einer Schädigung der Nieren einhergeht. Im Nachhinein datiert das RKI den Beginn der Erkankungswelle auf den 8. Mai - an diesem Tag erkrankt eine Frau aus Niedersachsen wegen einer Infektion mit dem Darmkeim.

EHEC: Ein Darmkeim, der Toxine bildet

Elektronenmikroskopische Aufnahme von EHEC-Bakterien. © dpa Foto: Manfred Rohde/HZI
EHEC-Bakterien bilden Toxine, die schwere Erkrankungen hervorrufen können.

EHEC bedeutet Enterohämorrhagisches Escherichia coli. Dabei handelt es sich um Escherichia coli-Bakterien, die Zellgifte bilden. EHEC-Keime finden immer mal wieder ihren Weg in den menschlichen Körper - meist über verunreinigte Lebensmittel. In den meisten Fällen verursachen die Bakterien leichte bis schwere Durchfallerkrankungen. Diese Toxine können beim Menschen aber auch schwere, unter Umständen sogar tödlich verlaufende Erkrankungen hervorrufen. HUS kann als Folge einer Infektion entstehen - eine Erkrankung, die sich in Blutgerinnungsstörungen und einer Zerstörung der roten Blutkörperchen äußert und zu akutem Nierenversagen führen kann.

Unter den Betroffenen sind viele junge Frauen

Vor allem in Hamburg und Schleswig-Holstein werden im Mai 2011 immer mehr Infektionen gemeldet. Untypisch ist: Unter den Erkrankten sind viele junge Frauen. Üblicherweise aber trifft EHEC eher kleine Kinder. Am 21. Mai informiert das Robert Koch-Institut das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) über die Häufung der Erkrankungen. Schon einen Tag später erreicht die Erkrankungswelle ihren Höhepunkt: An diesem Tag werden 161 neue EHEC-Infektionsfälle und 63 HUS-Neuerkrankungen gemeldet. Kurz darauf kommt es zu ersten Todesfällen.

Gurken, Salat und Tomaten unter EHEC-Verdacht

Warnschild vor Salatgurken (Montage) © fotolia.com Foto: sashpictures, rotschwarzdesign
Zunächst stehen Gurken aus Spanien unter Verdacht - aber die Spur ist falsch.

Experten rätseln über die Ursache der blutigen Durchfälle. Die üblichen Verdächtigen wie rohes Fleisch und Milch sind schnell ausgeschlossen. Bei Befragungen der Erkrankten fällt auf: Viele Betroffene erinnern sich, dass sie im Vorfeld der Infektion Blattsalate verzehrt hatten. Auch Tomaten und Gurken werden als mögliche Quelle der Infektion mit dem Erreger genannt. Am 25. Mai erfolgt deshalb ein Paukenschlag: RKI und BfR warnen in einer gemeinsamen Stellungnahme vor dem Verzehr roher Tomaten, Gurken und Blattsalaten - vor allem im Norden Deutschlands. Tags darauf wird das Hamburger Hygiene-Institut sogar fündig und spürt EHEC-Erreger auf spanischen Salatgurken auf. Doch die Gurken-Spur ist falsch.

Untersuchungen beim BfR zeigen rasch: Die EHEC-Erreger auf den Gurken sind nicht vom selben Typ O104:H4 wie die Bakterien, die für das massive Ausbruchsgeschehen verantwortlich sind. Doch welche Lebensmittel sind stattdessen für die Erkrankungen verantwortlich?

Patienten mit schweren neurologischen Störungen

Immer mehr Menschen erkranken, vor allem in Hamburg. Manche HUS-Patienten leiden an schweren neurologischen Störungen, eine spezielle Behandlung gibt es nicht. "Die Krankenhaus-Kapazitäten waren völlig erschöpft. Alle Betten waren belegt, weil es so schnell ging", erinnert sich der ehemalige RKI-Präsident Reinhard Burger an die Situation in der Hansestadt. Nicht nur in Norddeutschland gibt es Erkrankungen, sondern auch in anderen Regionen Deutschlands, in Skandinavien und sogar in den USA.

Sprossen als Ursache - aber woher kommt der Erreger?

Männer in Schutzanzügen verpacken Proben auf dem Gelände des Gärtnerhofes Bienenbüttel. © picture alliance / dpa Foto: Julian Stratenschulte
Auf einem Biohof in Bienenbüttel untersuchen die EHEC-Ermittler 2011 Sprossen auf den Erreger.

Akribisch sammeln EHEC-Ermittler in den Bundesländern und beim Bundesinstitut für Risikobewertung Lieferdaten von mehr als 90 Lebensmitteln, vom Lollo-Rosso-Salat über Rosmarin bis hin zu Sprossen. Am 5. Juni folgt der nächste Paukenschlag: Das niedersächsische Gesundheitsministerium warnt vor dem Verzehr von Sprossen und verweist auf die Auswertung von Warenströmen: Es führe eine Spur von den Erkrankten zu einem Betrieb im Kreis Uelzen. Am 10. Juni wird ein Nachweis für die Vermutung erbracht: Erstmals werden an nach Nordrhein-Westfalen gelieferten Sprossen, die von einem Biohof in Bienenbüttel stammen, die aggressiven Bakterien vom Typ O104:H4 entdeckt. Eine Familie hatte die Packung aus dem Müll gerettet, nachdem zwei Familienmitglieder an EHEC erkrankt waren.

Die Behörden raten daraufhin vom Verzehr roher Sprossen ab, frühere Verzehrsempfehlungen für Gurken, Tomaten und Salat werden aufgehoben. Doch viele Fragen bleiben offen - vor allem, wie der Erreger an beziehungsweise in die Sprossen kam. War Düngung die Ursache? Klärschlamm, verschmutztes Trinkwasser oder gar Terrorismus? In allen Proben, die die Ermittler auf dem Biohof am Rand der Lüneburger Heide nehmen, findet sich der Erreger nicht. Auch wird der EHEC-Keim nie in einer ungeöffneten Packung Sprossen nachgewiesen.

Fälle in Frankreich bringen entscheidenden Hinweis

Als auch in Frankreich Infektionen durch den Erreger vom Typ O104:H4 auftreten, gelingt es den EHEC-Ermittlern, das verdächtige Lebensmittel weiter einzugrenzen. Personen, die in der Nähe von Bordeaux erkrankt waren, hatten Sprossen verzehrt, die in einem französischen Freizeitheim für Kinder aus drei verschiedenen Samenarten produziert worden waren. Nun werden aus Ägypten stammende Bockshornklee-Samen als Ursache der Infektionswelle identifiziert, denn sie waren als einzige sowohl in der in Frankreich verzehrten Sprossenmischung als auch in Sprossenmischungen des niedersächsischen Gartenbaubetriebs enthalten, wie das BfR im Rückblick auf das Ausbruchsgeschehen schreibt.

Für die EHEC-Ermittler ist damit klar: Im Winter 2008/2009 in Ägypten produzierte Bockshornklee-Samen sind die Verbindung zwischen den Erkrankungsfällen in Deutschland und Frankreich. Teilmengen dieser Charge wurden sowohl in Bienenbüttel als auch in Frankreich zur Sprossenproduktion eingesetzt.

Bockshornklee-Samen aus Ägypten als Ursache ausgemacht

Nun geht alles ganz schnell. Anfang Juli verhängt die EU ein Einfuhrverbot für Bockshornklee-Samen aus Ägypten. Dort seien "mit hoher Wahrscheinlichkeit" die gefährlichen Erreger auf das Saatgut gelangt. Europäische Behörden und sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO raten nun vom Verzehr roher Sprossen ab. Am 21. Juli beschränken BfR, BVL und RKI die Verzehrsempfehlung auf den Rohverzehr von Bockshornklee-Samen aus Ägypten und daraus hergestellte Sprossen.

Fast 3.000 EHEC- und 855 HUS-Verkrankungen

Am 26. Juli erklärt das RKI den bis heute größten EHEC-Ausbruch in Deutschland offiziell für beendet: Seit inzwischen drei Wochen sind aus den Bundesländern keine neuen Erkrankungen mehr gemeldet worden. Insgesamt registrieren die Behörden 3.842 Erkrankungsfälle, 2.987 EHEC- und 855 HUS-Erkrankungen. Bundesweit sind 35 Menschen infolge einer HUS-Erkrankung gestorben, weitere 18 an EHEC. Es ist nicht nur der größte EHEC-Ausbruch in der Geschichte der Bundesrepublik - bezogen auf die Anzahl der HUS-Fälle sprechen die Behörden sogar vom größten Ausbruch weltweit.

Herkunft des Erregers ist nach wie vor unbekannt

Eine Labor-Mitarbeiterin hält am 24. Mai 2011 eine Petrischale mit EHEC-Bakterienstämmen. © Picturea Alliance / dpa Foto: Christian Charisius
EHEC-Bakterien vom Typ O104:H4 sind für die Ausbruchswelle im Frühsommer 2011 verantwortlich - woher sie stammen, ist bis heute unklar.

Wo und wie die Samen mit dem Ausbruchserreger in Kontakt kamen, ist bis heute ein Rätsel - ebenso, wo der Erreger seinen Ursprung hatte und ob es vielleicht ein Tierreservoir für den ihn gibt, wie es beim RKI heißt. "Niemand weiß, ob O104:H4 eines Tages wiederkommt."

Die Verbraucherorganisation Foodwatch hält die EHEC-Krise auch gar nicht für vollständig aufgeklärt. Nur gut zehn Prozent der Erkrankungsfälle hätten zurückverfolgt werden können, kritisierte die Organisation 2013: "Mindestens 87 Prozent aller gemeldeten EHEC-Fälle wurden ohne Klärung der Ansteckungsursache zu den Akten gelegt", das habe das RKI bestätigt.

Falsche Gurken-Warnung: Schadenersatzklage gegen Hamburg

Folgen hat der EHEC-Ausbruch nicht nur für den Betrieb in Bienenbüttel, der fortan ums Überleben kämpft. Auch vielen Bauern geht die Krise an die Substanz, denn der Absatz von Gurken, Salat, Tomaten und anderen Gemüsesorten war aufgrund der falschen Warnung zeitweise drastisch eingebrochen. Die EU-Kommission beziffert allein die Einnahmeausfälle in der Europäischen Union auf mehr als 800 Millionen Euro. Die Stadt Hamburg sieht sich mit einer Schadenersatzklage eines spanischen Gemüsehänders konfrontiert: 2,3 Millionen Euro verlangt er von der Stadt für die falsche Gurken-Warnung. Der Streit endet 2017 mit einem Vergleich, infolge dessen die Stadt einen mittleren sechsstelligen Betrag zahlt.

Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 09.05.2021 | 19:30 Uhr

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