Besuch in Auschwitz: Aus Zahlen werden Schicksale
Auschwitz ist ein Ort voller Fragen. Was bedeutet der Spruch "Arbeit macht frei" über dem Eingangstor? Was haben die SS-Männer gedacht, als sie Hunderttausende Kinder, Mütter, Väter in den Tod trieben? Maya Szilasi und ihre 27 Mitschüler stellen diese Fragen während der Führung im Stammlager Auschwitz I. Für fünf Tage sind die Jugendlichen des Julius-Stursberg-Gymnasiums in Neukirchen-Vluyn in den kleinen polnischen Ort Oświęcim gekommen. Hier nehmen die deutschen Besatzer 1940 das Konzentrationslager Auschwitz in Betrieb und errichten im Jahr darauf das Lager Auschwitz II-Birkenau, in das später Juden aus vielen europäischen Staaten zur Vernichtung deportiert wurden. Die Schüler wollen verstehen: Was ist damals passiert auf der Rampe, von der aus die Nazis viele Deportierte direkt in die Gaskammern schickten? Wie konnten Menschen so unmenschlich handeln? Und was können wir für die Zukunft daraus lernen?
Auschwitz ist ein Ort der Namen
So wie die Abiturienten aus Nordrhein-Westfalen reisen jährlich 1,3 Millionen Besucher in die Gedenkstätte. Nur 69.000 von ihnen sind deutsch. Meist sind sie jung: 16, 17 Jahre alte Schüler. Maya beugt sich während des Rundgangs über jede Vitrine; liest die Aufnahmedokumente, gefälschte Totenscheine, Bestellformulare für das Giftgas Zyklon B. Meist verlässt sie als Letzte die Ausstellungsräume. Es scheint, als wolle das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz keine Information verpassen, jeden Häftlingsnamen lesen.
Maya hat den Projektkurs, mit dem sie nach Polen gereist ist, freiwillig gewählt: "Dass Auschwitz sich nicht wiederhole" heißt er. "Wir haben Hitlers Aufstieg in Geschichte behandelt, aber wussten gar nicht wirklich, was das mit den Juden zu tun hatte. Ich fühlte mich selber nicht gut informiert", berichtet die 18-Jährige.
Auschwitz ist ein Ort der Gegenstände
Kein Jugendlicher hat vor der Führung vergessen, sein Handy lautlos zu stellen. Vier Stunden lang ist es still. Nur die Schritte über den Steinboden, über die Wege zwischen den Baracken sind zu hören. Maya sieht durch die Glaswand, hinter der jeder der 80.000 Schuhe die Geschichte seines Besitzers erzählt. Sie guckt auf das Meer von blauen, weißen und roten Schüsseln und Töpfen, die die Menschen in der Hoffnung auf ein neues Leben mit nach Auschwitz brachten. Sie betrachtet Kinderspielzeug und den beigefarbenen Babypullover, entdeckt Löcher an Schulter und Ellbogen. "Franz Engel" steht in Weiß auf einem der Koffer in der Ausstellung. "Waisenkind Gertrude Neubauer" auf einem anderen. "Anna Kraus", "Paul Gelbkopf", "Friedrich Neumann, geboren 1890".
Es sind die Habseligkeiten der Opfer, die noch heute den Blick auf das individuelle Schicksal im millionenfachen Grauen ermöglichen. Zeichen von Leben, die die Ermordeten nicht zu Ende führen durften. Maya guckt zur Seite und zieht ihre Schultern hoch. "Als ich durch das Eingangstor gegangen bin, da habe ich eine leichte Panikattacke gekriegt, gezittert. Ich dachte, wir wären vorbereitet gewesen, auf das, was wir hier sehen. Aber nein, waren wir nicht."
Auschwitz ist ein trauriger Ort
Auschwitz war das größte Vernichtungslager der Nazis. Mindestens 1,1 Millionen Menschen kamen hier zu Tode. In der Gedenkstätte werden diese Zahlen zu Gesichtern. Für einige der Schüler ist das zu viel. Sie stoppen vor dem Raum, in dem Haare der Toten gezeigt werden. Und sie warten lieber oben an der Treppe, die zum Lagergefängnis hinunterführt.
"Man darf die Jugendlichen nicht alleine lassen mit diesem schweren Thema", sagt Krystyna Oleksy, Vorsitzende der Erinnerungsstiftung Auschwitz-Birkenau. Ein Rundgang über das Gelände ist nicht einfach ein Schulausflug wie der ins Schwimmbad. Auschwitz kann traurig machen, hilflos, traumatisieren. Tiefgehende Vorbereitung, sagt Oleksy, zahle sich aus. "Jugendliche, die sich mit der Geschichte beschäftigt haben, fragen nicht nur nach den Fakten. Sie stellen auch all diese komplizierten philosophischen und ethischen Fragen."
Auschwitz ist ein Ort der Zukunft
Die Erinnerungsstiftung arbeitet mit dem Bildungszentrum der Gedenkstätte Hand in Hand daran, den Wunsch der Überlebenden umzusetzen: Auschwitz als Lernort erhalten. Als Ort, an dem deutlich wird, wie bösartig Menschen sein können. Aber auch als Ort, der zeigt, dass sich jeder Mensch entscheiden kann, wie er sich entwickelt. "Die Ziele unserer Arbeit scheinen manchmal idealistisch. Wir wollen für eine hoffentlich bessere Zukunft bilden, Respekt für das Gegenüber vermitteln", fasst Oleksy zusammen. Es gehe nicht darum, die ganze Welt zu verbessern, sondern die eigene Menschlichkeit zu stärken.
Auschwitz ist ein emotionaler Ort
"Ich nehme für mich mit, mehr auf Menschen insgesamt zu achten, sie nicht zu verurteilen", ist sich Maya sicher. Viele ihrer Mitschüler waren nach der Führung erschöpft - körperlich und psychisch. "Die tiefe inhaltliche Vorbereitung war extrem wichtig, sonst hätten die Jugendlichen noch schwerer mit den Emotionen umgehen können", findet Mayas Lehrerin Julia Abel. Wer in der Jugendherberge am Abend nach der Führung den Gesprächen lauscht, hört die Schüler über das Vernichtungslager diskutieren - auch darüber, dass ihnen das Thema in der Schule zu kurz kommt.
"Als wir zurück waren, haben viele Mitschüler uns gefragt, wie es war. Die wollen auch gerne mehr wissen", erzählt Maya. Sie finde es gut, darüber zu reden. "Denn nur, wer sich mit der Geschichte auseinandersetzt, kann aus den Fehlern lernen."