Zeitreise: Rostocker Polizeichef im Rotlicht-Strudel
Ein Polizeichef, der Prostituierte ins Gästehaus der Polizei einlädt und ihnen bei Problemen seine dienstliche Hilfe anbietet: Was nach einem zu klischeehaften Drehbuch klingt, ist reale Rostocker Nachwendezeit.
Anfang der 1990er-Jahre kommen nicht nur blühende Landschaften und D-Mark in den Osten, sondern auch die organisierte Kriminalität und Prostitution. "Vor allem aus Berlin und Hamburg strömten die Zuhälter nach Rostock", erinnert sich der damalige Kriminalpolizist Nicolai Ludwig. "Es gab einen regelrechten Machtkampf um die Vorherrschaft in Rostock." Und dieser Machtkampf ist brutal: Waffenhandel, Schutzgeld, Erpressung, Messerstechereien, Drogenhandel.
Neuer Polizeichef gilt als "Law and Order"-Mann
Um die Situation in den Griff zu bekommen, wird ein neuer Polizeichef in Rostock installiert: Siegfried Kordus aus Düsseldorf. Er will eine integre und disziplinierte Polizei führen, denn "das Umfeld einer Polizei bestimmt deren Handeln", sagt Kordus in einem NDR-Interview im Jahr 1991. Für journalistische Beobachter der damaligen Zeit ist der neue Polizeichef ein "Law and Order"-Mann: jemand, der die Kriminalität hart bekämpft. Der "Focus" schreibt damals, dass Kordus insbesondere der Prostitution Einhalt gebieten will - was für den späteren Teil dieser Geschichte noch relevant wird.
Kordus und die rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen
Nur ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt gerät Kordus in die Kritik. Mit den rassistischen Ausschreitungen im August 1992 in Lichtenhagen wird Rostock weltweit unrühmlich bekannt. Abscheuliche Übergriffe auf Ausländer im "Sonnenblumenhaus" - die Situation ist schnell komplett außer Kontrolle, schließlich zieht sich die Polizei sogar zurück und lässt die im Gebäude verbliebenen Menschen schutzlos zurück. Kurz darauf brennt das Haus. Siegfried Kordus fuhr nach eigenen Angaben "gegen 20.10 Uhr" für drei Stunden zum Hemdenwechsel nach Hause - und hinterließ einen übermüdeten Einsatzleiter ohne Wachwechsel. Wegen seines Verhaltens bei dem Einsatz muss er später vor den Untersuchungsausschuss des Landtags. Zu diesem Zeitpunkt ist Kordus schon LKA-Chef von Mecklenburg-Vorpommern.
Eskalation in der Rotlichtszene - die Polizeiführung mittendrin
In der Rotlichtszene eskalieren derweil die Machtkämpfe: "Da wurde mit einer unfassbaren Brutalität vorgegangen, verschiedene Gruppierungen lieferten sich regelrechte Schlachten", sagt der damalige Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern, Alexander Prechtel. "Man kann es etwas flapsig sagen: Die haben der Justiz teilweise die Arbeit abgenommen, weil sie sich gegenseitig aus dem Feld gedrängt haben." Allerdings, so erinnert sich Prechtel, wurden nicht wirklich intensive Maßnahmen ergriffen: "Die oberste Polizeiführung hat mit einer gewissen Nachsicht gearbeitet, weil sie selber diese Institutionen genutzt haben." Polizisten, die offenbar nicht ermitteln, weil sie mit dem Milieu verstrickt sind: Fast schon mafiaeske Realität Anfang der 90er Jahre in Rostock.
Morde erschüttern Rostocker Rotlichtmilieu
Allein zwischen Oktober 1993 und Dezember 1994 gibt es vier Morde in der Rostocker Szene. Der Hamburger Bordell-Betreiber Karl-Heinz "Kalle" Gebauer etwa wird in einem Bordell erschossen - auf dem Gelände eines ehemaligen Ferienlagers einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Bei einer Messerstecherei im Warnemünder Bordell "Bienenstock" wird ein 37-Jähriger getötet. Dazu berichtet der "Spiegel", dass die Pathologen bei der Obduktion 28 Messerstiche zählten: "In den Vernehmungen rechtfertigten sich die Verhafteten mit Notwehr. Ein Ermittler sarkastisch: 'Der muss denen wohl 28-mal ins Messer gelaufen sein.'"
Ermittlungen in Polizeikreisen
In der Folge kommt es zu Ermittlungen und Durchsuchungen. Dabei machen die Ermittler um den Kriminalpolizisten Nicolai Ludwig einen unerwarteten Fund: "Da waren wir sehr überrascht, dass wir plötzlich Schecks gefunden haben, die vom Polizeioberen unterschrieben waren. Schecks, mit denen er die Dienste der Prostituierten beglichen hat." Kordus hat also in den Jahren 1991 und 1992 die Frauen - in der Presse werden sie "Doris" und "Silvia" genannt - mit Schecks bezahlt.
"Er kam aus dem Westen und fühlte sich wie Gott in Frankreich"
Die Summen fließen laut "Focus" auf das Konto von "Kalle" Gebauer. Aber warum hat der Polizeichef damals nicht einfach mit Bargeld bezahlt, um keine Spuren zu hinterlassen? Das erklärt sich der damalige Kripo-Beamte Ludwig so: "Er kam aus dem Westen direkt auf eine Spitzenposition in den Osten. Da fühlte er sich offenbar wie der Gott in Frankreich, der über dem Gesetz steht. Er fühlte sich mächtig und Macht kann überheblich machen." Die Bild-Zeitung berichtet großflächig über den "Liebeshunger des höchsten Polizeibeamten Mecklenburgs".
Das Privatleben wird öffentlich, weil es dienstliche Verquickungen gibt: Verschiedene Zeitungen berichten, dass im Zuge der Durchsuchungen im Milieu nicht nur Schecks gefunden wurden, sondern auch Visitenkarten des Polizeichefs. "Er hat einer der Prostituierten gesagt: 'Ich bin hier der Polizeichef, wenn du mal ein Problem hast, kannst du dich an mich wenden'", erzählt der damalige Generalstaatsanwalt Alexander Prechtl. Die Bild-Zeitung schreibt dazu: "Kordus hatte anscheinend eine korrupte Veranlagung."
Kordus trifft Prostituierte im Gästehaus der Polizei
Zudem wird eine weitere delikate Seite des Skandals öffentlich: Die Treffen des Polizisten mit den Prostituierten spielten sich nicht etwa im Bordell "Bienenstock" ab, sondern nur 300 Meter entfernt: im Gästehaus der Polizei. Dort wohnt der aus Düsseldorf zugereiste Polizeichef damals. "Er hat das Gästehaus der Polizei zum Etablissement des Rotlichtmilieus gemacht", fasst Polizist Ludwig zusammen. Die Nähe des LKA-Chefs - damals der höchste Beamte der Polizei in MV - zum Rotlicht ist pikant: Hatte sich Kordus doch als "Sittenwächter" (Focus) präsentiert, der ein diszipliniertes Umfeld der Polizei schätzt.
Und nun "hat er sich in dieses Milieu begeben und hat sich in diesem Milieu erpressbar gemacht", stellt Nicolai Ludwig fest. Plakativ berichtet die Bild-Zeitung: Der sogenannte "Zuhälterkönig" Kalle Gebauer habe gute Kontakte zur Polizei - dies sei auch ein Verdienst seiner Prostituierten. Der Rostocker Kriminalpolizist Thomas Laum sagt damals dem NDR: "Zur organisierten Kriminalität gehört immer Korruption, also die Einbeziehung von Leuten aus der öffentlichen Verwaltung. Und ich denke mal, wir hier in Rostock machen da leider keine Ausnahme." Der "Focus" spekuliert sogar noch weiter: Polizeichef Siegfried Kordus sei bei seinen Besuchen im Bordell womöglich gefilmt worden.
Während Disziplinarverfahren: Polizeichef geht in vorzeitigen Ruhestand
Gegen Kordus wird nun ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Der meldet sich daraufhin krank - "das Herz", berichtet der Focus süffisant. Wenig später bittet der Rostocker Polizeichef um Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand. Das NDR Nordmagazin konnte Kordus für eine Stellungnahme nicht erreichen. Nach NDR Informationen hat er lange in Marbella gelebt und ist offenbar 2017 in Spanien verstorben.
Aufarbeitung Mitte der 90er
In Mecklenburg-Vorpommern folgt 1994 die politische Aufarbeitung: Intern waren Kordus' Kontakte zur Rotlichtszene seit Monaten bekannt, berichtet das Hamburger Abendblatt. Die Informationen seien jedoch nicht "hinreichend abgesichert und beweisbar" gewesen. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Rudi Geil (CDU) zieht nun die Konsequenzen: Ein Staatssekretär muss gehen, ein Abteilungsleiter wird versetzt. Nachwirkungen einer Geschichte, die auch fast 30 Jahre später wie ein zu klischeehaftes Drehbuch wirkt. Ein Polizeichef, der gegen die Organisierte Kriminalität vorgehen soll und stattdessen sehr direkte Kontakte zu dieser Szene pflegt - mitten im Gästehaus der Polizei. Ein selten öffentlicher Fall von Verquickungen eines Amtsträgers mit dem Milieu.