Wie ein Hamburger Freiherr die Nazis narrte
Dieter von Specht zeigt auf ein kleines Aquarell, das zwischen Familienfotos in seinem Esszimmer hängt. Darauf ist eine Villa mit Giebeln und Türmchen im englischen Landhausstil zu sehen, die am Ende eines weitläufigen Parks auf einer Anhöhe steht. Auf der Wiese davor grasen Kühe. "1881 hat mein Urgroßvater Johann Heinrich Gossler dieses Haus bauen lassen. Es hatte etwa 40 Zimmer", sagt von Specht, als er sich in seinen Ohrensessel gesetzt hat. Er hat den Kamin im Wohnzimmer angemacht. "Das ist gemütlicher", sagt der 90-Jährige, schlägt seine Beine übereinander und beginnt lebhaft zu erzählen.
"Herrliche Erinnerungen" an Landleben in der Stadt
Das Gemälde von 1884 und ein Foto, auf dem das Haus mit Efeu berankt ist, seien die einzigen Überbleibsel der Villa. Sie diente als Sommersitz der Privatbank-Dynastie Berenberg-Gossler. Auf der Anhöhe im Niendorfer Gehege in Hamburg findet sich heute nur ein von Büschen überwucherter quadratischer Platz inmitten von hohen Eichen und Buchen. Von Specht blättert daher in seinem gedanklichen Album: "Ich habe herrliche Erinnerungen an das Haus: Meine Eltern haben mit uns drei Kindern immer von den Osterferien bis zu den Herbstferien dort gewohnt."
In dem 20 Hektar großen englischen Landschaftspark stehen noch heute Bäume, die von Spechts amerikanische Urgroßmutter aus Boston hatte einschiffen lassen. Einst wurden aber auch Damwild, Kaninchen, Meerschweinchen, Schildkröten und Ziegen auf dem weitläufigen Gelände gehalten, erinnert sich von Specht in seinem Ohrensessel. "Es war ein herrliches Landleben, was Stadtkinder ja sonst gar nicht haben können." Bis zum Jahr 1938.
Idylle wird durch Nazis jäh zerstört
"Im Frühjahr 1938 kam eine Delegation von Nazis. Die sahen das Haus, liefen drin herum und sagten zu meinem Großvater, sie würden es gerne mieten." Sie wollten dort ein Parteischulungsheim unterbringen. Doch das sei Freiherr Cornelius von Berenberg-Gossler überhaupt nicht recht gewesen. "Er ist in sein Büro gefahren, hat zwei Abbruchunternehmer kommen lassen und hat ihnen gesagt: 'Ich brauche ein absolut wasserdichtes Zertifikat, dass das Haus abbruchreif und nicht bewohnbar ist.'" An zweiter Stelle habe die Schnelligkeit des Abrisses gestanden, erst an dritter Stelle der Preis. Das Haus sei innerhalb von zwölf Tagen beseitigt worden. "Einige Wochen später irrten die Nazis hier wieder durch den Park und suchten das Haus. Mein Großvater eröffnete ihnen: 'Ja, wissen Sie, das Haus war absolut abbruchreif und nicht mehr bewohnbar. Das Risiko, Ihre Leute in so einem Haus unterzubringen, das konnte ich ja gar nicht übernehmen. Das Haus musste abgerissen werden.'"
Sich schlicht zu weigern, das Haus an die Partei zu vermieten, sei keine Alternative gewesen. Da ist sich von Specht sicher. "Man muss in der damaligen Zeit gelebt haben, um die Umstände zu kennen. Es gab keine echte Chance." Also blieb nur der Ausweg, dass Cornelius von Berenberg-Gossler den Nazis mit seiner selbstlosen Finte die Pläne vereitelt. Sein Großvater sei ein sehr mutiger Mann gewesen, sagt von Specht. "Die Familie hat das völlig verstanden, es wäre für sie ein Entsetzen gewesen, ein Naziheim auf unserem Gelände zu haben. Das wollte sie unter keinen Umständen."
Schon früh Distanz zu den Nazis
Schon früh habe Cornelius von Berenberg-Gossler eine ablehnende Haltung gegenüber den Nationalsozialisten eingenommen, sagt von Specht: "Er war in die NSDAP eingetreten, weil er damals fürchtete, es würde eine Bolschewisierung Deutschlands geben. 1934 hat er sein Parteibuch zurückgeschickt. Er hatte Reden von Hitler auf dem Süllberg und bei Hagenbeck gehört - und das war ihm so zuwider, dass er ausgetreten ist." Auch aus seinen Tagebüchern wird die Ablehnung von Hitlers Herrschaft deutlich, etwa als er am 1. April 1933 notiert: "Schlechte Nachrichten aus Deutschland, unerhörter Boykott gegen die Juden. Mittelalterlich und ohne Verständnis für die Beziehungen zur Welt." Oder am 1. Juli desselben Jahres: "Sehr besorgniserregende Entwicklung der Nazi-Partei, die immer radikaler und despotischer wird."
Auch ihn habe sein Großvater früh davor bewahrt, ein Nazi zu werden, sagt von Specht. "Als ich mit 18 Jahren Soldat wurde und in den Krieg gezogen bin, wusste ich, dass das ein Unglück für unser Land werden würde. Ich bin junger Offizier geworden und habe bis zum Schluss den Krieg miterlebt, aber ich war von Anfang an der Meinung: Es ist ein verheerender Weg, den unser Land da geht."
Park an Stadt verkauft - und ihm doch treu geblieben
Von Specht überlebt den Russlandfeldzug und kehrt nach Hamburg zurück. Das Gelände in Niendorf bleibt zunächst in Familienbesitz. 1953 stirbt sein Großvater. "Wir wollten unbedingt den Park erhalten, solange meine Großeltern lebten. Nach dem Tod meiner Großmutter 1962 haben wir beschlossen, ihn abzugeben." 1965 kauft der Bezirk Eimsbüttel das Areal und errichtet an seinem Rand Schulen. Dieter von Specht bleibt in unmittelbarer Nähe wohnen. Der Park ist mittlerweile eine Hundeauslaufwiese - "eher nicht so schön" findet das der 90-Jährige. Denn die Qualität des Parks habe ganz erheblich nachgelassen.
Er sei dennoch jeden Tag im Park unterwegs. "Jeden dritten Tag gehe ich oben die Runde an dem früheren Haus vorbei. Ich weiß ja genau, wo die Klingeltür war, wo wir Kinder immer zum Essen gerufen wurden, wo die Veranda war, wo die Kellertreppe war. Das habe ich alles im Kopf." Bald soll hier ein Schild an Baron von Berenberg-Gossler und seinen Villen-Abriss erinnern. Sein Enkel begrüßt das: "Viele Spaziergänger fragen sich ja: Was ist hier los gewesen? Und wenn da eine Erinnerungsplakette hinkommt, finde ich das in Ordnung. Das soll aber sehr bescheiden ausfallen, keine großartige Geschichte."