Stand: 04.11.2016 10:38 Uhr

Mein Urgroßvater, der Fluchthelfer

von Laura Borchardt

Eine Deutschstunde im Ratsgymnasium in Osnabrück. Das Thema: der jüdische Maler Felix Nussbaum. Eine Unterrichtsstunde wie viele andere. Nicht so für eine Schülerin: Abigail Mathew. In der Klasse berichtet sie von einer Geschichte, die man sich in ihrer Familie seit Jahren erzählt. Ihr Urgroßvater soll vor dem Zweiten Weltkrieg Juden bei der Flucht in die Niederlande geholfen haben, darunter auch Mitglieder der Familie des Malers Felix Nussbaum. Interessant, findet die Lehrerin. Abigail soll ein Referat halten und beginnt zu recherchieren. Das war im Sommer 2015.

Dokumentarfilm feiert Premiere

Über ein Jahr später heißt es: Vorhang auf für "Flucht 1937". So heißt der Dokumentarfilm, den Abigail Mathew über die Geschichte ihres Urgroßvaters produziert hat. Am 6. November 2016 ist Premiere. Bis heute kann die 14-Jährige das Ganze noch nicht so ganz glauben: "Wir hätten nie gedacht, dass wir mal so weit kommen und dass aus einem Gerücht dann so eine ganze Geschichte entstanden ist." Von Generation zu Generation werden Geschichten in Familien weitererzählt. Manchmal kommen Details dazu und andere fallen weg. Und schließlich weiß keiner mehr, wie die Geschichte wirklich war. So auch in der Familie von Abigail Mathew.

Geschichte fügt sich wie ein Puzzle zusammen

Es wurde erzählt, dass der Urgroßvater die Eltern des Malers Felix Nussbaum vor dem Zweiten Weltkrieg in die Niederlande gebracht haben soll. Aber stimmt das wirklich? Am Anfang hat Abigail nichts weiter als den Namen ihres Urgroßvaters, Wilhelm Hellmeister. Sechs Monate lang recherchiert Abigail mit ihrem Vater Mark Mathew. Sie sprechen mit Zeitzeugen und Historikern, durchforsten Adressbücher, Handelsregister, Archive und Familienalben nach Hinweisen. Mit jedem Rechercheschritt kommt Abigail der wahren Geschichte ihres Urgroßvaters ein Stück näher.

Ein halbes Jahr Recherche

Am Ende ist klar: Nicht den Eltern, sondern dem Bruder des Malers Felix Nussbaum hat der Urgroßvater im Juli 1937 bei der Flucht nach Amsterdam geholfen. Aus den Rechercheergebnissen wollte die Schülerin mehr als einen Vortrag für die Schule machen. Die Idee für den Film kam Abigail Anfang 2016. Unterstützt wurde sie von ihren Eltern und von einem jungen Filmteam. "Alle haben sich von Abigails Begeisterung anstecken lassen", sagt die Mutter Beate Mathew. Über 70 Personen sind an dem Film beteiligt, ganz ohne Bezahlung. Vom Sprecher über die Darsteller bis zum Komponisten.

"Taschengeld-Budget"

Der Film zeigt alte Dokumente und Fotos, Interviews mit Zeitzeugen und Historikern und nachgespielte Szenen. Die Schauspieler findet Abigail im Bekanntenkreis und auf der Straße. Vom Weihnachtsgeld kauft sich Abigail eine eigene Kamera. Fast jedes Wochenende wird gedreht - hauptsächlich in Osnabrück, aber auch in Amsterdam. Und das alles ohne Drehbuch. Die Kameramänner 18 und 21 Jahre alt. Das Ergebnis: 35 Stunden gedrehtes Material. Vier Wochen lang schneidet Abigail jeden Tag, von morgens bis abends in ihren Schulferien. Anfang Oktober 2016 ist der Film dann fertig.

Fluchthelfer als Vorbild

Der Film ist "ein Teil Familiengeschichte", sagt Abigail. Das habe sie dazu ermutigt, immer dran zu bleiben, auch wenn es in den Ferien oder am Wochenende manchmal schwer fiel. Der Film dokumentiert die spannende Spurensuche nach dem eigenen Urgroßvater, dem Fluchthelfer von 1937. Für Abigail ist er "ein ziemlich großes Vorbild, weil er in so schwierigen Zeiten Leuten geholfen hat, über die Grenze zu fliehen." Für den Film hat Abigail bereits Anfragen aus den USA, den Niederlanden und Belgien. Deshalb soll im nächsten Jahr noch eine englische Version entstehen. Die Premiere am 6. November 2016 im Cinema Arthouse in Osnabrück ist bereits ausverkauft. Am 13. November gibt es um 11.30 Uhr noch eine Vorstellung im Arthouse.

Wie ging es weiter nach der Flucht?

  • Wilhlem Hellmeister, Urgroßvater von Abigail Mathew
Nach dem Krieg betreibt Hellmeister einen Schrotthandel in Osnabrück. Im Krieg holt sich Hellmeister eine Bleivergiftung, an deren Folgen er am 30. Dezember 1957 im Alter von 53 Jahren stirbt.
 
  • Friedrich Niehüser, Arbeitskollege von Hellmeister
Im Oktober 1937 meldet Niehüser eine Autoverwertung auf dem ehemaligen Gelände der Firma von Gossels und Nussbaum an. 1989 stirbt Niehüser in Osnabrück.

  • Justus, Sophie und Marianne Nussbaum
In Amsterdam betreiben Justus Nussbaum und Alfred Gossels wieder einen Schrotthandel. Weil sie im Krieg wertvolles Metall für die Rüstungsindustrie liefern sollen, verschonen die Nazis die Firmenbetreiber zunächst. Doch auch in den Niederlanden beginnt die Verfolgung der Juden. 1943 wird Familie Nussbaum ins Lager Westerbork gebracht. Sophie Nussbaum und Tochter Marianne werden am 6. April in Ausschwitz ermordet. Justus Nussbaum stirbt am 7. Dezember 1944 im KZ Stutthof.

  • Alfred Gossels
Alfred Gossels wird 1943 ebenfalls nach Westerbork gebracht, später kommt er nach Ausschwitz und ins Lager Burggraben, das zum KZ Stutthof bei Danzig gehört. Dort stirbt Gossels am 21. Dezember 1944. Seine Frau Minna wird 1944 in Amsterdam verhaftet und kommt ins KZ Ravensbrück. Minna Gossels überlebt den Krieg und kehrt später zurück nach Osnabrück, wo sie 1986 stirbt.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Osnabrück | 04.11.2016 | 17:00 Uhr

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