Stand: 26.04.2018 07:43 Uhr

Antje Vollmer: "Wir waren Könige im intellektuellen Wettstreit"

von Antje Vollmer

1968 - ein Epochenjahr wird 50. Die Erinnerungen und die Assoziationen gehen in alle möglichen Richtungen: Protest, Revolte, Rebellion, Bewegung, Aufbruch. Und das Gegenteil: Kritik, Unbehagen, Beklemmung. Die 68er - sie polarisieren bis heute. Wir haben Künstler, Schriftsteller, Zeitgenossen aufgerufen, uns ihre Gedanken aufzuschreiben. Heute setzen wir unsere Reihe fort mit der Politikerin und ehemaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Antje Vollmer. 1968 hatte Vollmer, gerade 25 Jahre alt, ihr Studium mit dem Ersten theologischen Examen gerade beendet.

Antje Vollmer © Markus Nowak Foto: Markus Nowak
Die gebürtige Westfälin Antje Vollmer ist seit 1985 Mitglied der Grünen.

Wenn von den 1968ern gesprochen wird, versteht man heute darunter meist eine Bewegung, die vor allem die junge Generation im Westen betraf und die die westliche Welt bis in die Tiefen erschütterte. In Berkeley, in den USA, habe es angefangen, dann sei das Aufbegehren einer ganzen Generation gegen den Vietnamkrieg allmählich zu einem umfassenden Kulturkampf angewachsen zum Ur-Impuls eines völlig anderen Lebensgefühls.

Selbstexperimente und Kinderläden

Da werden genannt: Das Aufbegehren gegen politische Autoritäten, aufsehenerregende Demonstrationen und Teach-ins, die Befreiung von alten bürgerlichen Normen, ihr Lebensstil und Sexualität. Die Kommunen mit allerlei Selbstexperimenten oder die umstrittenen Kinderläden. Die Filme aus jener Zeit zeigen die phantasievollen windigen Kleider der Hippies, eine ekstatische Musikszene mit tagelangen chaotisch verlaufenden Open Airs und Kunstaktionen von Dadaisten und Konzeptkünstlern, über die nächtelang bei billigem Wein und diversen Drogen diskutiert wurde. Aber 1968 war keineswegs ein rein westliches Phänomen. Und es war auch nicht vorrangig ein kulturelles Phänomen. Es war eine riesige verpasste Chance zu einer völlig neuen Form von Politik - und zwar im Westen wie im Osten.

1964 war ich mit einer Studentengruppe in Polen. Wir verstummten in Auschwitz und wir diskutierten nächtelang mit polnischen Studenten in deren Uni-Clubs und Jazzkellern. All unsere Gespräche drehten sich um die zentrale Frage, was wir aus den Weltkriegen, die noch überall im Alltagsleben spürbar waren, zu lernen hätten. Wir kamen immer wieder auf zwei zentrale Forderungen: Demokratie und Sozialismus. Wir waren Könige im intellektuellen Wettstreit.

Westen oder Osten - wer war weiter?

Wer war weiter auf diesem Weg zum gemeinsamen Ziel, wir Westler oder unsere polnischen Kommilitonen? Klar, wir hatten Vorteile in den demokratischen Strukturen, von deren Haltbarkeit wir aber nicht endgültig überzeugt waren. Sie aber sagten: "Wir haben den Stalinismus überwunden, Wirtschaft und Verwaltung sind im Prinzip sozialisiert - und die Demokratie werden wir uns auch noch erkämpfen. Ob Ihr im Westen aber je die Chance auf einen echten Sozialismus und eine echte Veränderung der Welt haben werdet, das ist doch sehr zu bezweifeln."

Wir gaben nicht klein bei, wir verwiesen auf unsere Entspannungspolitik, die beginnende Friedensbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Aber heimlich gaben wir doch unseren Freunden manchmal recht: Sie schienen weiter als wir in den entscheidenen Machtfragen der Gesellschaftsordnung.

Der Dritte Weg als ersthafte Alternative

Die Wahrheit ist: 1968 war der Prager Frühling mit seiner Parole "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ein größerer Sehnsuchtsort als Washington. Demokratie und Sozialismus war die zentrale Forderung der europäischen Linken in Warschau, Budapest, Prag, Rom, Madrid, Athen und Lissabon. Man nannte das damals den Dritten Weg - und das war eine ernsthafte Alternative zu den bestehenden Machtblöcken. Der eiserne Vorhang war in unseren Köpfen nicht mehr vorhanden. Wir verstanden uns als eine gemeinsame junge Generation in Ost wie in West, die aus beiden bestehenden Systemen ausbrechen wollte.

Der Einmarsch des Warschauer Paktes im August 1968 hat dieses Ziel nachhaltig brutal zerstört. Der Dritte Weg wurde zur Illusion erklärt. Trotz des Vietnamkriegs, Unterstützung von Apartheids-Regimen und faschistischer Diktatoren, galt der Westen doch als überlegen. Der Dritte Weg und die Friedensbewegung wurden als "5. Kolonne Moskaus" diffamiert. Das ganze Elend der Spaltung der Welt ging weiter.

Heute, nachdem auch der moralische Triumphalismus des Westens an der Wirklichkeit der Welt zerschellt ist, sind wir wieder am Anfang. Der Dritte Weg wäre heute notwendiger denn je. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte als die, die heute in den Geschichtsbüchern propagiert wird.

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Zwei Frauen auf dem Monterey Pop Festival am 17. Juni 1967 © picture alliance / AP Photo

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 25.04.2018 | 16:20 Uhr

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