Stand: 21.12.2014 13:30 Uhr

Atlas des Aufbruchs: Ruf nach Freiheit erreicht Wismar

Auch in Wismar fanden die Gründer des Neuen Forums Unterstützer - unter anderem Pfarrer Manfred Harloff und den heutigen Bürgermeister Thomas Beyer. © NDR
"Wir sind vom Neuen Forum und wollen jetzt kontrollieren, ob hier Akten verbrannt werden." - Thomas Beyer unterstützte die Reform-Bewegung in Wismar.

Ein einziger Satz brachte das bestimmende Gefühl der DDR-Bürgerbewegung auf den Punkt: "Die Zeit ist reif!" Diese Zeile stand am Ende eines Aufrufs, den mehrere Dissidenten am 9. September 1989 unterschrieben hatten. Sie gründeten an jenem Tag das Neue Forum. Der Aufruf erreichte im Oktober 1989 auch Nordwestmecklenburg. Dort unterstützten Pfarrer Manfred Harloff und Theologie-Student Thomas Beyer eine Bürgerversammlung, aus der später das Neue Forum Wismar hervorgehen sollte.

Ein Forum für einen friedlichen Dialog

Die Atmosphäre war angespannt an diesem Abend des 9. September 1989. In einer Wohnung in Grünheide bei Berlin trafen sich Oppositionelle aus der Frauen-, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung. Sie unterzeichneten den Aufruf "Aufbruch 89 - Neues Forum" und gründeten damit die erste öffentlich auftretende Oppositionsgruppe der DDR. Darin hieß es: "In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Durch einen "demokratischen Dialog" mit dem Neuen Forum als "politische Plattform" sollte ein "gesellschaftlicher Reformprozess" in Gang gebracht werden, den die Staatsmacht da aber noch nicht wünschte.

"Keine gesellschaftliche Notwendigkeit"

Den Anwesenden drohten Verfolgung und Gefängnis, als sie in den folgenden Wochen den Aufruf von Berlin aus in der ganzen DDR verbreiteten. Und sie wagten noch mehr: Am 19. September 1989 gaben sie beim Ministerium des Innern einen Antrag auf Zulassung ab und pochten auf Artikel 29 der Verfassung, der politische Vereinigungen erlaubte. Doch obwohl das Neue Forum zunächst einen demokratischen Sozialismus verfolgte, sah man von staatlicher Seite "keine gesellschaftliche Notwendigkeit". Dennoch zog das Forum Tausende unzufriedene Bürger an und verbreitete unentwegt seinen Aufruf.

Das Neue Forum erreicht Wismar

Auch in Wismar fanden die Gründer des Neuen Forums Unterstützer - unter anderem Pfarrer Manfred Harloff und den heutigen Bürgermeister Thomas Beyer. © NDR
Proseken bei Wismar: Hier trafen sich Unzufriedene schon Wochen zuvor. Am 9. Oktober folgte der Startschuss zum Neuen Forum in Wismar.

Mitte Oktober brachte Beyer den Aufruf ins Pfarramt von Proseken, ein Dorf vor den Toren Wismars. Dort hatten sich schon Wochen zuvor Unzufriedene in der Kirchgemeinde des Pastors Harloff gesammelt. Am 9. Oktober 1989 kam es zu einer ersten großen Zusammenkunft von 120 Menschen, die in Arbeitsgruppen alle Probleme gleichzeitig lösen wollten. "Das war ja schon so eine Stimmung: Jetzt Ärmel hochkrempeln, was müssen wir jetzt tun?" erinnert sich Beyer, der später Bürgermeister der Hansestadt Wismar werden sollte. Als der Aufruf des Neuen Forums dann von Schwerin nach Wismar gelangte, kam Harloff die Aufgabe zu, das Papier zu vervielfältigen, "weil ich ein Gerät hatte, einen Spiritus-Umdrucker aus der Tschechoslowakei. Das war recht mühselig. Also mit großer Mühe haben wir dann 2.000 bis 3.000 Exemplare nach und nach vervielfältigt."

Kleine Schritte zu einem großen Ziel

Zum 18. Oktober 1989 lud Harloff in seine Kirche zu einer ersten öffentlichen und offenen Diskussion über die Missstände in der DDR: "Und wir rechneten damit, dass vielleicht so 300, 400 Leute zusammenkommen. Und dann kamen fast 2.000 dicht an dicht gedrängt. Also man konnte nicht umfallen." In den folgenden drei Stunden ging es um Ausreisen oder Bleiben und um einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. "Wir haben den aufrechten Gang gelernt" konstatiert Pfarrer Harloff heute, "Wir merkten: Wir können was bewirken." Von Proseken aus erreichte der Aufruf auch Wismar, wo am 31. Oktober 1989 mehr als 5.000 Menschen in die Nikolaikirche strömten. Da war die SED-Macht schon gebrochen.

Täglich mehr Spielraum

Schritt für Schritt eroberte sich das Volk seinen Handlungsspielraum zurück - und das Neue Forum ging voran. "Zum Beispiel hieß es irgendwann, ihr müsst unbedingt ins Rathaus gehen, da werden Akten verbrannt. Und da sind wir in der kleinen Gruppe zum Rathaus gegangen, haben lautstark angeklopft und gesagt: Wir sind vom Neuen Forum und wollen jetzt kontrollieren, ob hier Akten verbrannt werden." Für Thomas Beyer war das Monate vorher völlig undenkbar. "Aber in dieser Situation wurde uns die Tür geöffnet, und wir konnten den Heizungskeller wirklich inspizieren und feststellen, dass dem nicht so war."

Der Höhepunkt und das Ende des Neuen Forums

Auch in Wismar fanden die Gründer des Neuen Forums Unterstützer - unter anderem Pfarrer Manfred Harloff und den heutigen Bürgermeister Thomas Beyer. © NDR
Am 18. Oktober lud Manfred Harloff zu einer offenen Diskussion in seine Kirche ein - 2.000 Menschen kamen.

Eine Woche später erlebte Wismar schließlich eine Massendemonstration, wie es sie dort noch nicht gegeben hatte. Am 7. November bevölkerten 50.000 Menschen den Marktplatz und die Seitenstraßen. Die Bürger forderten nun freie Wahlen sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Für die Hansestadt eine Sensation. Einen Tag später wurde das Neue Forum endlich zugelassen und die demokratische Umgestaltung des DDR-Sozialismus konnte beginnen. Doch wieder einen Tag später, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und die Mehrheit der Bevölkerung blickte lieber Richtung Wiedervereinigung. Das DDR-orientierte Neue Forum verlor die erste freie Volkskammerwahl und zerfiel später durch inhaltliche Auseinandersetzungen. Doch sein Hauptziel hatte es erreicht: einen demokratischen Dialog in der DDR.

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 01.05.2014 | 19:05 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

DDR

Bauwagen der" Geschichts Reporter" vor dunklem Himmel und menschlichen Silhouetten (Montage) © fotolia.com, NDR

Unsere Geschichte: Atlas des Aufbruchs

25 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR trägt der NDR einen norddeutschen Atlas des Aufbruchs zusammen. Von Güstrow bis Grimmen, von Schwerin bis Stralsund: Schreiben Sie mit! mehr

Mehr Geschichte

Autos fahren am 06.05.2003 durch die vierte Röhre des Hamburger Elbtunnels. © picture-alliance / dpa Foto: Soeren Stache

Neuer Elbtunnel: Hamburgs Hoffnungsträger unter Wasser

Am Hamburger Elbstrand beginnen 1968 die Arbeiten am Neuen Elbtunnel. Auch nach dem Bau einer vierten Röhre ist die Unterführung weiter ein Nadelöhr. mehr

Norddeutsche Geschichte