Das Grab unter den Fichten
Es ist eine kleine Geschichte im großen Krieg. Es ist die Geschichte von Lukas Roser, geboren am 26. Juni 1925 in Stuttgart, gestorben als Fähnrich zur See am 3. Mai 1945 in Kritzow, einige Kilometer nordöstlich von Schwerin. Es ist eine Geschichte, die 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs viele Fragen aufwirft. Vor allem: Warum stirbt ein 19-jähriger Marinesoldat mitten in Mecklenburg fünf Tage vor Kriegsende und warum wird er hier auf dem Waldfriedhof in Kritzow beerdigt?
Auf dem Weg nach Hause erschossen
70 Jahre nach den Ereignissen steht Gunhild Hartmann am Grab von Lukas Roser. Die 67-Jährige aus Kritzow hat es lange Zeit gepflegt, jetzt hat sie es in andere Hände gegeben - wegen der Gesundheit. Gunhild Hartmann kommen fast die Tränen, wenn sie an das Schicksal von Lukas Roser denkt. "Der Soldat hat mir einfach leid getan", erzählt sie. So kurz vor Kriegsende habe er sicher nach Hause gewollt, in seine Heimat nach Stuttgart, so viel wisse sie aus Erzählungen. Und dann sei er erschossen worden, von russischen Soldaten, das habe man früher im Dorf erzählt, mehr wisse sie nicht. Nur, dass der Bauer Willi Kahl ihn damals an der Landstraße nach Weberin beerdigt habe. Später dann sei der Soldat umgebettet worden, hierher auf den Waldfriedhof.
Todesnachricht zu Weihnachten
Spurensuche in Stuttgart: Dort lebt die jüngere Schwester von Lukas Roser, Christine B.. Auch Jahrzehnte nach dem Tod fällt es der 87-Jährigen nicht leicht, über den Tod ihres Bruders zu sprechen. Er hat sich im Herbst 1943 nach dem Notabitur auf dem Internat "Birklehof" im Schwarzwald freiwillig zur Marine gemeldet, ist nach Stralsund gekommen, hat dort auch im Domchor gesungen. Kurz vor Kriegsende hat die Familie das letzte Mal etwas von ihm gehört. Zu Weihnachten 1945 - der ersten im Frieden - kommt die Todesnachricht. "Für die Mutter war es das Schlimmste, was ihr passieren konnte", sagt Christine B.. Das Verhältnis zwischen Sohn und Mutter sei sehr eng gewesen.
Grab an der Straße zwischen Kritzow und Weberin
Bald bekommt die Familie auch Post aus Kritzow. Die Abschrift des Briefes findet sich in einem Nachlass eines guten Freundes der Familie. Willi Kahl schreibt am 9. Januar 1946, dass Lukas Roser von einem einzelnen russischen Soldaten erschossen wurde - kurz vor dem eigentlichen Einmarsch der Roten Armee. Rosers Leiche ist geplündert worden - nur Zahnbeutel und Rasierzeug finden Kahl und sein 14-jähriger Sohn Hans-Werner bei der Leiche. Sie beerdigten ihn am 5. Mai direkt an der Straße zwischen Kritzow und Weberin, rund 200 Meter vor den letzten Häusern.
Mutter entwirft Grabstein für den geliebten Sohn
Die Rosers kommen mit der älteren Tochter Ursula erst um das Jahr 1960 herum zum ersten Mal nach Kritzow. Lukas Roser wird damals umgebettet auf den nahen Waldfriedhof. Den Grabstein entwirft die Mutter, es ist ein letzter Gruß an den geliebten Sohn. Schwester Christine sagt, der Friedhof in Kritzow sei voller Ruhe und Stille, diesen Ort habe man nicht stören wollen. Sie selbst besucht das Grab mit ihrem Mann erst nach der Wende. Jahrelang übernimmt die Pflege die Familie Kahl. "Das sind wir unserem toten Soldaten schuldig" hatte Willi Kahl Anfang 1946 an die Rosers geschrieben. Diese bedanken sich über Jahrzehnte mit "Westpaketen" aus Stuttgart. Die Rosers sind vermögend, sie besitzen eine Lederfabrik. Im Geburtsjahr ihres Sohnes, 1925, hatten sie sich vom damaligen Star-Architekten Paul Schmitthenner die "Roser-Villa" bauen lassen, in dem noblen Viertel wohnte der Industrielle Ferdinand Porsche lange Jahre gleich in der Nachbarschaft.
Zur Marine wegen der Begeisterung fürs Wasser
Christine B. sagt, in seinen anderthalb Jahren bei der Marine ist ihr Bruder nur einmal zu Hause gewesen. Die Familie hat ihn einmal sogar oben im Norden, an der Ostsee in Stralsund, besucht und dort in einem kalten Pensionszimmer übernachtet. Zur Marine hat sich Lukas gemeldet, weil er schon immer vom Wasser begeistert gewesen ist - auf dem Bodensee lernte er Segeln.
Deutsche Dienststelle: "Eine ganz normale Akte"
Aber warum starb Lukas Roser ausgerechnet in Kritzow? Seine Schwester weiß es nicht. Karsten Richter vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge kann nur spekulieren. Zum Ende des Krieges seien viele Marinesoldaten im Bodenkampf eingesetzt worden. Vielleicht, so meint Richter, sei das auch das Schicksal von Lukas Roser gewesen. In der Deutschen Dienststelle in Berlin - der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle - bestätigt sich die Annahme: Die vollständig erhaltenen Personalakten zeigen den militärischen Werdegang. Am 17. Oktober 1943 wird Lukas Roser eingezogen, der Einberufungsbefehl dient als Fahrkarte von Stuttgart nach Stralsund. Roser kommt als Mitglied der Crew X/43 - wie alle übrigen Marine-Offiziersanwärter zuvor - auf den Dänholm. "Eine ganz normale Akte", sagt Abteilungsleiter Wolfgang Remmers.
"Der Krieg nimmt für uns immer bedrohlichere Formen an"
Weitere Stationen sind der Kreuzer "Nürnberg", Kiel und Schleswig. Aus der dortigen Marineschule schreibt er Ende August an seine ältere Schwester Ursula. Sie hatte kurz zuvor Geburtstag und von den Luftangriffen zu Hause in Stuttgart berichtet, Lukas Roser antwortet: "Der Krieg nimmt für uns immer bedrohlichere Formen an (...) Früher schrieb ich dir einmal zu Deinem Geburtstag, ich wollte Dir kein Glück wünschen, denn Glück sei unbeständig und trügerisch. Das stimmt schon, aber heute sind die ganzen Verhältnisse unbeständig, da muss man sich schon mal an das Glück halten und von Insel zu Insel springen."
Kameraden bei der Prüfung geholfen - Arrest
Roser hat kein Glück. In Schleswig gilt er bei seinen Vorgesetzten schnell als Eigenbrötler. Als einer, der nachfragt. Roser wirke "schläfrig" und müsse "mehr aus sich herauskommen", schreiben sie in den Zeugnissen, attestieren ihm aber große Begabung. Anfang Dezember 1944 schiebt er einem Kameraden bei einer Navigationsarbeit die richtige Antwort zu und wird erwischt: Aus "falsch verstandener Kameradschaft" bekommt er zwei Tage Kasernen-Arrest und einen Eintrag in die Personalakte. In seiner Beurteilung heißt es Ende Januar 1945: "Roser ist ein schwer zu erziehender Fähnrich, ist Belehrungen zu wenig zugänglich und bringt Vorgesetzten zu wenig Vertrauen entgegen."
"Wir sind behandelt worden wie der letzte Dreck"
Ein Schulfreund aus Rosers Zeiten am "Birklehof" erinnert sich: "Wir sind behandelt worden wie der letzte Dreck", sagt Roland Krause. Er hat sich kurz nach Lukas Roser freiwillig zur Marine gemeldet, so hätte man wenigstens nicht zur SS gemusst, sagt der 89-jährige gebürtige Stuttgarter. Auch er kommt nach dem Abitur zur Marine auf den Dänholm nach Stralsund. Dort im Norden treffen sich die beiden Schulfreunde aus dem Südwesten sogar einmal überraschend. Danach aber nie wieder.
Der Marine-Fähnrich wird Infanterist
Für Roser beginnt am 26. Januar 1945 das letzte Kapitel seiner militärischen Laufbahn. Während die Rote Armee weiter Richtung Westen vorstößt, wird der 19-Jährige ins vorpommersche Stralsund beordert, um seine Ausbildung abzuschließen. Der Krieg ist längst verloren. Der Marine-Fähnrich Roser muss in Stralsund einen Zugführer-Lehrgang beginnen. Er zeige infanteristisches Talent, meinen seine Ausbilder lobend. Allerdings hat der Drill Rosers selbstbewusste Haltung nicht gebrochen, er gibt weiter Widerworte. Und am 15. April 1945 verpasst ihm sein Kompanie-Chef einen "strengen Verweis": Roser wird dabei erwischt, wie er im Keller einer Nachbar-Kompanie vier Scheite Brennholz für seinen Ofen entwendet. Er bekommt Arrest und verbüßt ihn bis zum 18. April. Das ist der letzte Eintrag in seiner Personalakte. Für Roser beginnen die letzten Tages seines Lebens, eine geplante Abkommandierung an die Marine-Speerschule im besetzten dänischen Sonderburg - abseits aller Kämpfe - wird nicht mehr umgesetzt.
Hin und Her durchs Chaos
Zwei Tage später, am 20. April 1945, verfügt der Chef der Marine, der Großadmiral und Hitler-Verehrer Karl Dönitz, die "Aktion Berlin". Es ist der Geburtstag Hitlers: Mehrere hundert Fähnriche der Crew X/43 werden in Stralsund in ein eilig aufgestelltes Marine-Schützen-Bataillon 903 gesteckt und sollen helfen, Berlin zu verteidigen. Ein völlig sinnloses Vorhaben. Im Zug kommen sie bis Oranienburg, ein Einsatz scheint unmöglich, per Lkw werden sie nach Neustrelitz zurückverlegt. Überall herrscht Chaos, es kommt zu kurzen Gefechten mit den vorrückenden sowjetischen Truppen, der Rückzug führt über Waren, Krakow am See und Sternberg. Ähnliches erlebt auch Rosers Schulfreund Roland Krause. Er schwimmt am Ende über die Elbe und entgeht der russischen Kriegsgefangenschaft. Roland Krause wird Lehrer und Schuldirektor. Der 89-Jährige lebt heute mit seiner Frau in Künzelsau in Baden-Württemberg.
Tod fünf Tage vor Kriegsende
Lukas Roser hat nicht überlebt. Er starb als 19-Jähriger am 3. Mai 1945, nur fünf Tage vor Kriegsende in Kritzow: Möglicherweise war er auf seiner Flucht nach Westen nur zu langsam. Denn die nahen Städte Wismar und Schwerin waren da schon längst befreit. Von Lukas Roser bleiben nur Erinnerungen und ein Grabstein auf einem idyllischen Friedhof in einem Wald.