Stand: 02.08.2020 18:05 Uhr

August 1995: Drei Tage Chaos in Hannover

Eigentlich war es nichts Besonderes mehr. Seit den 1980er-Jahren versammelten sich Punks in Hannover, um ihre "Chaostage" zu feiern. Zur Premiere im Sommer 1983 hatte noch niemand Geringeres als Jello Biafra aufgerufen - seines Zeichens Sänger der legendären Band Dead Kennedys. Doch zwölf Jahre später war nichts wie in den Jahren zuvor. Straßenschlachten, Verletzte, Plünderungen, brennende Barrikaden. Die drei Tage vom 4. bis 6. August 1995 bringen Hannover in die Schlagzeilen der Weltpresse. Und: Sie haben sich eingebrannt in das Gedächtnis der Stadt.

Staatsmacht in Ohnmacht

Etwa 2.000 Punks und Sympathisanten stehen am Ende geschätzten 3.500 Polizisten gegenüber. Die Beamten waren aus insgesamt zehn Bundesländern nach Hannover abkommandiert worden, als die Situation mehr und mehr außer Kontrolle gerät. Über 400 Menschen werden bei den Auseinandersetzungen verletzt. Die Ohnmacht der Staatsmacht wird spätestens sichtbar, als Punks (und Anwohner) seelenruhig einen Supermarkt in der Nordstadt plündern - und die Polizei sie gewähren lässt. Wie konnte es soweit kommen?

Protest gegen "Punker-Kartei"

Die ersten Chaostage finden aus Protest statt, nachdem die Tageszeitung taz die Existenz einer sogenannten Punker-Kartei in Niedersachsen aufgedeckt hat. In dieser Kartei sollten möglichst viele Personen aus der Punk- und Skinhead-Szene gelistet werden. Um den Behörden einen Strich durch die Rechnung zu machen und sie mit möglichst vielen Personen zu verwirren, verabreden sich die Punks in Hannover. Dort kommt es immer wieder zu meist kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei - so auch 1994.

Eine Szene macht mobil

Als Reaktion auf diese Vorfälle schwirren schon ab Anfang des Jahres 1995 einschlägige Flugblätter durch Stadt und Land. Die Aufrufe werden gehört: Die Szene macht mobil. Punks und Autonome aus der ganzen Republik und aus dem Ausland reisen an. Die Stimmung kippt nach und nach - spätestens, als die Polizei ein Musikfestival im Stadtteil Linden-Nord stürmt, nachdem einige Punks begonnen haben, die Bierstände zu plündern. Die Bilder der nächsten Stunden gehen um die Welt.

Klosa: "Fast wie Bürgerkrieg"

"Fast wie im Bürgerkrieg", urteilte der damalige Chef der Bereitschaftspolizei, Hans-Dieter Klosa, rückblickend. Die Strategie der Polizei geht nicht auf - sehr vorsichtig formuliert. Taktische Fehler, dazu teils völlig unzureichende Ausrüstung. Deeskalation ist die Vorgabe, selbst, als schon die Pflastersteine hageln. Ein taktisches Desaster. Legendär ist der fassungslose Funkspruch eines Polizeiführers: "Ist das hier eine Landeshauptstadt oder die Augsburger Puppenkiste?" "Bundesweite Kritik prasselt auf Innenminister Gerhard Glogowski und Ministerpräsident Gerhard Schröder (beide SPD) ein. Polizeipräsident Herbert Sander nimmt seinen Hut.

Eine Stadt wird zur Festung

Um eine Wiederholung der Blamage im nächsten Jahr um jeden Preis zu unterbinden, rüstet die Polizei - auch im Angesicht der bevorstehenden EXPO vier Jahre später - massiv auf. Etwa 10.000 Beamte verwandeln die Stadt im Sommer 1996 in eine Festung. Der Plan geht auf, auch, weil nur wenige Punks die Reise nach Niedersachsen angetreten haben. Die Chaostage in Hannover sind Geschichte. Der Polizeipräsident der Stadt heißt bis zum Jahr 2007 Hans-Dieter Klosa.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Hannover | 04.08.2020 | 08:00 Uhr

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