Bedürfnisorientierte Erziehung: Was dahinter steckt
Kinder und ihre Bedürfnisse ernst nehmen, sodass sie zu selbstbewussten und empathischen Menschen heranwachsen - darauf zielt die bedürfnisorientierte Erziehung ab. Welche Vor- und Nachteile hat der Erziehungsstil?
Was ist eine "gute Erziehung"? Diese Frage stellen sich viele Menschen, wenn sie ein Kind bekommen. Oft ist die Antwort darauf zunächst: Nicht so, wie meine Eltern es gemacht haben. Auf der Suche nach dem eigenen Erziehungsstil bieten unzählige Ratgeber Tipps und Orientierung. Ein Erziehungsstil, der sich in den letzten 15 bis 20 Jahren auch in Deutschland etabliert hat, ist die bedürfnis- oder bindungsorientierte Erziehung.
Attachment Parenting - die Bindung im Fokus
Der US-amerikanische Kinderarzt Dr. William Sears entwickelte in den 1980er-Jahren einen Erziehungsstil, der sich stark an den natürlichen Grundbedürfnissen von Babys und Kindern orientiert und nannte ihn "Attachment Parenting". Dieser besonders achtsame Umgang mit dem Nachwuchs soll die frühkindliche Bindung an die Bezugsperson fördern und stärken. Mit den sogenannten sieben Baby-B's liefert Sears die Bausteine für eine bindungsorientierte Elternschaft, wie zum Beispiel der Körperkontakt nach der Geburt ("Bonding"), das Stillen ("Breastfeeding") oder der Rat, frühe Erziehungsversuche zu unterlassen ("Beware of baby trainers").
Bedürfnisorientierte Erziehung - was ist das?
Da Sears als fundamentalistisch-evangelikaler Christ bei der Umsetzung seiner Baby-B's vor allem die Mütter in der Pflicht sieht, erfährt sein Konzept neben Lob für den zugewandten Umgang mit Babys auch Kritik für das unzeitgemäße Frauenbild.
Anders als bei Sears wurde die Fokussierung auf die Mutterrolle in Deutschland nicht übernommen, es werden in der Regel beide Elternteile angesprochen. Auch bei der deutschen Variante, der bindungs- oder bedürfnisorientierten Erziehung, steht jedoch der Bindungsprozess zwischen Eltern und Kind im Mittelpunkt. Ziel ist es, von Anfang an eine sichere Verbindung zwischen Bezugspersonen und Kind zu schaffen, denn sie gilt als Grundlage für die Entwicklung von Selbstvertrauen und Resilienz.
Babys bindungsorientiert begleiten
Erreicht werden soll dies durch das möglichst prompte Erfüllen der Grundbedürfnisse des Babys, etwa nach Sicherheit, Zuwendung und Nahrung, körperlicher Nähe sowie durch einen respektvollen, zugewandten Umgang von Anfang an. Empfohlen wird zum Beispiel:
- Babys, wenn möglich, im Elternschlafzimmer schlafen zu lassen
- Babys nach Bedarf zu stillen bzw. zu füttern (nicht nach der Uhr)
- Babys, wenn möglich, viel am Körper zu tragen, z.B. im Tragetuch
Vieles davon ist heute bereits Teil des Mainstreams und unterscheidet sich damit stark von dem Postulat, Babys und Kinder nicht durch zu viel Zuwendung zu verwöhnen, was lange Teil der gängigen Erziehungspraxis war. Auch Babys schreien zu lassen, wurde lange empfohlen. Heute gilt vielmehr die Überzeugung, dass eine zügige Reaktion auf das Weinen eine wichtige Grundlage ist, um dem Kind Urvertrauen und Selbstwirksamkeit zu vermitteln.
Bedürfnisorientierte Erziehung in der Autonomiephase
Orientiert an den Ergebnissen moderner Hirnforschung geht die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung auch nach dem Babyalter weiter, etwa in der Autonomiephase, umgangssprachlich auch "Trotzphase" genannt. Ab etwa eineinhalb Jahren nehmen Kinder erstmals wahr, dass ihre Wünsche und die ihres Umfeldes nicht immer deckungsgleich sind. Gleichzeitig streben sie zunehmend nach Selbstständigkeit. Dies ist ein natürlicher und notwendiger Prozess, bei dem sie aber immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Die Enttäuschung darüber kann sich in mehr oder weniger heftigen Wut- und Weinanfällen Bahn brechen - für Eltern und Kinder eine Herausforderung.
Studien belegen, dass Kinder von Anfang an eine große Bereitschaft mitbringen, mit ihrem sozialen Umfeld zu kooperieren. Das kann gerade in der Autonomiephase mit dem gleichzeitigen Wunsch nach Selbstständigkeit kollidieren, bedeutet jedoch nicht, dass der Nachwuchs die Eltern tyrannisieren will. Bedürfnisorientierte Erziehungsratgeber empfehlen deshalb, "Trotzverhalten" nicht als Instrument misszuverstehen, welches das Kind nutzt, um gezielt Druck auf die Eltern auszuüben. Die Forschung zeigt: Im Alter bis vier Jahre sind Kinder noch nicht in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen. Dieser Perspektivwechsel wäre aber die Voraussetzung, um andere manipulieren zu können.
Das Verständnis für die sozialen und kognitiven Hintergründe kindlicher Wutanfälle dient in der bedürfnisorientierten Erziehung als Voraussetzung, um angemessen darauf zu reagieren. Die Aufgabe der Eltern besteht demzufolge darin, liebevoll und gelassen mit kindlichen Gefühlen umzugehen und dem Nachwuchs auf diese Weise bei der Entwicklung sozialer Kompetenzen zu helfen.
Ein grundsätzlich zugewandtes und verständnisvolles Verhalten gegenüber dem Kind und seinen Bedürfnissen zählt zu den Merkmalen des bedürfnisorientierten Erziehungsstils. Empfohlen wird:
- Kindern respektvoll und soweit wie möglich auf Augenhöhe zu begegnen
- sie in Dinge, die sie betreffen einzubeziehen, statt willkürlich über sie zu entscheiden
- Kinder bei unerwünschtem Verhalten nicht zu bestrafen oder zu beschämen
- keine Manipulationen oder Lügen anzuwenden, um das Kind dazu zu bringen, das zu tun, was man als Erziehender will
- Liebe und Zuneigung nicht an Bedingungen knüpfen
Bedürfnisorientiert heißt nicht grenzenlos
Viele der Punkte klingen in der Theorie einfach. Doch wer schon einmal versucht hat, ein wütendes Kleinkind morgens möglichst liebevoll dazu zu bringen, in angemessener Kleidung pünktlich für Kita und Arbeit das Haus zu verlassen, kennt auch die Hürden dieses Erziehungsstils. Vertreter der bedürfnisorientierten Erziehung versprechen jedoch: Die Mühe zahlt sich aus. Wer früh in eine vertrauensvolle und angstfreie Beziehung zu seinen Kindern investiert, hat es deutlich leichter, wenn sie größer werden - und sich möglicherweise durch Drohungen und Strafen nicht mehr in Zaum halten lassen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Regeln für Kinder nicht existieren. Erziehungsexpertin und Gründerin des "artgerecht"-Projektes Nicola Schmidt kennt dieses Missverständnis und erklärt: "Bedürfnisorientierung heißt nicht WUNSCHorientierung. Es heißt nicht: du darfst mich hauen, du darfst dein Essen auf den Tisch spucken, denn das hat nichts mit Bedürfnissen zu tun. Das hat mit Zusammenleben zu tun, dafür gibt es Regeln.“
Grenzen als Halt und Orientierung
Um Kindern Halt und Orientierung zu geben ist es wichtig, sich als Eltern klar zu positionieren und einen Rahmen für sie zu schaffen, wozu auch Grenzen gehören. Entscheidend ist der verständnisvolle Umgang mit der kindlichen Reaktion auf ein elterliches "Nein" und das Kind in seinem Frust nicht allein zu lassen. Gefühlsregulation ist eines der zentralen Themen in der bedürfnisorientierten Erziehung.
Die Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Potsdam, Birgit Elsner, rät Eltern, die Gefühlsausbrüche ihrer Kinder "unbedingt ernst zu nehmen." Zu schimpfen, die Emotionen der Kleinen als unnötig abzutun oder sie gar zu ignorieren, sei kontraproduktiv, so die Expertin. Denn die negativen Gefühle würden dadurch nur noch weiter verstärkt, dem aufgeregten Kind falle es dann noch schwerer, seine Emotionen zu regulieren.
Diesen Prozess zu fördern, ist wichtig, denn wer lernt, angemessen mit Wut, Angst, Frustration oder auch überschäumender Freude umzugehen, kann sich im weiteren Leben besser selbst regulieren. Das hilft zum Beispiel, um erfolgreich mit schwierigen Situationen umzugehen, konzentriert zu lernen oder auch stabile Beziehungen einzugehen.
Kritik an der bedürfnisorientierten Erziehung
Der bedürfnisorientierte Erziehungsstil wird oft dafür kritisiert, dass Eltern keine Grenzen setzen und ihre eigenen Bedürfnisse aus den Augen verlieren. Erziehungsratgeberin Nicola Schmidt weiß um diese Problematik: "Für viele Eltern ist es schwierig von der Bedürfniserfüllung bei Babys zum Belohnungsaufschub und Frustrationstoleranz-Training beim Kleinkind zu kommen. Du kannst einem Baby nicht sagen: Du musst eine halbe Stunde warten, bis du was zu Essen bekommst, weil es einfach zu klein ist. Aber Kleinkindern immer alle Bedürfnisse sofort zu erfüllen - da werden ja alle verrückt. Dieser Übergang vom Baby zum Kleinkind, ist schwierig, aber enorm wichtig."
Es gehe auch nicht darum Wutausbrüche bei Kleinkindern zu verhindern und deswegen nicht "Nein" zu sagen oder jeden Wunsch zu erfüllen, so Schmidt. Vielmehr sei es das Ziel, kindliche Gefühle mit verständlichen Worten zu benennen und zu begleiten, denn dieses Verhalten sei völlig entwicklungs-angemessen.
Ebenfalls bemängelt wird, dass die bedürfnisorientierte Erziehung anstrengender für Eltern sei als andere Erziehungsstile. Die Familientherapeutin Leona Redeker hat zu diesem Thema geforscht und festgestellt, dass es in der Tat einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen bedürfnisorientierter Erziehung und elterlichem Stress gibt: "Gerade wenn man immer sehr auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht, muss man natürlich ständig im Kopf planen und abwägen: Was braucht das Kind jetzt gerade? Man informiert sich außerdem darüber, wie man noch kindgerechter agieren kann und bildet sich selbst weiter. Das alles ist Teil der mentalen und kognitiven Arbeit und führt dann eben auch zu einem höheren Mental Load", so Redeker. Mental Load meint die lange To-Do-Liste im Kopf, die notwendig ist, um den Familienalltag zu organisieren und den Bedürfnissen aller Beteiligten möglichst gerecht zu werden.
Eltern auf der Suche nach Vorbildern
Umso wichtiger sei es für Eltern, sich klar zu machen, dass Bedürfnisorientierung die Bedürfnisse der ganzen Familie meint und nicht nur die der Kinder, so Nicola Schmidt. Viele Eltern sind jedoch verunsichert, weil es ihnen an Erziehungsvorbildern fehlt. Sie möchten es richtig gut und ganz anders machen als ihre Eltern und Großeltern und suchen in Ratgebern und im Internet nach Orientierung. Hier lesen sich die Kernthemen der bedürfnisorientierten Erziehung allerdings gelegentlich wie Dogmen einer besonders strengen Glaubensgemeinschaft: Das Baby zu stillen ist Pflicht und wer sein Kind in einer Stresssituation einmal anschreit, fügt ihm massiven psychischen Schaden zu, riskiert gar, die Bindung zum Kind zu zerstören. Aussagen wie diese erzeugen einen enormen Druck und sind aus Expertensicht meist schlicht falsch.
Druck herausnehmen: Es gibt keinen bedürfnisorientierten Goldstandard
Nicola Schmidt und auch andere Erziehungsexpertinnen, wie die Ratgeber-Autorin Nora Imlau möchten Eltern die Angst nehmen und mit einem weiteren Missverständnis aufräumen, denn auch wenn Blogbeiträge und Instagramposts es vermuten lassen: Es gibt keinen bedürfnisorientierten Goldstandard, keine Goldmedaille für die Eltern, die es "perfekt" machen.
Vielmehr sollte jede Familie ihren eigenen Weg finden - Nora Imlau spricht vom eigenen Familienkompass, der einen leitet und sich an den persönlichen Werten und der Individualität des Kindes orientiert. "Wir müssen hier unsere Vorstellung loslassen, dass alle Kinder die gleiche Erziehung brauchen, und unsere Kinder so begleiten, wie es wirklich zu ihnen und ihrer Persönlichkeitsstruktur passt. Dann entwickelt sich eine Eltern-Kind-Beziehung, die Kindern Halt und Sicherheit schenkt - und das ist der beste Nährboden für gutes Verhalten. Zumindest auf lange Sicht", so die Erziehungsexpertin.
Der bedürfnisorientierte Erziehungstil kann Ideen und Ansätze bieten, um kindliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen besser zu verstehen und zugewandt darauf einzugehen. Dabei sind natürlich auch Fehler erlaubt, die Eltern heute ebenso machen wie vorangegangene Generationen. Wer einen respektvollen Umgang mit seinen Kindern pflegt, muss trotzdem weder psychische Schäden noch einen Bindungsabbruch befürchten und kann die Ideen der bedürfnisorietierten Erziehung als Inspiration und nicht als von außen auferlegtes Regelwerk verstehen und für sich nutzen.