"Schaffen wir das?": An einer Brennpunktschule in Kiel
An der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule in Kiel haben 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Vier von fünf Kindern sprechen zuhause kein Deutsch. Die herausfordernde Arbeit der Lehrkräfte zeigen wir in unserer NDR Info Serie "Schaffen wir das?".
In einer sogenannten DaZ-Klasse, das bedeutet "Deutsch als Zweitsprache", unterrichtet die 39-jährige Lehrerin Dorota Pellmann. Zu ihren Schülerinnen und Schülern gehört die 13-jährige Salwa aus Syrien. Sie ist vor einem Jahr nach Deutschland gekommen und spricht Arabisch, Türkisch und Englisch. Damit sie aber am normalen Unterricht teilnehmen kann, muss sie jetzt Deutsch lernen bei ihrer Lehrerin, die selbst eingewandert ist aus Polen.
"Der Frontalunterricht im herkömmlichen Sinne ist bei uns im DaZ-Bereich nicht möglich. Wir haben unterschiedliche Sprachniveaus, wir haben unterschiedliche Lernstufen, und wir müssen auch dementsprechend die Kinder in Form von Gruppentischen unterrichten", sagt Pellmann.
Chancengerechtigkeit als Teilhabe am Leben
"Es geht darum, Chancengerechtigkeit so zu verstehen, dass wir Teilhabe am Leben ermöglichen", sagt Schuldirektor Carsten Haack. Ihm ist es wichtig, dass Außenstehende begreifen, was es heißt, wenn Kinder und Jugendliche schon von Anfang an andere Startbedingungen im Leben haben. Seine Schülerinnen und Schüler haben oftmals keine Kita besucht, sind nicht im Sportverein, lernen kein Instrument. Stattdessen kämen viele aus Elternhäusern, in denen es aus unterschiedlichsten Gründen an Unterstützung mangele.
Neues Alphabet und Deutsch gleichzeitig lernen
In Pellmanns Klassenraum sitzen Kinder zwischen neun und 15 Jahren. Ein Mädchen mit Kopftuch übt den Buchstaben S, was ihr schwerfällt. Kinder, die nur arabische oder kyrillische Schriftzeichen kennen, müssen das lateinische Alphabet und Deutsch gleichzeitig lernen. Die Schülerinnen und Schüler kommen aus allen Teilen der Welt mit den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen. "Es ist äußerst schwierig, wenn man alleine in einer Klasse ist und dann 18 Kinder dasitzen und eine gewisse Erwartungshaltung haben", sagt Pellmann. "Wir können mit den Kindern nur individuell arbeiten, dass sie selbstständig ihre Materialien bearbeiten. Wir rotieren von Kind zu Kind und versuchen dann auch, jedem gerecht zu werden."
Nach sechs bis zwölf Monaten entscheidet die Lehrerin, wer gut genug Deutsch spricht, um am normalen Unterricht in Mathe, Biologie oder Physik teilzunehmen.
Klassen sind größer geworden - ebenso die Bedürfnisse der Schüler
Die Lehrerin strahlt Souveränität aus. Dennoch ist ihr der Arbeitsstress anzumerken. Im vergangenen Jahr wurde die Klassenobergrenzen in Schleswig-Holstein von 16 auf 18 Schülerinnen und Schüler erhöht. Viele der Teenager, die aktuell nach Deutschland kommen, haben vor ihrer Flucht noch nie eine Schule besucht.
"Noch vor zehn Jahren, als die große Flüchtlingswelle kam, hatten wir viele Kinder aus Syrien, die aus bildungsnahen Familien kamen, die auch in Syrien schon die Schule besucht hatten", erinnert sich Pellmann. "Momentan merken wir, dass viele Kinder tatsächlich diese Schulerfahrung nicht mitbringen und somit auch ganz andere Bedürfnisse hier im Rahmen unseres Klassenverbandes zum Ausdruck bringen."
Migrationsforscherin fordert mehr Geld und bessere Ausbildung
Angesischts dieser Entwicklung brauche es eine ordentliche Anstrengung und auch finanzielle Investitionen, um das Bildungssystem zu stärken, sagt Seyran Bostanci, Sozialwissenschaftlerin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, im Gespräch mit NDR Info. "Aktuell beobachten wir aber, dass vor allem am Bildungssystem gespart wird, dass Lehrkräfte überfordert sind und auch mit den Folgen der Pandemie noch zu kämpfen haben."
Allerdings sei auch noch mehr als Geld nötig. "Es braucht Lehrkräfte, die geschult werden, um mit der Vielfalt der Gesellschaft zurechtzukommen. Dafür müsse schon in der Ausbildung angesetzt werden. "Wir beobachten, dass Lehrkräfte überfordert sind und nicht genau wissen, wie sie mit der Vielfalt der Schülerschaft umgehen sollen."
Direktor: "Können uns nicht leisten, die Schüler ohne Abschluss zu entlassen"
Auch in den Regelklassen stehen die Lehrkräfte an der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule vor der Herausforderung, Lehrpläne einzuhalten, obwohl manchmal gar kein normaler Unterricht möglich ist.
Schuldirektor Haack betont, dass es unbedingt nötig sei, die schwierigen Startbedingungen der Schülerinnen und Schüler aufzufangen und sie erfolgreich zum Abschluss zu führen. "Das können wir uns als Gesellschaft gar nicht leisten, die Schüler ohne Abschlüsse zu entlassen oder sie in staatliche Transferleistungen zu 'entlassen'", sagt Haack. "Das Ziel muss ja sein, dass wir als Gesellschaft diese Kinder und Jugendlichen und deren Kompetenzen, die sie mitbringen, hier einfangen und so in der Zukunft eben auch nutzen als Gesellschaft."
Mehr auffällige Kinder, kaum Unterstützung von zu Hause
Emotionaler Stress, Aggressivität, Mediensucht: In den vergangenen Jahren ist die Anzahl auffälliger Kinder gestiegen. Viele Kinder kommen aus extrem armen Familien, bekommen oftmals kaum Unterstützung von Zuhause. Können Lehrer und Lehrerinnen wie Dorota Pellmann das schaffen? "Nur mit den entsprechenden Ressourcen. Ich kann die Frage nicht beantworten, ob wir diese Herausforderung meistern können. Aber was wir benötigen, sind die Ressourcen."
Das sieht auch Schuldirektor Haack so. Man müsse sich endlich klar machen, dass Deutschland multi-kulturell sei und ein Drittel der Kieler Bürger einen Migrationshintergrund habe. Die Schülerinnen und Schüler müssten in ein erfolgreiches Leben entlassen werden, in dem sie sich selbstständig bewegen können. "Das ist das Ziel der Veranstaltung und dafür müssen wir eben die Rahmenbedingungen schaffen." Denn aktuell gebe es eine Passungenauigkeit zwischen dem System und dem Anspruch, den man damit verbindet.
Migration nicht als Problem sehen, sondern als Teil der Lösung
Ein Teil der Lösung ist laut Soziologin Bostanci zielgenau ausgebildetes Personal. Aktuell scheitere man aber schon daran, dass Fachkräfte im Bildungssystem bleiben. Es gebe einen "eklatanten Fachkräftemangel". In diesem Zusammenhang rät Bostanci dazu, Migration nicht als Problem zu sehen, sondern auch die Potenziale zu erkennen.
Migration könne der "Schlüssel zur Lösung sein, indem wir uns bemühen, auch ausländische Fachkräfte ins Land zu holen und die Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse voranzubringen". Der Fokus aller Anstrengungen müsse sich darauf richten, wie man junge Menschen mit Migrationshintergrund besser in unser Bildungssystem integrieren und aufs Berufsleben vorbereiten kann.
Was Dorota Pellmann täglich motiviert weiterzumachen, sind die Fortschritte, die ihre Schülerinnen und Schüler machen - selbst die kleinsten.
Am 23. Oktober läuft eine Nordreportage von Stella Kennedy über die Abschlussklasse der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule - um 18.15 Uhr im NDR Fernsehen.