Eine Kieler Brennpunktschule, die es anders macht
Mangelnde Chancengerechtigkeit ist eine Phrase. Die Realität dahinter: Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Muttersprache oder ihres sozialen Umfeldes schon in der Schule Hürden überwinden müssen, die andere schlichtweg nicht haben. An einer Brennpunktschule im Kieler Osten läuft ein Programm, was das ändern soll.
Kiel-Wellingdorf: ein Stadtteil am Ostufer der Kieler Förde. Hier reihen sich Sozialbauten an Einfamilienhäuser und wer durch die Straßen fährt, sieht viele Waschcenter, Dönerläden und Spielcasinos. Zwei Schulen gibt es hier: Das Gymnasium Wellingdorf und die Theodor-Storm-Schule, eine Grund- und Gemeinschaftsschule. Letztere agiert als Auffangnetz für viele Kinder und Jugendliche aus finanzschwachen Haushalten. Knapp 700 Schülerinnen und Schüler besuchen die sogenannte Brennpunktschule. Zwei Begriffe beschreiben die Lebenswelten der meisten: Migration und Armut, erklärt Schulleiter Carsten Haack. Seit 2019 wird die Schule darum vom PerspektivSchul-Programm des Landes unterstützt.
Zwar sozial abgedrängt, aber nicht vergessen
"Es geht darum, Chancengerechtigkeit so zu verstehen, dass wir Teilhabe am Leben ermöglichen", sagt Rektor Haack. Ihm ist es wichtig, dass Außenstehende begreifen, was es heißt, wenn Kinder und Jugendliche schon von Anfang an andere Startbedingungen im Leben haben. Seine Schülerinnen und Schüler haben oftmals keine Kita besucht, sind nicht im Sportverein, lernen kein Instrument. Stattdessen kämen viele aus Elternhäusern, in denen es aus unterschiedlichsten Gründen an Unterstützung mangele. Jedes vierte Kind habe Flucht und Vertreibung erlebt, so der Schulleiter. Seine Schule versuche mit "klugen Konzepten" diese Herausforderungen auszugleichen. Seit sie "PerspektivSchule" des Landes sei, würde das auch in vielen Bereichen besser gelingen.
Ein Programm, ein Ziel, viel mehr Perspektiven
Seit 2019 gehört die Wellingdorfer Schule zu den 62 PerspektivSchulen im Land, die das Bildungsministerium jeweils mit 400.000 Euro jährlich unterstützt. Einen Großteil des Geldes hat die Schule in zusätzliches Personal gesteckt: Vier Lehrkräfte und anderthalb sozialpädagogische Fachkräfte kann Haack jetzt bezahlen. Denn Schulen wie seine hätten einen erhöhten Aufwand über den Unterricht hinaus. Ohne genügend Personal käme man ganz schnell ans Limit, sagt der Rektor. Viele Kinder hier hätten Kriegs-Traumata, kaum Unterstützung aus dem Elternhaus oder andere Umstände, die im normalen Schulbetrieb sonst kaum aufgefangen werden könnten, so der Schulleiter. Durch die Mittel das "PerspektivSchulprogramms" haben Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit, um auffällige Kinder zu betreuen, mit deren Eltern zu sprechen oder sozio-kulturellen Hindernissen zu begegnen. Alles Herausforderungen mit denen Lehrerinnen und Lehrer an anderen Schulen in weitaus geringerem Umfang konfrontiert werden, so Haack.
Mit Sprache fängt alles an
"Das Kennzeichen von Sprachfähigkeit hat für unsere Arbeit einen ganz, ganz großen Stellenwert", sagt Haack. Viele der unterschiedlichen Anforderungen, mit denen die 700 Schülerinnen und Schüler kämen, würden sich bei der mangelnden Sprachkompetenz treffen, erklärt er. Deutlich wird das in der DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) von Dorota Pellmann. Hier werden die Kleinsten der Schule auf den Regelunterricht vorbereitet. Sie kommen aus der Ukraine, aus Rumänien - aber auch von um die Ecke. Vier von fünf Kindern an dieser Schule sprechen zu Hause kein Deutsch. "Die Erfolgserlebnisse, die Kleinsten, sind für uns die größte Belohnung", sagt Pellmann - selbst 2009 aus Polen nach Deutschland gekommen. "Wenn wir sehen, dass ein Kind vorne einen vollständigen Satz zum Ausdruck bringen kann, auch wenn das nur ein ganz simpler Satz ist, ist das für uns schon ein Schritt nach vorne. Das heißt, wir sehen, da ist schon was bei diesem Kind passiert".
Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Teilhabe
Helge Daugs leitet im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium das "PerpektivSchulprogramm". Insgesamt 62 Schulen wurden über einen vom Kieler IPN-Leibniz Institut erstellten Sozialindex für das Programm ausgewählt. Die Geldmittel, die die Schulen jeweils bekommen, sind laut Daugs dafür gedacht, die Schulen darin zu unterstützen, mit den herausfordernden Bedingungen umzugehen. "Wir können bundesweit feststellen, dass wir Schulen an Standorten haben, an denen die Leistungen zurückbleiben. Unser Ziel war es eigentlich, dass wir es schaffen, diese Schulen an den Mittelwert der Leistungen heranzuführen", erklärt er die Grundidee des Programms. Doch es gehe nicht nur um Bildungserfolg. Ein weiteres Ziel des Programms sei es, an den Schulen "eine Atmosphäre des Wohlbefinden" zu schaffen. "Für Kinder, die es zu Hause nicht leicht haben, die vielleicht Fluchterfahrung haben, die schlimme Erlebnisse hinter sich haben, in Deutschland, in der Gesellschaft anzukommen."
"In Zukunft müssen wir schauen, wie wir auch die anderen Schulen, die es nicht ins Programm geschafft haben, mit all dem, was wir jetzt über das PerspektivSchulprogramm lernen, helfen können. Der Auftrag heißt ja nicht nur, Schulen mit Geld zu unterstützen, sondern der Auftrag bedeutet auch, Steuerungswissen zu generieren: Also wie muss Schulleiterqualifizierung in Zukunft aussehen? Wie bauen wir Netzwerke in Schulen so, dass sie gut miteinander arbeiten. Das sind Dinge, die wir in Blick nehmen - auch durch eine wissenschaftliche Begleitung". Helge Daugs, Leiter des PerspektivSchulprogramms im Bildungsministerium Schleswig-Holstein
Kinder und Jugendliche in Berufstätigkeit bringen
Nicht nur dränge der Fachkräftemangel die Politik in die Verantwortung, sagt er: "Wir müssen dafür sorgen, alle Kinder und Jugendliche in die Berufstätigkeit zu bringen". Das sei vor allem wichtig, um sie auch Teil der demokratischen Gesellschaft werden zu lassen. "Wir brauchen einfach alle Menschen mit dabei. Wir müssen für Chancengerechtigkeit sorgen, damit wir nicht Teile der Bevölkerung verlieren". Ob es nach 2024 weitergeht? Da ist Helge Daugs guter Dinge - vergangene Woche gab es einen Landtagsbeschluss, der empfiehlt, das Programm auch nach 2024 fortzusetzen. Die Finanzierungsbedingungen sind allerdings noch unklar.