VIDEO: Habeck in Schlüttsiel: Offenbar kein Erstürmungversuch (3 Min)

Habeck in Schlüttsiel: Was genau ist am Fähranleger passiert?

Stand: 12.01.2024 22:11 Uhr

Eine spontane Protestaktion von Hunderten Landwirten am Fähranleger in Schlüttsiel vor etwa einer Woche hat zu großer Aufregung geführt. Vizekanzler Robert Habeck konnte auf dem Rückweg von Hallig Hooge die Fähre nicht verlassen. In Medienberichten hieß es, einige Protestler hätten das Schiff stürmen wollen. Der NDR hat mit Augenzeugen gesprochen.

Wütende Bauern hindern Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Schlüttsiel in Schleswig-Holstein am Verlassen einer Fähre. © NEWS5/dpa
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von Caroline Schmidt, Benedikt Scheper, Lucie Kluth und Marc-Oliver Rehrmann

Er hat den besten Blick gehabt: Steuermann Thimo Silberstein konnte von seinem Platz aus genau sehen, was an dem Fähranleger in Schlüttsiel vor sich ging. Es ist später Nachmittag, am Donnerstag der vergangenen Woche. Die Fähre "Hilligenlei" hat kurz zuvor festgemacht. An Land stehen Hunderte Menschen, die auf die Fähre warten. Die Polizei spricht später von etwa 250 bis 300 Personen. Sie wissen: An Bord ist neben anderen Fahrgästen auch Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Gekommen sind vor allem Landwirte, die wütend sind über die Politik der Bundesregierung. Einige rufen: "Wir haben die Schnauze voll".

"Bei Anlaufen des Hafens in Schlüttsiel war zunächst die Idee das Eintreffen einer Hundertschaft der Polizei abzuwarten", berichtet Silberstein dem NDR. "Dann sollte die Fähre nach Rücksprache mit der Polizei am Anleger doch festmachen, damit die Passagiere an Bord nicht so lange warten müssen und aussteigen können."

Steuermann: An Bord habe ich mich sicher gefühlt

Steuermann Thimo Silberstein steht am Fahranleger in Schlüttsiel. © NDR Info Foto: Benedikt Scheper
Steuermann Thimo Silberstein spricht von einer aufgebrachten Stimmung am Fähranleger in Schlüttsiel.

Nach dem Anlegen gegen 17 Uhr fährt kurz darauf ein Lastwagen vom Schiff. Aber die Ausfahrt ist von den Landwirten blockiert, sodass der Lkw auf der Rampe feststeckt. "Die Stimmung war aufgebracht, nicht freundlich", erinnert sich der 32 Jahre alte Steuermann. Er habe sich an Bord aber sicher gefühlt. "Ich hatte keine Angst, dass mir etwas passiert. Aber ich wusste auch, dass es nicht um mich geht." Es geht um Habeck. Im Salon des Fährschiffes spricht der Minister zu den Mitreisenden. Am Kai sei eine Demonstration. Sie könnten selbst entscheiden, ob sie an Land gehen oder nicht. Etwa eine halbe Stunde nach dem Anlegen verlassen die meisten der 60 bis 80 Passagiere zu Fuß die Fähre. Habeck bleibt an Bord.

Die Polizei ist mit 20 Beamten vor Ort. Ihnen steht eine viel größere Menschenmenge gegenüber. Weitere Verstärkung zu holen, ist nicht möglich, weil die Landwirte mit ihren Treckern die Straßen blockieren. So schildert es die Polizei hinterher.

Habeck macht ein Gesprächsangebot

Die Landwirte wollen mit Habeck sprechen. Ihn zur Rede stellen. Die Personenschützer von Habeck lehnen es ab, dass der Vizekanzler in die aufgebrachte Menge geht. Schließlich übermittelt die Polizei ein Angebot von Habeck: Zwei oder drei Landwirte könnten an Bord gehen, um mit dem Minister zu sprechen. Was dann geschieht, berichtet Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) einige Tage später im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags in Kiel: Habecks Angebot sei von den Landwirten "lauthals schreiend" abgelehnt worden.

Die Versammelten fordern vielmehr, mit mindestens zehn Personen an Bord kommen zu dürfen. Ein YouTube-Blogger, der selbst Landwirt ist, soll das Gespräch filmen. Darauf geht Habeck nicht ein. Die Personenschützer sind wohl dagegen. Dann verlangen die Protestler, der Minister solle sich an die Reling stellen und mit einem Megafon zur Menge sprechen. "Auf Nachfrage des Polizei-Einsatzleiters, ob Herr Habeck im Anschluss daran ungehindert abfahren könne, wurde dies von den Versammlungs-Teilnehmern verneint", sagt Innenministerin Sütterlin-Waack. Das Gespräch kommt nicht zustande.

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Landwirte stehen mit Plakaten am Fähranleger. © picture alliance Foto: Hagen Wohlfahrt

Auf der Fähre mit Habeck: "Die Stimmung war aufgeheizt"

Eine Familie, die an Bord der selben Fähre wie Robert Habeck war, berichtet von den Erlebnissen am Donnerstag in Schlüttsiel. mehr

"Es ist schwer einzuschätzen, was sie vorhatten"

Leicht unscharfe Aufnahmen, wie Polizisten Menschen davon abhalten, eine Fähre zu stürmen. © Screenshot
Auf Handy-Bildern ist zu sehen, wie die Polizei auf der Brücke vergeblich versucht, einige vordrängende Protestler aufzuhalten.

Weil die Landwirte ihre Blockade nicht aufgeben, soll die Fähre wieder ablegen. Dann kommt es zu den tumultartigen Szenen, die in Handy-Videos festgehalten sind. "Beim Ablege-Manöver hatte ich einen kurzen Moment, wo ich dachte, jetzt schwappt das alles über", sagt Steuermann Silberstein. "Als die Leute gemerkt haben, dass die Fähre wieder ablegt, wurde versucht und teilweise auch geschafft, die Polizeisperre zu durchbrechen. Und einige sind dann die Brücke hochgelaufen." Wie viele Personen es waren, könne er nicht genau sagen. Vielleicht fünf oder zehn. Ein Polizist setzt Pfefferspray ein. "Es ist schwer einzuschätzen, was sie vorhatten. Ob sie Habeck nur anbrüllen wollten oder ob sie das Schiff stürmen wollten, ich weiß es nicht", sagt Silberstein.

An Land brüllt jemand aus den Reihen der Protestler dem Schiff noch hinterher: "Feige Sau!" Gemeint ist offensichtlich Habeck. Auch ein weiterer Ruf ist zu hören: "Ersauf, du Arschloch!" Wegen der aufgeheizten Stimmung verzichten die Polizisten und Polizistinnen darauf, die Personalien festzustellen.

Habeck lehnt einen Hubschrauber ab

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) auf der Fähre am Fähranleger Schlüttsiel. © NDR Foto: Jochen Domenicus
Wegen der Blockade der Landwirte kann Robert Habeck erst gegen 2 Uhr die Fähre in Schlüttsiel verlassen.

Steuermann Silberstein bringt Habeck mit der Fähre zurück zur Hallig Hooge. Die Idee, den Vizekanzler mit einem Hubschrauber von der Hallig zu holen, wird offenbar schnell verworfen. "Das hat auch Habeck selbst abgelehnt. Das habe ich miterlebt", berichtet Silberstein. Eine zweite Idee sei gewesen, dass ein Polizeischiff aus Cuxhaven den Grünen-Politiker aufnimmt. Aber auch dazu kommt es nicht. "Im Endeffekt haben wir Habeck mit der Fähre wieder abgeholt", so der Steuermann. Gegen 1.50 Uhr in der Nacht kann der Vizekanzler dann endlich in Schlüttsiel an Land gehen. Mit einer Verspätung von knapp neun Stunden. Die Landwirte mit ihren Schleppern sind längst weg. Gegen 18 Uhr hat sich die Kundgebung aufgelöst. Der Polizeieinsatz endet um 18.45 Uhr.

Protest-Aufrufe verbreiten sich wie ein Lauffeuer

Bürgermeister Matthias Feddersen wirkt auch eine Woche nach den Vorkommnissen noch mitgenommen. "Ich bin erschrocken, dass eine einzige Situation einen so kleinen Ort wie uns deutschlandweit negativ so bekannt machen kann." Immer wieder heißt es, ein wütender Mob habe das Schiff stürmen wollen. Und dass auch Rechte unter den Demonstranten gewesen seien.

Matthias Feddersen, Bürgermeister von Ockholm. © NDR Foto: Frank Goldenstein
Bürgermeister Matthias Feddersen wird dafür angefeindet, dass er die Polizei benachrichtigt hat.

Feddersen hatte gegen Mittag mitbekommen, dass Landwirte sich am Fähranleger versammeln wollen. In einer Chat-Nachricht heißt es: "Achtung!! Robert Habeck lädt heute zum Bürgerdialog um 16.45 Uhr im Fährhafen Schlüttsiel ein! Er wünscht sich unendlich viel Interesse. Tun wir ihm den Gefallen und kommen mit allem was Räder hat." Die Information über Habeck an Bord der Fähre verbreitet sich in der Gegend wie ein Lauffeuer. Der Minister hatte am Morgen mit der Fähre zur Hallig Hooge übergesetzt - für einen privaten Tagesausflug.

Bürgermeister: Es war kein rechter Mob

Der Bürgermeister entscheidet sich, gegen 14.30 Uhr die Polizei in Bredstedt zu informieren. Auf die Frage, mit wie vielen Teilnehmern er rechne, antwortet Feddersen: "Drei oder 300." Am Ende werden es eher 300 sein. "Ich bin nicht vor Ort gewesen", sagt der Bürgermeister. "Ich habe aber gehört, dass es ganz normale Menschen gewesen sind. Also Menschen, die einfach demonstrieren wollten. Kein rechter Mob." Die Protestaktion der Landwirte gegen Habeck findet er problematisch. "Ich persönlich finde, es ist verkehrt, jemanden in seinem Privatleben zu bedrängen, auch wenn er ein Amt innehat."

Über die Szenen beim Ablegen der Fähre ärgert sich der Bürgermeister. "Das sind ja wahrscheinlich nur vier oder fünf Leute gewesen, die rumgerangelt haben. Aber die versauen es für alle. Dass es so ausartete, war bestimmt nicht Sinn und Zweck der Geschichte."

VIDEO: Habeck auf Schlüttsiel-Fähre: Wohl kein Erstürmungsversuch (3 Min)

E-Mails mit Beleidigungen: "Sehr unter der Gürtellinie"

Für Feddersen hat der Tag ein Nachspiel. Offenbar nehmen es ihm einige übel, dass er die Polizei über den Protest informiert hat. Der Bürgermeister erhält E-Mails mit wüsten Beschimpfungen. "Das ging sehr unter der Gürtellinie." Feddersen geht davon aus, dass die Nachrichten aus der rechten Szene stammen. Das sei aus den Nachrichten eindeutig hervorgegangen.

Landwirte: Handy-Videos zeigen nicht das ganze Bild

Viele Landwirte aus der Region bedauern, wie die Protestaktion am Ende abgelaufen ist. Dass einige die Polizeikette durchbrochen haben, kommt bei denen, die friedlich protestieren wollten, nicht gut an. Aus den Reihen der Bauern heißt es, sie hätten den wenigen Störern auch gleich klargemacht, dass ihre Aktion beim Ablegen der Fähre nicht angemessen gewesen sei.

Landwirt Torben Jacobsen findet, dass die Handy-Videos, die in den sozialen Medien kursieren, nicht das ganze Bild zeigen. "Was man nicht sieht, ist, dass Polizei und Demonstranten sich danach wieder ganz normal die Hand gegeben haben", sagt Jacobsen. "Es waren keine Radikalen oder Sonstiges, sondern es waren ganz normale Leute. Die haben sich nachher entschuldigt bei der Polizei."

"Wir wollten mit Habeck ein paar Worte austauschen"

Landwirt Malte Massow aus Oldenswort wehrt sich ebenfalls dagegen, dass der Protest von vielen als so negativ bewertet wird. "Wir wollten Habeck empfangen und ein paar Worte austauschen", sagt Massow im Gespräch mit dem NDR. Die Stimmung unter den Landwirten sei sehr gut gewesen. "Niemand hatte die Absicht, eine Schlägerei oder so anzufangen."

Gewundert habe sich Massow allerdings mit ein paar Kollegen über einen schwarz gekleideten Mann am Fähranleger. "Man hat gleich gemerkt, dass das kein Landwirt war. Das sah man. Er hatte ein Schild dabei, auf dem Stand: Hau ab!" Zudem habe der Mann in Richtung Habeck gerufen: 'Komm runter, du Penner!' "Wir haben uns alle gewundert, woher der kam", sagt Massow. Die Protestaktion im Fährhafen endet für Massow enttäuschend. Der erhoffte Austausch mit dem Minister findet nicht statt, er habe Habeck nicht einmal zu Gesicht bekommen.

Sind Straftaten begangen worden?

Die Staatsanwaltschaft ermittelt nach den Vorfällen in Schlüttsiel - und prüft, welche Straftaten begangen worden sind. "Dass wir hier Straftatbestände haben, ist vollkommen unbestritten", sagte die leitende Staatsanwältin Stephanie Gropp am Mittwoch im Innenausschuss des Landtags. Aber welche Straftaten das sind, sei noch unklar. Es geht um Beleidigung, Nötigung, Bedrohung, Landfriedensbruch. Die Ermittlungen stehen erst am Anfang. Für die Staatsanwältin ist auch noch unklar, ob die Polizeikette am Fähranleger bewusst durchbrochen wurde oder ob der Druck von den Demonstranten von hinten zu groß war.

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Die Polizei Flensburg hat sich bereits festgelegt: Von einem Versuch, die Fähre zu stürmen, könne keine Rede sein, teilte die Polizeidirektion am Freitag auf Anfrage des NDR mit. "Zu dem Zeitpunkt, als sich die Fähre für die Abfahrt vorbereitete, bildete sich allmählich ein Druck von Versammlungsteilnehmern in Richtung der Brücke, welcher sich erhöhte und schlussendlich in der auf den Videos gezeigten Situation endete." Weiter heißt es von Seiten der Polizei: Die Versammlungsteilnehmer seien "teils ungewollt" in Richtung der Fähre geschoben worden. "Die Beamten, welche die Brücke sicherten, haben dem Druck entgegengewirkt. Als die Fähre nicht mehr erreichbar war, wurde die Polizeikette geöffnet, um den aus der Menge kommenden Druck zu entlasten."

Die Situation am Fähranleger sei stets unter Kontrolle gewesen, so die Polizei. In der Menge hätten sich circa 25 bis 30 Personen befunden, welche als Störer eingeordnet werden könnten.

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NDR Info | NDR Info | 12.01.2024 | 21:45 Uhr

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