Eine Heimat für Menschen ohne Erinnerung
In Deutschland leben etwa 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenz. Bis 2050 wird sich diese Zahl nach Berechnungen der Alzheimer-Gesellschaft verdoppeln. Wenn sie schlecht versorgt werden und in Heimen zum Teil katastrophale Zustände herrschen, regt uns das zu Recht auf. Solche Geschichten finden leicht den Weg in die Medien. Dabei geht manchmal unter, dass sich auch viel getan hat in der Pflegebranche, und zum Teil großartige und wichtige Arbeit geleistet wird. In unserer Rubrik "NDR Info Perspektiven" berichten wir über die Betreuung und Versorgung Demenzkranker - und wir stellen ein vorbildliches Heim vor.
Die Lage
Demenzkranke verlieren nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch die Fähigkeit, ihre Wünsche zu artikulieren. Je mehr ihnen ihr Leben entgleitet, je weniger Verständnis sie von ihrer Umgebung erfahren, desto stärker werden Gefühle wie Angst und allgemeine Unruhe. Viele Demenzkranke werden wütend und auf den ersten Blick grundlos aggressiv.
Das Personal in manchen Pflegeheimen weiß sich dann oft nicht mehr anders zu helfen als mit der Verabreichung von mehr Psychopharmaka. Der Anblick von Menschen mit trübem, ausdruckslosem Blick aufgrund der starken Beruhigungsmittel gehörte bis vor wenigen Jahren zur Normalität in Pflegeheimen. Und auch heute noch werden Demenzkranke wegen Personalknappheit oder Unwissenheit häufig viel zu stark sediert.
Wenn es ganz schlecht läuft, sind die Kranken dann hilflos ausgeliefert und unwürdig versorgt. Sie werden vernachlässigt, abgeschoben, an Betten fixiert, mit Medikamenten ruhiggestellt.
Die Perspektive
Es geht aber auch ganz anders - zum Beispiel im Haus Schwansen in Rieseby an der Schlei in Schleswig-Holstein. Es ist nicht teurer als andere Heime, hat aber eine besondere Herangehensweise an die Betreuung von Demenzkranken.
Nach dem Frühstück im Haus Schwansen sitzen 35 Bewohner im Gemeinschaftsraum. Lieder sind zu hören. Die Stimmung ist beinahe vergnügt, die meisten singen textsicher mit, wiegen sich im Takt oder summen die Melodie. Lieder strukturieren hier den Tag, denn Demenzkranke erinnern sich oft noch gut an Melodien und Texte, selbst wenn sie vieles andere vergessen haben. Nach dem Singen backen die Bewohner mit einer Betreuerin Apfelkuchen. Jeder soll das machen, was er noch kann - solange es geht. Die 93-jährige Ute Schuchardt und der 89 Jahre alte Herbert Sätje nehmen die Schälmesser entgegen und gucken interessiert.
"Wir hatten ja früher einen großen Garten", sagt Herbert Sätje. "Wir waren aber nicht begeistert, dass wir helfen mussten." Betreuerin Jane Wanda weiß das natürlich schon, nicht nur weil Herr Sätje den Satz an diesem Vormittag nicht zum ersten Mal sagt. Auch Ute Schuchardt erzählt gerne von sich: "Ich bin ja im Kinderheim gewesen! Da müssen natürlich auch alle viel mit anpacken."
Jeder Mitarbeiter kennt die Lebensgeschichte
Im Haus Schwansen wird die Biografie der Bewohner genauestens mit den Angehörigen besprochen und in einer Akte festgehalten. Das Konzept sieht vor, dass wirklich jeder Mitarbeiter im Haus, von der Leitung bis zur Küchenhilfe, weiß, dass er beispielsweise bei Ute Schuchardt auf ihre Erfahrungen im Kinderheim Rücksicht nehmen muss, und dass sie eine schwierige Ehe hinter sich hat. "Sie hatte es wirklich nicht so gut", sagt Pflegekraft Hannes Brodersen. "Man könnte sagen: Was sie so als Quintessenz aus diesem Leben herausgezogen hat, ist: Solange wir uns lieb haben, ist alles gut, und wenn jeder seinen Platz hat, ist auch alles gut. Wenn wir ihr dieses Gefühl geben, dann ist sie einfach glücklich."
Den Hunger im Krieg nie vergessen
Eine andere Bewohnerin litt regelmäßig unter verzweifelten Unruhe-Zuständen. Erst verstand niemand den Grund, weil sie wegen ihrer fortgeschrittenen Demenz nicht mehr sprechen konnte. Eine aufwendige Recherche gemeinsam mit ihrer Familie ergab, dass sie als junge Frau im Krieg beinahe verhungert wäre. Selbst leichter Hunger spülte bei der betagten Frau die Panik von damals hoch. Pfleger Brodersen gibt ihr seitdem eine halbe Banane und die Frau entspannt sich sofort. Weitere Medikamente seien dann nicht nötig. "Wir schauen also: Wo ist eigentlich der Auslöser für das Verhalten der Patienten?", sagt Brodersen. "Das ist unser Geheimnis hier."
Die Einrichtung blickt schon auf 20 Jahre Erfahrung bei der Arbeit mit Demenzkranken zurück. Die Mitarbeiter tragen das Konzept mit und bleiben ihrem Arbeitgeber treu. Ihre Erfahrung gleicht die Tatsache aus, dass der Personalschlüssel im Haus Schwansen kein anderer ist als in anderen Heimen.
Händchen haltend am Tisch
Nach dem Äpfelschälen sitzen Ute Schuchardt und Herbert Sätje Hände haltend am Tisch und kichern ab und zu miteinander. Sie sind seit drei Monaten ein Paar. Es ist unklar, ob sie sich gegenseitig für den verstorbenen Ehepartner halten oder ob sie tatsächlich frisch verliebt sind. Im Haus Schwansen spielt das aber keine Rolle. "Es geht darum, was den Bewohner oder die Bewohnerin glücklich macht", sagt Brodersen. "Solange sie sich nicht gefährden, ist das für mich in Ordnung. Ich bin hier auch nicht eingestellt, um Menschen zu erziehen. Sondern um Menschen zu begleiten."
Während es draußen langsam dunkel wird, stimmen die Betreuer wieder Lieder an. Ob das, was die Bewohner jetzt singen, eine inhaltliche Bedeutung für sie hat, kann niemand sagen. Aber dass die Demenzkranken im Haus Schwansen ein Zuhause für die letzte Lebensphase gefunden haben, diese Hoffnung darf man haben.