Stand: 14.11.2016 00:01 Uhr

Spirit von Bollewick: Vom Stinker zum Musterdorf

Das Thema Landflucht ist ein großes Problem in vielen Regionen: Städte werden immer voller, der Wohnraum teurer. Gleichzeitig stehen Häuser in sogenannten strukturschwachen Regionen leer und Dörfer kämpfen ums Überleben. Sorgen, die viele ländliche Regionen in ganz Norddeutschland kennen. Aber nirgendwo ist das Problem so weit verbreitet wie in Mecklenburg-Vorpommern. In unserer Rubrik "NDR Info Perspektiven" geben wir einen Überblick über die Situation im Nordosten und berichten über einen Ort, der es geschafft hat, den Trend umzukehren.

Die Lage

In den ersten Jahren nach der Wende im Jahr 1990 sind vor allem die jungen Leute aus Mecklenburg-Vorpommern weggezogen: Sie sahen ihre Chancen im Westen. Seitdem schrumpft die Bevölkerung im Nordosten vor allem deswegen, weil sie älter geworden ist und mehr Menschen sterben als geboren werden.

Insgesamt hat Mecklenburg-Vorpommern seit der Wiedervereinigung Deutschlands etwa 300.000 Einwohner verloren. Lebten im Jahr 1990 noch mehr als 1,9 Millionen Menschen im nordöstlichen Bundesland, waren es 20 Jahre später nur noch etwas mehr als 1,6 Millionen. Prognosen des Statistischen Landesamtes zufolge wird sich aufgrund der Altersstruktur dieser Trend fortsetzen. Bis 2030 wird die Bevölkerung um weitere 200.000 Menschen schrumpfen.

Während Städte wie Schwerin und Greifswald inklusive Speckgürtel nicht klagen, erinnern manche Straßenzüge auf dem Land an Geisterstädte: Häuser verfallen, Geschäfte schließen, Ärzte finden keinen Nachfolger für ihre Praxis. Aus solchen hoffnungslosen Orten bleiben junge Menschen mit Kauf - und Innovationskraft sowie Familien mit Kindern erst recht weg. Übrig bleiben nur die Alten. Einige Dörfer werden so nicht überleben können.

Die Perspektive

Aber ist es wirklich überall so hoffnungslos? Das hat NDR Info gefragt und festgestellt: Es gibt auch in Mecklenburg-Vorpommern Dörfer, die sich über Zuzug freuen können. Ein Beispiel ist der Ort Bollewick an der Mecklenburgischen Seenplatte.

"Hier, wo wir jetzt stehen, war eine mit Gülle und Sickerwasser vollgelaufene Betonpiste", erzählt Bürgermeister Bertold Meyer von der Zeit um die Wende im Jahr 1990. 650 Rinder in einem riesigen, einen Hektar großen Kuhstall hatten jahrzehntelang den Boden mit Gülle verseucht, schlecht verarbeitete Silage faulte vor sich hin. "Bollewick galt als der Ort des Gestankes. Man fuhr durch Bollewick und dachte nur, schnell durch, weil es roch an allen Ecken und Kanten", sagt Meyer. "Man hatte den Geruch schon an sich."

Die Dorfbewohner erklärten den Bürgermeister für verrückt

Nach der Pleite der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft der DDR fasst der frisch gewählte Bürgermeister Meyer einen geradezu tollkühnen Plan: Die stinkende Feldstein-Scheune soll aufgeräumt werden. ABM-Kräfte baggern tonnenweise verseuchte Erde aus. Sie klopfen Putz von den Wänden, tragen den Boden ab, reinigen den Weiher. Die Dorfbewohner erklären Meyer für verrückt. "Sie sagten: 'Das ist ein Fass ohne Boden, das kriegt ihr nie hin. Der Bürgermeister schmeißt unser schönes Steuergeld in den Kuhstall', erinnert sich Meyer an die Worte der Dorfbewohner.

Nach fünf Jahren ist der Dreck weg

Die Gemeinde, das Land und der Bund aber lassen sich überzeugen, dass es um ein historisches, weit über hundert Jahre altes Gebäude geht - und schießen Geld dazu. Nach fünf Jahren sind der Dreck und der Gestank weg. Weitere fünf Jahre später ist aus der Altlast ein Wahrzeichen geworden - ein Touristenmagnet mit Hotel, Café, Bauernladen und Kunsthandwerkern. "Es ging nicht um die Scheune, sondern um unsere eigene Identität. Daraus Selbstbewusstsein zu entwickeln und neue Schritte anzugehen. Und das haben wir tatsächlich geschafft", sagt Meyer.

Heute ist Bollewick ein Bioenergiedorf

Milchviehhalter Wilhelm Dabelstein in seinem Kuhstall © NDR Info Foto: Bettina Less
Auch Landwirt Wilhelm Dabelstein hat den Schritt in die Zukunft gewagt.

Nach dieser Mammut-Aufgabe traut sich die Gemeinde an weitere Projekte heran - und die Erfolgsgeschichte nimmt ihren Anfang. Bollewick darf sich heute Bioenergiedorf nennen, zwei ortsansässige Milchbauern trauten sich, ihr Geld in Biogasanlagen zu investieren. Heute hilft Landwirt Wilhelm Dabelstein mit, das Dorf und sogar angrenzende Gemeinden mit Strom zu versorgen, und hat damit nebenbei auch die eigene Existenz gesichert. "Wenn man ganz alleine steht, dann kann man mit dem Baurecht und all diesen Sachen schnell den Mut verlieren", meint Dabelstein. "Wenn man dann aber vonseiten der Gemeinde Unterstützung erhält, fällt einem alles gleich viel leichter."

Aus Zusammenhalt entstehen neue Projekte

Das sieht auch Ralf Weiße aus dem Sauerland so und lobt den besonderen Spirit von Bollewick. Er ist vor einigen Jahren mit seiner vierköpfigen Familie hergezogen. Er wollte bauen in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt, die Bioenergie nutzen, einiges anders machen als konventionelle Hausbauer. "Das merkt man halt an Bollewick: Dass es immer wieder neue Sachen gibt. Dass gemeinschaftlich im Dorf unheimlich viel passiert, in verschiedenste Richtungen. Die Idee ist, zusammenzuleben und nicht nur Nachbarn zu sein", schwärmt Weiße.

"Jedes Dorf hat einen Schatz"

Seit 1990 ist in Bollewick die Zahl der Einwohner von 380 auf 650 gestiegen - also um mehr als 70 Prozent. Leerstand gibt es keinen, stattdessen wurden 50 neue Häuser gebaut. Bürgermeister Meyer räumt ein, dass nicht überall eine historische Scheune steht, die sich herausputzen lässt. Aber er ist davon überzeugt, dass jedes Dorf, egal wie schlecht die Chancen scheinen, einen Schatz hat, den es ausgraben kann. "Es gibt Gemeinden, die haben halt eine Burg, andere haben ein Schloss oder ein Gutshaus", sagt Meyer. "Wichtig ist gar nicht, was sie haben, sondern dass sie erkannt haben, dass sie etwas Besonders haben. Die Menschen müssen erkennen, welche Perlen sie vor der Haustür haben. Ich sage mal: Jeder muss seine Potenziale erkennen und das Beste daraus machen. Dass wir hier nun gerade eine Scheune haben, ist Zufall."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Aktuell | 14.11.2016 | 06:20 Uhr

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