RSV: "Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können"
Intensivmediziner schlagen Alarm: Die Versorgung von Kindern mit RS-Virus wird immer schwieriger. Personalmangel führe dazu, dass teils 40 Prozent der Kinder-Intensivbetten außer Betrieb sind.
"Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können", sagte der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse. Die Lage sei ohnehin schon prekär. Doch die enorme Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) habe die Situation noch einmal verschlimmert. "Jetzt werden drei Jahrgänge von Kindern diese Infekte durchmachen, weil sie ohne Mundschutz durch die Gegend rennen", sagte Sasse mit Blick auf die aufgehobenen Corona-Beschränkungen. Das überfordere die Kliniken in "totaler Weise". Inzwischen würden Kinder auf Normalstationen behandelt, die eigentlich auf Intensivstationen gehörten.
RS-Virus: Krankes Kind aus Hannover nach Magdeburg verlegt
Weil alle Betten voll waren, wurde aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt: Entfernung rund 150 Kilometer. "Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen", berichtete Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie. Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann. Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen. Dann müsse ein Kind, dem es besser geht, an seiner Stelle verlegt werden.
Niedersachsen: Gesundheitsministerin lehnt Maskenpflicht ab
"Es ist eine ausgesprochen ernste Lage und die Kinderkrankenhäuser sind stark belastet", sagte Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD). Von 241 betreibbaren Intensivbetten für Kinder seien am Donnerstag noch 66 Betten frei gewesen, die meisten davon für Neugeborene, sagte Behrens im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). Trotzdem hält sie die Lage weiterhin für gut beherrschbar. "Wir kennen die Kapazitäten unserer Kliniken aus der Corona-Zeit sehr gut und gehen - Stand heute - auch nicht davon aus, dass wir zukünftig regelmäßig Patienten in andere Bundesländer verlegen müssen." Forderungen von Medizinern nach einer Rückkehr zur Maskenpflicht, um RSV-Infektionen einzudämmen, lehnte Behrens ab: "Ich glaube nicht, dass wir dieses Fass aktuell wieder aufmachen sollten." Auch flächendeckende Kita-Schließungen, um die Kleinsten zu schützen, seien kein Thema. "Darüber denken wir nicht nach."
Für wen ist RSV gefährlich?
Aktuell erkranken mehr Menschen an Atemwegsinfekten als vor der Corona-Pandemie. Das geht aus dem Wochenbericht des RKI "Aktuelles zu akuten respiratorischen Erkrankungen" vom 24. November hervor. Es kommen demnach mehr Menschen - und damit auch mehr Kinder und Kleinkinder - mit schweren akuten Atemwegsinfekten in Kliniken. Mit RSV kann man sich grundsätzlich in jedem Alter infizieren. Meist löst das Virus eine einfache Atemwegsinfektion aus. Aber auch schwere Verläufe bis hin zum Tod sind möglich. Zu Risikopatienten zählt das RKI Frühgeborene und Kinder mit Lungen-Vorerkrankungen, aber auch generell Menschen mit Immunschwäche oder mit durch Medikamente unterdrücktem Immunsystem. In den kommenden Wochen sei mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen.
Divi: Durch Personalmangel können 40 Prozent weniger Intensivbetten betrieben werden
Die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken in ganz Deutschland an ihre Grenzen. Von einer "katastrophalen Lage" auf den Kinder-Intensivstationen spricht deshalb auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Laut einer Umfrage der Divi unter 110 Kinderkliniken waren am 24. November vor allem wegen Personalmangels 40 Prozent der Kinderintensivbetten nicht in Betrieb. "Aus den 607 Betten wurden 367", sagte Hoffmann. Um diese Betten konkurrierten kleine Patienten aus der Notaufnahme oder von den Rettungsdiensten. Hinzu kämen Anfragen von Kliniken mit einer geringeren Versorgungsstufe. "Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten", sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Kriterien an die Wirtschaftlichkeit von Kinderheilkunde gestellt worden. "Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen."
Brandbrief aus Hannover an Lauterbach
"Wir müssen derzeit damit rechnen, dass sich die Lage zuspitzt - daher ist es nötig, dass wir jetzt handeln, damit alle Kinder medizinisch versorgt werden können", sagte die Vorständin des Kinder- und Jugendkrankenhauses Auf der Bult in Hannover, Agnes Genewein. Dort würden aktuell täglich 20 bis 25 Kinder mit schweren Atemwegsstörungen aufgenommen. Hannovers Regionspräsident Steffen Krach (SPD) sagte: "Die Unterfinanzierung der Kliniken führt inzwischen zu massiven Problemen." Bund und Land müssten die Krankenhausfinanzierung grundsätzlich ändern. In einem Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) fordern sie, dass den Kliniken wie bei Corona eine Freihaltepauschale für Betten bezahlt wird. Denn: Die Kliniken bekommen weniger Geld für die Behandlung von RSV als für andere, planbare Eingriffe. Die müssen auch Auf der Bult schon verschoben werden.
Pflegekräfte sollen auf Kinderstationen verlegt werden
Lauterbach hat angekündigt, dass die Krankenhäuser zum Beispiel Pflegekräfte von den Erwachsenenstationen auf die Kinderstationen verlegen sollen. Außerdem sollen die Kassen kurzfristig eingestellte Pflegekräfte finanzieren, so der Bundesgesundheitsminister. Heute soll zudem der Bundestag zwei Finanzspritzen beschließen. Für Kinderkliniken soll es nach den Gesetzesplänen der Ampel-Koalition in den kommenden zwei Jahren jeweils 300 Millionen Euro mehr geben. Außerdem sollen Geburtshilfestandorte mit je 120 Millionen Euro zusätzlich ausgestattet werden. Die Finanzierung soll so auch unabhängiger von der jetzigen, leistungsorientierten Logik werden. An der Einführung der Fallpauschale war Lauterbach seinerzeit beteiligt.
Keine genauen Fallzahlen: RSV nicht meldepflichtig
Anders als Corona oder Grippe ist RSV in Deutschland nicht meldepflichtig, wie der Sprecher des Niedersächsischen Landesgesundheitsamts (NLGA), Holger Scharlach, erklärte. Um eine annähernd genaue Vorstellung davon zu bekommen, wie viele Kinder infiziert sind, sammelt das NLGA jede Woche Proben aus 40 Arztpraxen im Land, meist Kinder- und Hausarztpraxen. Die Proben stammen von Patienten mit Atemwegsinfekt-Symptomen. "Diese Proben untersuchen wir bei uns im Labor und schauen, welche Erreger wir finden", sagte Scharlach. Das Ergebnis: In jeder dritten Probe (33 Prozent) seien vergangene Woche RS-Viren nachgewiesen worden. Eine Woche zuvor waren demnach 28 Prozent der Proben positiv.