Neun Prozent mehr Fälle häuslicher Gewalt: Was steckt dahinter?
Neun Prozent mehr Fälle häuslicher Gewalt werden der Polizei gemeldet. Das zeigt die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik für 2024. Was steckt hinter den Zahlen?
Vanessa Reupke begegnet täglich Männern, die ihren Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen Gewalt angetan haben. Sie ist Teamleiterin in der Täterberatungsstelle häusliche Gewalt bei der Jugendhilfe Wolfenbüttel. Hierher, in die zwei kleinen Dachgeschosszimmer der Jugendhilfe, kommen Männer, die sich ändern wollen. "Täterarbeit ist Opferschutz", erklärt Reupke. "Das Ziel ist, erneute Gewalt zu verhindern." In Gruppensitzungen lernen Männer hier, mit Gefühlen und vor allem Aggression umzugehen und die Gewaltspirale zu durchbrechen. "Nur der Täter kann die Gewalt beenden", sagt Reupke.
Hohe Fallzahlen in Statistik
Der Bedarf an Einrichtungen wie diesen ist hoch. 32.545 Mal musste die Polizei im vergangenen Jahr ausrücken, weil ein Mann seine Frau verprügelte, ein Ex-Freund seine Ex-Partnerin bedrohte oder besorgte Nachbarn wegen Lärms den Notruf wählten. Diese Zahl aus der Polizeilichen Kriminalstatistik Niedersachsen 2024 hat die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens (SPD) am Donnerstag in Hannover vorgestellt. Insgesamt 29 Frauen wurden in Niedersachsen 2024 im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt umgebracht. 54 Mal hat ein Täter versucht, zu Hause zu töten. 3.320 Mal nahm die Polizei eine schwere oder gefährliche Körperverletzung auf.
Mehr Fälle, weil öfter angezeigt wird?
Behrens betonte, der gefährlichste Ort für eine Frau sei ihre eigene Wohnung: "Das ist nicht zu ertragen." Um etwa neun Prozent sind die Fallzahlen demnach im vergangenen Jahr gestiegen. Diesen Anstieg bewertet die Ministerin allerdings nicht ausschließlich negativ. "Menschen haben mehr Vertrauen, sodass sie im Bereich der häuslichen Gewalt Anzeige erstatten. Ich glaube, es geht nicht darum, dass die Bedeutung häuslicher Gewalt den Zahlen nach wächst. Sondern es geht darum, dass mehr Taten im sogenannten Hellfeld sind. Es gibt mehr Anzeigen."
Kriminologe: Nachbarn rufen schneller die Polizei
Diese Einschätzung teilt auch der Kriminologe Thomas Bliesener vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. "Wir haben insgesamt bei den Gewaltstraftaten eine Zunahme zu verzeichnen", sagt er. "Aber gerade im Bereich der häuslichen Gewalt sehen wir in den letzten Jahren schon, dass sich Wahrnehmungen und Wertungen verändern. Dass bestimmte Verhaltensweisen viel stärker als strafrechtlich relevant wahrgenommen und dann auch angezeigt werden. Das müssen nicht die Betroffenen sein. Das können Nachbarn sein, die das mitbekommen und dann die Polizei rufen."
CDU fordert schnelle Einführung der elektronischen Fußfessel
Anders bewertet die Opposition den Anstieg der Fallzahlen. "Der dramatische Anstieg bei häuslicher Gewalt um fast neun Prozent auf nunmehr rund 32.500 Fälle ist besonders besorgniserregend," äußerte sich etwa der innenpolitische Sprecher der CDU, André Bock. Die Ministerin müsse endlich handeln und die gesetzliche Grundlage für eine elektronische Aufenthaltsüberwachung im Polizeigesetz schaffen, so Bock weiter. Bock fordert die rasche gesetzliche Freigabe der elektronischen Fußfessel für Täter häuslicher Gewalt.
Täterberatung zeigt Wirkung
Vanessa Reupke von der Täterberatungsstelle in Wolfenbüttel ist überzeugt, dass die Arbeit mit den Tätern ein wichtiger Teil der Lösung ist. An den Wänden des kleinen Gruppenraums hängen schon Plakate für das nächste Treffen. "Gewaltspirale" steht darauf. Darunter ist ein Kreislauf aufgezeichnet. "Gewalthandlung", "Entsetzen/Schuldgefühle", "Konfliktvermeidung", "Anstauung von Wut" - und dann wieder von vorne. Die Täterarbeit häusliche Gewalt kann keine Daten darüber erheben, ob Männer nach dem Programm "rückfällig" werden. Aber zumindest von der Staatsanwaltschaft hört Reupke davon bisher nichts. "Wer hier war, hat über ein halbes Jahr intensiv an sich gearbeitet. Bisher musste noch niemand wieder kommen."
Lange Wartelisten und mangelfinanziert
Obwohl Täterarbeit auch von der Landesregierung als wesentlicher Faktor im Kampf gegen häusliche Gewalt eingeschätzt wird, gibt es nur elf Täterberatungsstellen, die vom Land gefördert werden. Hinzu kommen kommunal geförderte Projekte. Trotzdem sind große Teile Niedersachsens unterversorgt. Wo es Einrichtungen gibt, sind die Wartelisten lang: In Hannover warten Männer drei Monate auf einen Platz in einer Gruppe, in Hildesheim sind es über sechs Monate. Reupke betont die hohe Arbeitsbelastung für das ganze Team: "Wir arbeiten alle am Limit. Es gibt nicht genug Frauenhausplätze, es gibt nicht genug Beratungen in Beratungs- und Interventions-Stellen, es gibt nicht genug Täterarbeit. Wir sind alle, alle, alle mangelfinanziert. In ganz Deutschland."
