Schattenflotte und Seerecht: Was Ostseestaaten tun (können) - und was nicht
Sanktionen, Versicherungsnachweise, Kontrollen, mehr Überwachung: Den NATO-Ostsee-Staaten stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, mit denen sie gegen die russische Schattenflotte vorgehen können. Weitere sollen folgen. Doch die Materie ist rechtlich komplex.
Nirgendwo kann man Tanker besser sehen als an der Nordspitze Jütlands in Skagen. Den Einheimischen wird immer unwohler beim Ausblick auf die viele Schiffe am Horizont. Zwei Dutzend Tanker liegt dort auf Reede. Sie machen auf der Leeseite der Halbinsel Pause, bunkern Proviant, erledigen kleine Reparaturen, bevor die Reise weitergeht. Die kleinen Tankschiffe sind meist gut in Schuss und innerhalb der EU unterwegs. Die großen Tanker hingegen haben ihre besten Tage meist schon hinter sich. Beladen sind sie auf dem Weg nach Nordafrika, Indien oder China. Andere fahren leer in die entgegengesetzte Richtung, durch Kattegat, Belt und Ostsee, um im russischen Primorsk oder Ust-Luga Rohöl, Schweröl oder Diesel bzw. Benzin zu laden.
Diese Tanker werden immer mehr zum Problem, weil sie die Umwelt bedrohen, teilweise bedingt seetüchtig, schlecht versichert sind und einige sogar im Verdacht stehen Spionage oder Sabotage zu betreiben. Welche Tanker zur russischen Schattenflotte gehören ist unklar, sicher ist nur: NATO und Ostseeanrainer wollen die Regeln für diese Schiffe verschärfen, weil sie Sicherheit und Umwelt bedrohen.
NATO-Ostsee-Gipfel: "Nicht nur zuschauen, sondern handeln"
Mit dem NATO-Ostsee-Gipfel Anfang der Woche in Helsinki ist das Thema auf der höchsten politischen Ebene angekommen. Die Regierungschefs und der NATO-Generalsekretär machten in der finnischen Hauptstadt deutlich, dass sie mit Blick auf jüngste Vorfälle in der Ostsee nicht länger an "Zufälle" glaubten und künftig "nicht nur zuschauen, sondern handeln" wollen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem Treffen sagte. Angriffe auf kritische Infrastruktur und Gefahren für die Umwelt wurden in Helsinki von den Gipfelteilnehmern wohl so deutlich wie noch nie mit der russischen Schattenflotte in Verbindung gebracht.
Ostsee-Anrainer prüfen rechtliche Handlungsspielräume
In Helsinki wurden die Außenministerien der NATO-Ostsee-Staaten mit einer "juristischen Analyse" beauftragt. Sie sollen prüfen, "was wir für Handlungsmöglichkeiten haben" auf Basis des internationalen Seerechts, so Scholz und ob diese ausreichen, um gegen Bedrohungen durch die Schattenflotte vorzugehen. Andernfalls müssten im Rahmen der EU- und nationalen Gesetzgebungen zusätzliche Maßnahmen geschaffen werden. Scholz betonte, dass dies nicht nur für die Hoheitsgewässer gelte, sondern "auch darüber hinaus". Der Kanzler dürfte damit auf die Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) in der Ostsee angespielt haben.
UN-Seerechtsübereinkommen und die Freiheit der Meere
Die Gipfelteilnehmer betonten mehrfach, dass mögliche Gegenmaßnahmen im Einklang mit geltendem Recht stehen müssten. "Wenn die NATO Kriegsschiffe entsendet, dann dürfen diese nicht einfach andere Schiffe - zumal Handelsschiffe - auf hoher See anhalten und durchsuchen", so der Experte für maritime Sicherheit von der Uni Kiel, Johannes Peters. Von radikaleren Maßnahmen wie etwa einer pauschalen Sperrung der Ostsee für Schattenflotten-Tanker war auf dem Gipfel in Helsinki keine Rede. Eine solche Maßnahme stünde nach Meinung vieler Experten dem über die Jahrhunderte gewachsenen Prinzip der Freiheit der Meere entgegen, die im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen kodifiziert ist.
Das UN-Seerechtsübereinkommen gesteht jeder Nation zu, die Weltmeere zu befahren. Ein weiterer Grundsatz ist das Recht der friedlichen Durchfahrt. Schiffe aller Staaten dürfen Küstenmeer und Meerengen friedlich durchfahren - ohne eine Genehmigung des Küstenstaates. Eine pauschale Sperrung der Ostsee für eine definierte Gruppe von Schiffen könnte als Seeblockade und damit möglicherweise sogar als kriegerischer Akt gewertet werden, heißt es.
"Wir sind momentan in der Ostsee in einer Situation, wo Russland die Eskalationsdominanz hat. Russland ist unter Umständen in der Lage, ohne geltendes Recht zu verletzen, die NATO unter Zugzwang zu setzen und schlimmstenfalls in die Lage zu kommen, sagen zu können: 'Ihr seid es, die eskaliert.'" Johannes Peters, ISPK, Uni Kiel
Schattenflotte: Verschiedene Rechtsgebiete greifen ineinander
Kompliziert wird es, wenn es um die rechtliche Bewertung von Vorgängen rund um Schiffe der Schattenflotte geht. Hierbei greifen verschiedene Rechtsgebiete ineinander - nämlich die sanktionsrechtlichen Bestimmungen und das internationale Seerecht, das die Rechte und Pflichten von Staaten in den jeweiligen Meereszonen festlegt und etwa auch Vorschriften zum Schutz der Meeresumwelt enthält, wie der Seerechts-Experte Christian Schaller von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin erklärt. Grundsätzlich müsse unterschieden werden, ob es sich um Fälle von Spionage und Sabotage handele oder um eine Havarie.
Zudem komme es darauf an, so Schaller, in welchem Bereich des Meeres sich das Geschehen ereignet, wo sich also die sabotierte Infrastruktur oder das manövrierunfähige Schiff befindet. Davon hänge ab, welche Befugnisse den Küstenstaaten zustünden. Sabotiert werden Kabel und Pipelines meist in den AWZ. Dort verfügt der jeweilige Küstenstaat über weniger Befugnisse als in seinem Küstenmeer. Darüber hinaus gelten für Meerengen, die der internationalen Schifffahrt dienen, wiederum besondere Regelungen. Dies betrifft auch die dänischen Meerengen und den Öresund.
Zwei Vorfälle im Fokus: "Eagle S" und "Eventin"
Zwei Vorfälle in den Tagen und Wochen zuvor haben eindrücklich vor Augen geführt, welche Gefahr von den Schattenflotte-Schiffen ausgeht. Die Beschädigung des Stromkabels Estlink-2 Weihnachten im Golf von Finnland durch die "Eagle S" und die Havarie des Tankers "Eventin" vor Rügen. Beide Schiffe werden der russischen Schattenflotte zugerechnet.
Im Fall "Eagle S" reagierten die finnischen Behörden nach der mutmaßlichen Kabelsabotage rasch. Ein Küstenwach-Schiff stellte die "Eagle S" in der AWZ und forderte sie auf, ins finnische Küstenmeer zu fahren, was der Tanker auch tat. Dort wurden Spezialkräfte an Bord und das Schiff anschließend in einen finnischen Hafen gebracht, wo es derzeit einer Hafenstaatskontrolle unterzogen wird. Darüber hinaus hat die finnische Kriminalpolizei Sabotage-Ermittlungen eingeleitet und unter anderem Reiseverbote gegen Besatzungsmitglieder ausgesprochen.
Die mit 99.000 Tonnen russischem Rohöl beladene "Eventin", die in der AWZ vor Rügen einen Maschinenausfall hatte, wurde vor Sassnitz auf Reede geschleppt. Dort wurde inzwischen gemeldet, die Maschinen liefen wieder. Allerdings wurde von deutschen Behörden ein vorläufiges Weiterfahrverbot verhängt, bis die Ergebnisse einer Sicherheistinspektion vorliegen. Diese wurde vom Flaggenstaat Panama beauftragt. Zudem wird die Ladung vom Zoll kontrolliert. Eine Hafenstaatskontrolle wird laut Bundesverkehrsministerium nicht durchgeführt.
Der Fall "Eagle S": Weniger restriktivere Interpretation des Seerechts
In der Reihe der jüngsten Vorfälle rund um Schiffe der Schattenflotte sticht für Seerechtler Schaller der Fall der "Eagle S" heraus:
"Hier wurde erstmals entschlossen eingegriffen, zwar noch im Rahmen der seerechtlichen Befugnisnormen - denn das Schiff wurde erst in das finnische Küstenmeer gelotst und dann untersucht. Die finnische Regierung hat aber angekündigt, die betreffenden seerechtlichen Bestimmungen künftig weniger restriktiv auszulegen - wohl auch um zu verhindern, dass sich verdächtige Schiffe in solchen Fällen in der AWZ einem Zugriff entziehen. Estland hat bereits signalisiert, dass es diese Linie befürwortet." Christian Schaller, Experte für Seerecht, SWP
Schaller hält es auch für möglich, dass mittelfristig neue Regelungen geschaffen werden, um kritische Infrastruktur auf See besser vor Sabotage zu schützen. Damit könne aber einhergehen, dass die Freiheit der Schifffahrt in bestimmten Bereichen stärker eingeschränkt würde.
Experte: Küstenstaat muss Umweltschutz und Sicherheitsstandards durchsetzen
Doch es gebe auch eine Pflicht des Küstenstaates zur Durchsetzung von Umweltschutz und Sicherheitsstandards, betont der Experte für maritime Sicherheit von der Beratungsgesellschaft Nexmaris, Moritz Brake. Diese leite sich aus dem Seerecht her und fordere Küstenstaaten auf, in ihren Hoheitsgewässern und in der AWZ die Einhaltung dieser Standards zu gewährleisten. Dies gelte auch gegenüber Schiffen fremder Flagge.
"Nicht nur aus Gründen der nationalen Sicherheit - Stichwort Spionage- und Sabotage - sondern auch aus Verantwortung für den Umweltschutz, die Schifffahrt in der Region und die Seeleute an Bord, halte ich es für dringend geboten, die Rechte des Küstenstaates im Seerecht voll auszuschöpfen." Moritz Brake, Experte für maritime Sicherheit, Nexmaris
Schiffe der "Schattenflotte", die entsprechende Verdachtsmomente erfüllen, könnten bei Einfahrt in die AWZ und Hoheitsgewässer "genau untersucht, bei begründetem Verdacht für Verstöße an der Durchfahrt gehindert und festgesetzt werden", meint Brake. Im Fall der "Eventin" sieht Brake mit Blick auf die Art der Havarie - ein totaler Blackout - "einen zweifelsfreien Beleg für ihre Seeuntüchtigkeit" und dadurch Handlungsbedarf. Der maritime Experte hält es zudem für bedenkenswert, bei Nachweis sanktioniertem Öls an Bord dies als Verstoß gegen nationales Recht und die friedliche Durchfahrt in den Hoheitsgewässern anzusehen.
Größte Handhabe im Hafen
"Die größte Handhabe der Küstenstaaten besteht, wenn ein Schiff seinen Hafen angelaufen hat", sagt die Expertin für Energie-, Umwelt- und Seerecht der Uni Greifswald, Sabine Schlacke. Dann befinde sich das Schiff auf nationalem Territorium. "Die EU hat umfangreiche Kontrollinstrumente erlassen, auf dessen Grundlage deutsche Behörden Schiffsbesichtigungen durchführen dürfen, um zu prüfen, ob die internationalen Vorschriften zur Schiffssicherheit, zum Meeresumweltschutz und zu den Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten eingehalten werden." Dafür müsse ein Schiff sich aber in einem Hafen befinden.
Hafenstaatskontrolle: "Schärfstes Instrument"
Auch Sicherheitsexperte Peters sieht mit Blick auf die Schattenflotte in der Hafenstaatskontrolle "das schärfste Instrument, das derzeit zur Geltung gebracht werden könnte." Es gelte, so viele Informationen wie möglich bekommen, um dieses System besser zu verstehen. "Es muss rechtlich konform sein, aber es muss für die Reeder und die Flaggenstaaten unbequem werden."
Mittlerweile 79 Schiffe auf EU-Sanktionsliste
Bislang greifen die NATO-Ostseestaaten auf bewährte Mittel wie Sanktionen und Schutzmaßnahmen zurück. Eine Ausweitung der Sanktionen wäre ein Mittel, das bereits mehrfach zur Anwendung gekommen ist. Die EU-Sanktionen betreffen insgesamt 79 Schiffe. Experten blicken mit Interesse auf die Auswirkungen eines US-Sanktionspakets, das vor rund einer Woche aktiviert wurde. Es zielt auf gleich 183 Schiffe, die teils der russischen Schattenflotte zugerechnet werden. Zudem prüft das Bundesverkehrsministerium, künftig den Versicherungsnachweis der Schiffe stärker in den Blick zu nehmen.
Die NATO will unterdessen die Überwachung in der Ostsee verstärken - unter anderem mit der Mission Baltic Sentry, die vom maritimen Hauptquartier Commander Task Force-Baltic (CTF) in Rostock gesteuert wird. An der Operation werden Fregatten und Seeaufklärungsflugzeuge beteiligt sein, um die kritische Infrastruktur zu schützen. Ein solcher Überwachungseinsatz im Rahmen einer NATO-Mission eines französischen Aufklärungsflugzeugs am Donnerstag über der Ostsee könnte einen Vorgeschmack dafür geliefert haben, wie sich die Lage weiterentwickelt. Die Maschine wurde vom Feuerleitradar einer russischen Flugabwehrraketenstellung anvisiert. "Diese aggressive russische Handlung ist nicht akzeptabel", schrieb Frankreichs Verteidigungsminister Sébastien Lecornu auf "X".