VIDEO: Rügen: Havarierter Öltanker "Eventin" weiter manövrierunfähig (7 Min)

Schattenflotte: "Asymmetrische Waffe" in Putins hybridem Krieg

Stand: 11.01.2025 21:38 Uhr

Sanktionsumgehung, Spionage, Sabotage: Jüngste Vorfälle in der Ostsee legen nahe, dass die russische Schattenflotte offenbar eine größere Rolle in Putins Krieg spielt als bislang angenommen. Das setzt Ostseeanrainer und NATO unter Zugzwang.

von Henning Strüber und Martin Möller

Bei klarer Sicht kann man sie am Horizont sehen, wenn man an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns steht und nach Norden blickt: Tag für Tag passieren die Küste bis zu einem Dutzend Schiffe, meist Tanker, die die russischen Ostsee-Häfen Ust-Luga und Primorsk ansteuern oder von dort kommen. Ein Teil dieser Schiffe wird der sogenannten Schattenflotte zugerechnet - meist ältere, teils marode Tanker mit undurchsichtigen Eigentumsverhältnissen, häufig wechselnden Namen und Flaggenstaaten und zweifelhaftem Versicherungsschutz. Ihr Auftrag: Russisches Rohöl und Ölprodukte an Abnehmer rund um den Erdball zu bringen - und die mit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verhängten Sanktionen der USA, Großbritanniens und der EU sowie die Ölpreisgrenze zu umgehen. Die Schattenflotte-Tanker befahren das enge Fahrwasser der Kadetrinne zwischen dem Fischland und dem dänischen Gedser meist ohne Lotsen, obwohl es dort in den vergangenen Jahrzehnten zu Kollisionen gekommen ist und etliche Schiffe auf dem Gedser Riff auf Grund gelaufen sind.

Schattenflotte umfasst mehrere hundert Schiffe

Der britische maritime Informationsdienst "lloydslist.com" rechnet für die Schattenflotte mit bis zu 460 Tankern, die Umweltschutzorganisation Greenpeace listet 192 Schiffe. 171 davon sind laut Greenpeace in den vergangenen zwei Jahren einmal oder öfter durch die deutsche Ostsee und das Seegebiet der Kadetrinne. Auch die vor der Urlaubsinsel Rügen gerade havarierte und mit 99.000 Tonnen Rohöl beladene "Eventin" steht auf dieser Liste.

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Der Öl-Tanker "Eventin" ist manövrierunfähig vor der Küste von Rügen. © Screenshot

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"Man will sich nicht ausmalen, welche Folgen ein massives Unglück haben würde", sagt der Chef des Landestourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern, Tobias Woitendorf. Im Jahr 2001 waren bei der Kollision der "Baltic Carrier" mit der "Tern" in der Kadetrinne lediglich 2.700 Tonnen Schweröl ausgetreten, aber die Folgen waren dramatisch - 50 Kilometer verschmutzter Küste und tausende toter Seevögel. Die Reinigungsarbeiten dauerten Monate. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erklärte, dass Russland "mit dem ruchlosen Einsatz einer Flotte von rostigen Tankern billigend in Kauf nimmt, dass der Tourismus an der Ostsee zum Erliegen kommt".

Schätzungen gehen davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der weltweiten Tankerkapazitäten der Schattenflotte angehören. Genaue Angaben sind schwierig, weil immer wieder wechselnde Schiffe eingesetzt werden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden seit 2022 bislang knapp 80 Schiffe von der EU sanktioniert. Neue Sanktionspakete sollen in Vorbereitung sein.

Russische Öl-Ausfuhr über die Ostsee seit 2022 massiv erhöht

Doch trotz der Sanktionen gelingt es Russland weiterhin, enorme Mengen an Öl zu exportieren. Der ukrainische Thinktank KSE Institute geht in seiner Prognose für 2024 von russischen Einnahmen durch Öl in Höhe von 193 Milliarden US-Dollar aus. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungshaushalt Deutschlands umfasst knapp 52 Milliarden Euro. Gerade die russische Öl-Ausfuhr über die Ostsee hat sich seit 2022 massiv erhöht. Laut manchen Schätzungen läuft mittlerweile rund ein Drittel des gesamten russischen Ölexports über die Ostsee - ausgehend von den beiden großen Energiehäfen Ust-Luga und Primorsk und abgewickelt auch mit Schiffen der Schattenflotte, die so einen wichtigen Beitrag für die Finanzierung des kostspieligen russischen Abnutzungskrieges in der Ukraine leistet.

Elf Kabel in Ostsee beschädigt: Erstmals Verbindung zu Schattenflotte

Jüngste Vorfälle in der Ostsee legen nahe, dass die Schattenflotte zudem eine wichtige Rolle in Russlands hybridem Krieg gegen den Westen spielt - neben Instrumenten wie Desinformation, Wahlbeeinflussung und Cyberangriffen. Darauf deutet etwa der jüngste Fall einer mutmaßlichen Kabelsabotage zwischen Finnland und Estland hin. Dabei wurde unter anderem die Stromleitung "Estlink 2" beschädigt. Unter Verdacht steht der Öltanker "Eagle S". Russland zeige immer deutlicher den Willen, die Situation in der Ostsee zu eskalieren, kommentierte der finnische Militärhistoriker Emil Kastehelmi auf "X".

Es war der dritte Vorfall dieser Art in der Ostsee, bei der Schiffe ihre Anker auf den Grund herabließen und so Leitungen durchtrennten oder beschädigten. Seit Herbst 2023 sind davon elf Strom- und Datenkabel sowie Pipelines betroffen gewesen. Dass ein solcher mutmaßlicher Sabotageakt nun erstmals mit einem Schiff der russischen Schattenflotte - die EU rechnet die "Eagle S" dazu - in Verbindung gebracht wird, verleiht dem Fall Brisanz. Denn neben der zivilen Funktion der Schattenflotte als Mittel zur Sanktionsumgehung offenbart sich nun auch eine militärische. Dies macht die Schiffe zu einer Bedrohung der kritischen Infrastruktur in der Ostsee.

Schattenflotten-Tanker als Startbasis für Drohnen?

Darüber hinaus verdichten sich Hinweise, dass Schattenflotten-Schiffe auch zur Spionage eingesetzt werden. Der Informationsdienst "lloydslist.com" berichtet unter Berufung auf eine mit den Vorgängen befasste Quelle von einer Sicherheitsinspektion der "Eagle S" vor Dänemark, bei der im Juni 2024 hochwertige Abhör- und Empfangsgeräte entdeckt worden sein sollen, mit der die NATO-Kommunikation in der Ostsee abgehört werden könnte. Auch eine Person, die nicht zur Besatzung gehörte, sei angetroffen worden.

Wie der NDR aus Sicherheitskreisen erfuhr, sollen Tanker der Schattenflotte in der Ostsee zudem als Operationsbasis für russische Aufklärungsdrohnen genutzt worden sein. Das würden Abgleiche der Positionsdaten bestimmter Schiffe mit Meldungen über Drohnensichtungen nahelegen, heißt es. In Sicherheitskreisen wird vermutet, dass auch die Drohnenüberflüge am NATO-Stützpunkt in Geilenkirchen sowie über Industrieanlagen in Brunsbüttel mit der Schattenflotte in Verbindung stehen könnten.

"Asymmetrische Waffe" setzt Ostseeanrainer und NATO unter Zugzwang

Laut dem Experten für maritime Sicherheit bei der Beratungsfirma Nexmaris, Moritz Brake, gibt es immer mehr Hinweise, dass die Handelsschiffe der Schattenflotte "als asymmetrische Waffe" missbraucht werden. "Diese Schiffe müssen ins Augenmerk unserer Behörden und müssen auch auf schwarze Listen gesetzt werden, sobald sich Verdachtsmomente erhärten", sagte Brake dem NDR.

Das Bedrohungspotenzial wird zunehmend auch von der Politik erkannt und artikuliert. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sprach sich jüngst für eine "Änderung der internationalen Regeln" aus, um wirksamer gegen die Schiffe der Schattenflotte vorgehen zu können. "Marode, alte Schiffe haben nichts auf unserer Ostsee zu suchen. Sie bedrohen die Sicherheit, sie bedrohen den Umweltschutz."

Die Ostseeanrainer und die NATO nehmen das Thema sehr ernst. Auch der Gipfel der Ostseeanrainer am kommenden Dienstag in der finnischen Hauptstadt Helsinki, an dem auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und NATO-Generalsekretär Mark Rutte teilnehmen, will sich damit befassen.

Suche nach Gegenmaßnahmen

Wie der NDR aus Sicherheitskreisen erfuhr, werden derzeit Bemühungen intensiviert, "in dem vielschichtigen Problemraum Ostsee-Sicherheit rechtlich konforme Lösungen zu finden". Doch wie könnten diese aussehen? Forderungen wie eine komplette Blockade der Ostsee für Schattenflotten-Tanker stehen dem Seerecht entgegen und könnten im schlimmsten Fall als kriegerischer Akt aufgefasst werden, heißt es.

In Dänemark sind Behörden bereits beauftragt worden zu prüfen, welche Maßnahmen den Bestimmungen des Seerechts entsprechen und zugleich praktisch anwendbar sind. In der Diskussion wurden Vorschläge laut, wie etwa den NATO-Artikel 4 zu aktivieren, der Beratungen der Bündnispartner nach schwerwiegenden militärischen Vorfällen vorsieht; auch eine Lotsenpflicht für solche Schiffe wird immer wieder genannt. Der dänische Militärgeheimdienst FE kommt in einem aktuellen Dossier zu dem Schluss, dass Russland dann die Tanker der Schattenflotte auch durch dänische Gewässer von Kriegsschiffen eskortieren lassen könnte. "Dies würde die Spannungen erhöhen", so das Fazit des Papiers.

Sind Durchfahrtsverbote für die Ostsee möglich?

"Wir müssen uns dringend Gedanken machen, wie wir handlungsfähiger werden, wenn wir mit Schiffen der Schattenflotte umgehen. Wenn der Havarist zum Beispiel nicht kooperiert oder sich außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer befindet und möglicherweise auch noch zusätzlich kritische Infrastrukturen gefährdet", sagt Sicherheitsexperte Brake. Er hält konkrete Durchfahrtsverbote für Schattenflotten-Schiffe durch die Ostsee für machbar. Sie stünden durchaus im Einklang mit dem geltenden Seerecht und dem Völkerrecht, wenn gegen die Schiffe gewichtige Verdachtsmomente vorliegen. Doch um diese zu bekommen, sei es unerlässlich, "Informationen zu sammeln, zu bündeln und dann auch schnell entsprechende Mittel einzusetzen".

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Das Schiff "Turva" (vorne) des finnischen Grenzschutzes und der der russischen Schattenflotte zugerechnete Öltanker "Eagle S" auf der Ostsee nahe Porkkalanniemi (Finnland) am 26. Dezember 2024. © Finnish Border Guard LEHTIKUVA / HANDOUT / RAJAVARTIOSTO // FINNISH BORDER GUARD Foto: Finnish Border Guard LEHTIKUVA / HANDOUT / RAJAVARTIOSTO // FINNISH BORDER GUARD

Ermittler bergen Anker der "Eagle S"

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Experte: Finnlands Umgang mit "Eagle S" beispielgebend

Das Vorgehen der finnischen Behörden gegen die der Kabelsabotage verdächtigte "Eagle S" sei dafür beispielgebend, so Brake. Trotz der Weihnachtstage war es den finnischen Behörden gelungen, rasch Maßnahmen einzuleiten, das verdächtige Schiff zu beschlagnahmen und in einen finnischen Hafen zu überführen, wo es nun untersucht und die Besatzung vernommen wird.

Grundlegend für ein wirksames Vorgehen sind laut Brake rechtliche Handlungssicherheit und eine effiziente Koordination zwischen Marine, Bundespolizei und anderen beteiligten Behörden. Denkbar sei auch ein Mandat für die Ostsee durch EU und NATO, das Kriegsschiffen gestattet, Aufgaben wahrzunehmen, die in Friedenszeiten eigentlich der Küstenwache zufallen. Denn die Deutsche Marine dürfe trotz der Nichteinhaltung von Sicherheits- und Umweltschutzstandards nicht einfach gegen Schattenflotten-Schiffe vorgehen.

NATO aktualisiert Strategie gegen hybride Kriegführung

Derweil wird bei der NATO an einer Aktualisierung der Strategie zur Verfolgung und Abschreckung hybrider Kriegsführung gearbeitet. Sie soll im Laufe dieses Jahres verabschiedet werden. Die derzeit gültige Strategie stammt noch aus dem Jahr 2015. In einem Interview mit dem Sender "Sky News" sagte der dafür zuständige NATO-Funktionär James Appathurai, die NATO-Mitgliedstaaten befänden sich bereits in einer "heißen Lage". Die mutmaßlichen russischen Hybridangriffe hätten ein Ausmaß erreicht, das noch vor fünf Jahren "völlig inakzeptabel" gewesen wäre.

Vorerst belässt es das Bündnis dabei, seine Präsenz in der Ostsee zu verstärken, um so zum einen vor weiteren Angriffen abzuschrecken und außerdem ein besseres Lagebild zu erhalten. Laut dem finnischen Portal "Yle" sollen als Reaktion auf die mutmaßliche Kabelsabotage im Golf von Finnland zehn weitere NATO-Kriegsschiffe in die Ostsee entsandt werden.

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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 11.01.2025 | 19:30 Uhr

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