Frust bei Zensus-Verlierern: Heringsdorf kämpft ums Geld
Der Zensus 2022 zählte mehr als 2.000 Menschen weniger in der Gemeinde, als beim Meldeamt registriert sind. Die Folge für Heringsdorf: Die Gemeinde muss künftig mit weniger Landeszuschüssen auskommen.
Im Oktober haben die Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern ihren Zensusbescheid bekommen. Das Ergebnis der sogenannten Volkszählung - dem Zensus 2022 - war jedoch für viele Bürgermeister überraschend und ernüchternd. Oft sollen in den Gemeinden weniger Menschen leben als im kommunalen Meldeamt registriert. Die Folgen für diese Gemeinden sind gravierend. Sie müssen künftig mit weniger Landeszuschüssen auskommen.
In Heringsdorf sind mehr als 2.000 Menschen "verschwunden"
Die amtsfreie Gemeinde Ostseebad Heringsdorf (Kreis Vorpommern-Greifswald) hat es besonders hart getroffen. Laut Zensus lebten in dem Ostseebad zum Stichtag 15. Mai 2022 knapp 6.000 Menschen. Dagegen zählte die Meldebehörde der Gemeinde mehr als 8.400 Einwohner, die in den Ortsteilen Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin ihren Hauptwohnsitz haben. Dem aktuellen Zensus nach sei in der Gemeinde somit knapp jeder dritte Einwohner verschwunden, erklärt Bürgermeisterin Laura-Isabell Marisken: "Die Zahlen sind ja so abstrus, dass man schon Witze machen kann. Es wird zum Beispiel gesagt, wir sind hier das neue Bermudadreieck. Aber Spaß beiseite, das Ganze hat immense finanzielle Folgen."
Einige Bewohner mit dem Zensus-Formular überfordert
Warum die Zahlen des Zensus so stark von denen des Melderegisters abweichen, bleibt für Marisken unklar. Über die Gründe kann sie nur spekulieren. Einwohner hätten ihr erzählt, dass sie beim Ausfüllen des Formulars überfordert waren und deshalb nicht geantwortet hatten. Auch Vermieter, die Auskunft über ihre Immobile geben mussten, wussten oftmals nicht, wie viele Menschen überhaupt in der vermieteten Wohnung leben.
Heringsdorf bekommt künftig 930.000 Euro weniger
Im Rathaus in Ahlbeck ist mittlerweile klar, welche Auswirkungen der Zensusbescheid auf die Gemeinde haben wird. Demnach muss Heringsdorf auf rund 930.000 Euro im Jahr an Schlüsselzuweisungen verzichten, also zustehendes Steuergeld, das vom Land pro Kopf ausgezahlt werden muss.
Gemeinde muss künftig den Gürtel enger schnallen
Die Gemeinde muss nun abwägen, was sie sich noch leisten will und kann. Bei Pflichtaufgaben, wie etwa die Freiwillige Feuerwehr auszustatten ist oder die Verwaltung organisiert wird, könne sie den Rotstift nicht ansetzen, erklärt die Bürgermeisterin. Somit bleiben nur Kürzungen bei freiwilligen Leistungen übrig, beispielsweise im Jugendfreizeitzentrum oder bei der Vereinsunterstützung. Auch müsse sich die Gemeinde überlegen, welche Investitionen sinnvoll sind. Die Gemeindevertreter werden es künftig noch schwerer haben, zu entscheiden, welcher Gehweg und welche Straße saniert werden kann.
Keine Einsparungen bei Strand und Promenade
Davon nicht betroffen sind Strand und Promenade. Alle zehn, zwanzig Meter steht eine Parkbank, Blumenrabatten sind bepflanzt und auch kulturell werden dort Urlauber unterhalten. In der touristisch geprägten "ersten Reihe" werden diese Dinge über die Kurabgabe bezahlt, nicht über den kommunalen Haushalt. Somit gibt es einen sichtbaren Unterschied zum übrigen Teil des Seebades. Dieser Unterschied, so fürchtet Marisken, könnte zur weiteren Unzufriedenheit in der Gemeinde führen.
Wo sind die freien Wohnungen
Das Zensusergebnis hat nicht nur Auswirkungen auf die Gemeindekasse. Es bescheinigt Heringsdorf zugleich einen Wohnungsleerstand von acht Prozent. Dabei ist seit Jahren die Wohnungsnot in der Gemeinde bekannt, Einheimische finden kaum Wohnungen, Unternehmen gewinnen deshalb oft nur schwer neue Fachkräfte. Bürgermeistern Marisken nennt als Leerstandsquote ein Prozent. Freie Wohnungen gibt es eigentlich nur, wenn jemand die Insel Usedom verlässt oder verstirbt. In Heringsdorf fragt man sich, ob eine vom Zensus errechnete Quote von acht Prozent Wohnungsleerstand Investoren nicht eher abschreckt.
Mehr als 150 Klagen zeigen "Fehler im System"
Nicht nur dem Ostseebad Heringsdorf sind durch den Zensus 2022 deutlich weniger Einwohner bescheinigt worden. Auch Kommunen wie beispielsweise Stralsund, Wittenburg, Neubrandenburg, Ahrenshoop, Prerow, Malchin, Goldberg, Greifswald und Neustadt-Glewe haben ähnliche Bescheide bekommen. Deshalb ziehen sie alle nun vor Gericht. Bislang sind bei den beiden Verwaltungsgerichten im Land, in Schwerin und Greifswald, insgesamt 155 Klagen eingereicht worden. Darunter sind auch Ämter, die gemeinsam mit ihren Gemeinden Klage erhoben haben, wie etwa das Amt Schönberger Land. Heringsdorfs Bürgermeisterin Marisken bezeichnet diese Verfahren als "Irrsinn": "Diese Anzahl an Klagen zeigt ja, dass es einen großen Fehler im System gab bei der Erhebung." Für sie steht fest, die Verfahren bedeuten einen erheblichen und teuren Aufwand, sowohl in den kommunalen Verwaltungen als auch in der Justiz. In anderen Bundesländern seien nach Kritik am Zensus Verfahren auf Eis gelegt worden und würden nun erneut geprüft. Widerspruchsverfahren zum Zensus sind in Mecklenburg-Vorpommern dagegen nicht vorgesehen.
Entscheidung in Gerichtsverfahren nicht vor 2026 erwartet
Wann in den Hauptsacheverfahren entschieden wird, sei nicht klar, heißt es vom Verwaltungsgericht Greifswald, bei dem allein 114 Klagen gegen den Zensusbescheid eingegangen sind. Experten rechnen mit langwierigen Verfahren. Sie erwarten eine Entscheidung der Gerichte nicht vor 2026.