Ein Jahr Krieg: Das Leben von Ukraine-Flüchtlingen in MV
Seit fast einem Jahr ist Krieg in der Ukraine. Der Angriff Russlands wirkt indirekt bis nach Mecklenburg-Vorpommern. Seit einem Jahr helfen Menschen hier denjenigen, die vor Bomben und Tod geflohen sind.
Radewitz im Landkreis Vorpommern-Greifswald. 60 Einwohner, ein Schloss im Dornröschenschlaf, die Autobahn A11 rauscht manchmal leise im Hintergrund. An der Bushaltestelle lugt ein Pferd über den Zaun der Koppel nebenan. Am Spielplatz wehen eine deutsche und eine ukrainische Flagge. Der kleine Ort gehört zur Stadt Penkun, ganz tief im Südosten von Mecklenburg-Vorpommern. Seit gut einem Jahr leben hier viele neue Nachbarn, 28 sind es gerade. Menschen aus der Ukraine, die jetzt Radewitzer sind.
Radewitz: Ein Dorf packt an
Als im Frühjahr 2022 die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine in Mecklenburg-Vorpommern ankamen, war für viele Radewitzer klar: Sie wollen helfen. Martina Kollhoff hat mit angepackt. "Unsere Vorstellungen waren erst mal: das erste große Helfen, dass die Leute von der Straße kommen und irgendwo untergebracht waren", berichtet sie. In zwei Wohnblöcken haben die Radewitzer sieben Wohnungen wieder hergerichtet, haben geräumt, geschraubt, gebaut, geputzt. Die Wohnungen hatten lange leer gestanden.
"Es gibt Leute, die warten tatsächlich schon seit letztem Jahr, seitdem sie hier sind, dass sie zum Sprachkurs überhaupt eingeladen werden." Flüchtlingsbetreuer Stefan Wittig
Hier lebt nun auch Mariana Datsiuk (37) mit ihren drei Söhnen. Illia ist einer von ihnen. Er spielt gern Fußball, beim Hallenturnier des Penkuner SV Rot-Weiß hat er überzeugt. Urkunde und Trophäe belegen: Illia war der beste Spieler des Turniers. Nachmittags kicken, vormittags Schule.
5.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine lernen nun in MV
Illia in Radewitz ist einer von 5.180 Schülerinnen und Schülern, die aus der Ukraine stammen und jetzt an den Schulen in Mecklenburg-Vorpommern lernen. Ende Januar besuchten 4.600 Jungen und Mädchen Klassen an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen, gut 550 junge Leute haben Unterricht an beruflichen Schulen, teilt das Bildungsministerium mit. Kinder aus anderen Ländern, die neu in die Schulen im Nordosten kommen, landen zunächst in so genannten Vorklassen. Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Altersstufen lernen zusammen Deutsch – und wie das Schulsystem hier funktioniert. "Ziel ist, dass alle Schülerinnen und Schüler zunächst die deutsche Sprache erlernen können, um dann gut vorbereitet an der Regelbeschulung teilnehmen zu können", schreibt das Ministerium. Ende Januar gab es demnach 99 Klassen an 70 Schulen in Mecklenburg-Vorpommern.
Hürden für Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt
Zinnowitz auf Usedom: im Wintergarten des Hotels Vineta deckt Hanna Liubinetska den Tisch, rückt Servietten zurecht, legt akkurat Messer und Gabeln daneben. Draußen schlendern ein paar Spaziergänger vorbei. Ein grauer Wintertag im Urlauberparadies. Nur 1.200 Kilometer Luftlinie weiter südlich ist Krieg. Hannas Heimat ist Kiew. In der Hauptstadt der Ukraine leben ihr Mann und ihre Mutter. Vor gut zwölf Monaten hat die 29-Jährige ihre Familie verlassen. Hannas Mann hatte sie darin bestärkt, sich in Sicherheit zu bringen. Ziel: Das Hotel auf Usedom.
Hier hat sie schon oft gearbeitet, vier Sommer lang. Eine gute Ergänzung war das zu ihrem Touristikstudium in der Ukraine. Der Abschluss dort ist hier an der Ostseeküste aber nichts wert. Darum macht Hanna nun eine Ausbildung. Hotelchef Krister Hennige hat ihr das angeboten. "Wenn man als Reisender unterwegs ist, dann spielt die Herzlichkeit, die Freundlichkeit, die Aufmerksamkeit und natürlich auch die Qualität eine große Rolle; und die ist international", sagt Hennige. Drei Monate hat es gedauert, bis Hanna ihre Lehre starten durfte. Erst dann lagen alle Genehmigungen vor, sagt Hennige: "Da müsste die deutsche Bürokratie etwas zurückrudern und bei solchen Berufen keine riesigen Anerkennungsprozesse machen. Das, was wir jetzt mit Hanna durchhaben, hat dank der IHK in Neubrandenburg drei Monate gedauert mit der Unterstützung, aber die drei Monate wären gar nicht notwendig gewesen."
Hanna sagt, sie versteht einerseits die deutschen Bedenken, andererseits sei sie ja nun auch schon fast 30 Jahre alt. Aber wenn es eben sein muss, dann geht sie eben noch mal zur Schule.
Jobs in Restaurants und beim Wachdienst
4.600 Arbeitslose mit ukrainischer Staatsangehörigkeit gibt es derzeit in Mecklenburg-Vorpommern. Das sind 4.400 mehr als vor einem Jahr. 840 Menschen haben im vergangenen Jahr einen Job gefunden, vor allem in der Gastronomie, bei Sicherheitsdiensten, bei der Gebäudebetreuung und im Garten- und Landschaftsbau. 3.300 Ukrainerinnen und Ukrainer haben einen Ausbildungsplatz gefunden. Im Januar gab es dadurch gut 3.400 Menschen aus der Ukraine, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hatten. Diese Zahl hat sich innerhalb der letzten zwölf Monate fast verdreifacht.
Oksana Yarynych (39) arbeitet jetzt in einer Rostocker Schule als Alltagshelferin. Sie ist angekommen in der Hansestadt. Die ersten Monate hat sie bei Alina Sentek verbracht. Die Rostockerin hatte zwei Flüchtlingsfamilien aufgenommen in ihrer Wohnung. Oksana und ihr Sohn Andrii (7) leben inzwischen in einer eigenen Wohnung, aber Oksanas Mann, Andriis Vater, ist in der Ukraine geblieben, er ist im Kriegseinsatz.
Wenn Sprachkurse fehlen, helfen Übersetzer-Apps
Die deutsche Sprache ist für Oksana und ihren Nachwuchs kein großes Problem mehr. In Radewitz ist das anders. Hier helfen Übersetzer-Apps auf dem Handy. Juristin Mariana Datsiuk hofft, dass sie irgendwann zurückkehren kann mit ihren drei Kindern, zurück in die Ukraine - trotz ihrer Dankbarkeit für die Hilfe, die sie in dem Dorf bekommen hat. Heimweh eben.
Der Krieg dauert – und damit haben manche Flüchtlinge vor einem Jahr nicht gerechnet, erinnert sich auch Helferin Martina Kollhoff: "Ich weiß, dass wir damals ganz viel Bekleidung verteilt haben, oder sie sich welche ausgesucht haben, und dass sie am Anfang immer gesagt haben: T-Shirts brauchen wir nicht. Das sind Sommersachen. Da sind wir wieder zu Hause. Inzwischen sind sie ein ganzes Jahr hier, brauchen schon die nächste Größe für die Kinder."
Flüchtlingsbetreuer helfen bei Behördengängen
Es ist eine unerwartete Form des Alltags für die Menschen in Radewitz – und eine Aufgabe für Stefan Wittig, Flüchtlingsbetreuer bei der Caritas. Er spricht Russisch, kümmert sich um den ganzen Schreibkram, hilft den Ukrainern bei Anmeldungen, Anträgen, Arztterminen, und beim Wichtigsten: dass sie an das Geld kommen, das ihnen zusteht.
Aus Wittigs Sicht ist "nach dem anfänglichen Schrecken, dem darauf folgenden Enthusiasmus, jetzt der Alltag eingekehrt". Wittig spricht gar von einer gewissen Art von Langeweile. Dabei sehnen sich die Neu-Radewitzer nach einem Sprachkurs. "Die würden alle wollen. Radewitz ist nun etwas weit ab vom Schuss. Aber sowohl die Anfahrt zu den Sprachkursen ist problembehaftet, als auch die Kurse müssen erst mal als Plätze vorhanden sein. Das heißt: Es gibt Leute, die warten tatsächlich schon seit letztem Jahr, seitdem sie hier sind, dass sie zum Sprachkurs überhaupt eingeladen werden."
Und nur wer Deutsch spreche, sagt der Flüchtlingsbetreuer, habe auch eine Chance, hier richtig Fuß fassen zu können, einen Job zu bekommen. Doch wann es hier - im äußersten Zipfel von Mecklenburg-Vorpommern - den nächsten Sprachkurs geben wird? Stefan Wittig gibt die Hoffnung nicht auf: "Vielleicht im Sommer?"