Psychiatrische Hilfe: Was tun gegen den "Drehtür-Effekt"?

Stand: 11.10.2023 09:00 Uhr

Für psychisch schwer Erkrankte gibt es zahlreiche Hilfsangebote. Das Problem: Wie in einem Kreislauf folgt häufig ein Klinikaufenthalt dem nächsten. Es fehle nachhaltige individuelle Hilfe, kritisieren Psychiater und Betroffene.

von Lisa Hentschel

Starke Schmerzmittel, Heroin - der 19-Jährige, den wir Kai* nennen, hat das alles genommen. Seine Geschichte erzählt er so: Mit 13 das erste Mal in eine stationäre Klinik, mit der Diagnose Depression. Geschlossene Klinikaufenthalte wegen Eigengefährdung, Wohngruppen, Einzeltherapien - all das durchläuft er im Wechsel, jahrelang. "Da gab's niemanden, der mir das Gefühl gibt, ich könne den Kreislauf durchbrechen", erzählt er.

Ein junger Mann steht an einem Baum angelehnt vor einem Fluss und blickt aufs Wasser. Zu sehen ist sein Rücken. Er trägt einen dunkelblauen Mantel. © NDR Foto: Lisa Hentschel
AUDIO: Psychiatrische Hilfen für schwer Erkrankte: Drehtür-Effekte vermeiden (5 Min)

Der Hamburger bricht Therapien ab, wird rückfällig, startet den nächsten Entzug, kommt in die nächste Klinik. Ein Teufelskreis mit "alten Bekannten". "Da bildet sich eine richtige Subkultur." Eine, die sich von innen bestätigt: "Wer hat die härtesten Drogen genommen, wer die meisten Suizidversuche hinter sich?" Sich im eigenen Leid suhlen. Und sich genau damit identifizieren. So beschreibt es Kai und sagt: "Ohne individuelle Hilfe kommt da kaum jemand raus."

"Drehtür-Patienten": Ein Problem ohne Namen

Psychisch schwer Erkrankte wie Kai*, die wieder und wieder in psychiatrische Kliniken kommen, nannte man früher "Drehtür-Patienten". Heute fällt der Begriff nur hinter vorgehaltener Hand.

Iris Hauth, Leiterin des Alexianer St. Joseph Krankenhauses in Berlin-Weißensee, findet, wer den Begriff "Drehtür-Patient" verwendet, vermittele den Eindruck, Kliniken und Patienten seien "die Schuldigen". "Und das finde ich nicht zeitgemäß und sehr schwierig, weil sich in den letzten Jahren durchaus etwas verändert hat." Ein Beispiel, das Hauth nennt: die Verweildauer.

Dr. med Iris Hauth, Ärztliche Direktorin des Alexianer St. Joseph Krankenhauses, sitzt in einem Zimmer und lächelt in die Kamera. Sie trägt einen blauen Blaser, im Hintergrund eine blaue Balkontür. © NDR Foto: Lisa Hentschel
Dr. med Iris Hauth, Ärztliche Direktorin des Alexianer St. Joseph Krankenhauses, sieht den Gesetzgeber in der Pflicht.

24 Tage Klinikaufenthalt am Stück seien es mittlerweile deutschlandweit im Schnitt, deutlich weniger als noch vor 20 Jahren. Doch 2006 habe es dazu eine Studie gegeben, mit dem Ergebnis: "Zu kurze Verweildauern sind natürlich auch nicht gut. Wenn jemand zu früh wieder geht, ist das Risiko natürlich schon höher, dass der Patient noch nicht stabil genug für die ambulante Behandlung ist."

Mit anderen Worten: Das Problem des "Drehtür-Effekts" bleibt bestehen - nur ohne Namen? Das Gehen und Kommen sei nicht so schwarz-weiß, so die Medizinerin. Beispielsweise bei Suchterkrankten - insbesondere bei Jüngeren - dauert es laut Hauth, bis eine langfristige Heilung einsetze. Und Suchterkranke seien neben Menschen mit Depressionen und Psychosen diejenigen, die am häufigsten in psychiatrische Kliniken zurückkämen.

"Drehtür-Effekt": Wer ist betroffen?

Doch wie viele psychisch schwer Erkrankte sind konkret betroffen? Wer nach bundesweiten, aktuellen Zahlen sucht, stößt an Grenzen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung verweist an den Verband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Der wiederum schreibt von fehlenden Daten. Aus der Gesundheitspolitik heißt es, "ab 2024" soll es eine Datenbank zu Forschungszwecken geben. Bis dahin seien Forschende auf die Zusammenarbeit mit Krankenkassen angewiesen, erzählen Psychiater.

Die zehn größten deutschen Kliniken und Fachabteilungen für die Allgemeine Psychiatrie schreiben auf NDR Anfrage, Daten seien nicht vergleichbar, berücksichtigen müsse man auch Tagesaufenthalte und Intervalltherapien. Kurzum: Das Thema sei "sehr komplex", "heterogen", die Fragen nicht beantwortbar.

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Und ohne Datengrundlage blieben Probleme offiziell unbekannt, fehle der Druck, etwas in der Praxis zu ändern, lauten Vorwürfe von Ärzten. Dabei hat sich das Bundesgesundheitsministerium das Thema "Hilfen für psychisch schwer Erkrankte" längst auf die Fahne geschrieben, Reformen auch im Bereich ambulanter Therapien gestartet. Und: Der so genannte "Gemeinsame Bundesausschuss" (G-BA) hat eine neue Richtlinie eingeführt. Das Ziel: Den stationären und ambulanten Bereich besser zu vernetzen. In der Praxis sei die Richtlinie nicht umsetzbar, kritisieren Psychiater. Vom G-BA heißt es auf NDR Anfrage, man prüfe, ob die Richtlinie gegebenenfalls anzupassen sei.

"Regionales Psychiatriebudget": Lösung auf Zeit?

Ein weiterer Lösungsansatz ist das "Regionale Psychiatriebudget". Das älteste dieser Art gibt es in Itzehoe, in Schleswig-Holstein. Das dortige Klinikum hat sich verpflichtet, den Kreis Steinburg mit psychiatrischer Hilfe zu versorgen - und bietet einfach alles selbst an, vollstationäre bis ambulante Hilfe. Sprich: Liegt keine Eigen- oder Fremdgefährdung vor, kann die psychiatrische Hilfe auch zum Patienten nach Hause kommen, je nach Bedarf. Und das in einem Zweierteam, darin auch ehemals Betroffene, im Notfall innerhalb von 24 Stunden.

"Das hilft beispielsweise auf dem Land, Frauen, die frisch entbunden haben, aber auch Menschen, die in psychiatrischen Kliniken schlechte Erfahrungen gemacht haben", erklärt Birgit Molitor. Die Ärztin ist von Anfang an mit dabei und betont: Die Gespräche seien auf Augenhöhe und integrierten Bezugspersonen. So könnte es im Idealfall erst gar nicht zu einem "Drehtür-Effekt" bei Patienten kommen.

"Gesetzgeber ist in der Pflicht zu verpflichten"

An einem Tisch in einem Wohnzimmer sitzen vier Personen, zwei davon in Blikrichtung, im Vordergrund des Bildes ist die Kamera, die die Szene filmt. © NDR Foto: Lisa Hentschel
Hilfe zu Hause, angeboten von der psychiatrischen Klinik selbst: In Itzehoe ist das seit mehr als 20 Jahren ein Modell "auf Zeit".

Doch das "Regionale Psychiatriebudget" ist ein Modellprojekt, seit mehr als 20 Jahren. Heißt für die Praxis: Verträge mit Krankenkassen laufen aus, müssen neu verhandelt werden. Eine "Lösung auf Zeit". Jens Reimer, stellvertretender Ärztlicher Direktor am Klinikum Itzehoe, macht deutlich: "Wir erwarten, dass es in die Regelversorgung übergeht und wir dann Planungssicherheit haben". Vom Bundesgesundheitsministerium heißt es auf NDR Anfrage schriftlich, man evaluiere diese Modellprojekte. Doch das dauere noch an.

Iris Hauth, Klinikleiterin in Berlin, betont, selbst mit dem Beispiel aus Itzehoe sei man nicht am Ende angekommen: "Man müsste auch die niedergelassenen Psychotherapeuten einbeziehen, um wirklich eine Vernetzung hinzukriegen."

Ihre Klinik ist Teil des "Gemeindepsychiatrischen Verbunds Berlin-Pankow". In diesem kommen ambulante und stationäre Träger zusammen, mit einem Ziel: Den Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, inklusive Arbeits- und Wohnsituation. Ein zusätzliches Hilfsangebot, das individuelle, langfristige Hilfe für psychisch schwer Erkrankte anstrebt - eben, damit diese nicht mehr durchs Raster fallen.

"Der nächste Schritt wäre für mich, alle Player in einem solchen Netzwerk zu verpflichten, zusammenzuarbeiten", sagt nicht nur Hauth. Das sei Aufgabe der Politik. Geschehe das nicht, gehe es nicht voran - trotz aller Mühen.

"Menschen als Menschen anerkennen, nicht als Kranke"

Ein junger Mann sitzt auf dem Rasen, mit dem Rücken zur Kamera, vor ihm ein Fluss im Sonnenschein. Er trägt einen kleinen Zopf auf dem Kopf und einen lilafarbenen Pulli. © NDR Foto: Lisa Hentschel
"Die Menschen als Menschen anzuerkennen, nicht als Kranke", dafür tritt Kai* ein.

Stabil. So bezeichnet sich Kai heute. Er kann wieder am täglichen Leben teilnehmen, erzählt er. Kai hat eine Ausbildung im sozialen Sektor angefangen, ist mittendrin, in seiner Tagesstruktur. Eine, die er sich schmerz- und zwanghaft aufgebaut habe, sagt er. Da gab es den Tod eines suchterkrankten Freundes. "Ich musste mich selbst zu dieser Überzeugung zwingen, dass es auch einen anderen Weg geben muss." Das habe er durchgezogen. Und: Er traf einen alten Lehrer, der ihn darin bestärkt habe, weiterzumachen.

Heute sei es ihm wichtig, sagt Kai, auf die noch immer vorhandene Stigmatisierung psychisch schwer Erkrankter aufmerksam zu machen - egal, welchen Namen man dafür verwende. Auf die Frage, was er sich wünschen würde, so zusammenfassend, antwortet er schnell: "Die Menschen als Menschen anzuerkennen, nicht als Kranke."

* Hinweis der Redaktion: Zum Schutz seiner Privatsphäre haben wir den Namen des Betroffenen geändert.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Aktuell | 10.10.2023 | 14:00 Uhr

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