Laut lesen füllt Lücken: Hamburger Leseprojekt macht Schule
Die sinkende Lesekompetenz bei Kindern und Jugendlichen wirkt sich auf Schule, Beruf und politische Teilhabe aus. Norddeutschland steuert mit beispielhaften Fördermodellen wie Leseband und Vorlesehund dagegen.
Seit Jahren schlägt die Bildungsforschung Alarm wegen der wachsenden Lesekrise unter Kindern und Jugendlichen. Alle großen Studien belegen, dass sich ihre Lesekompetenz in den letzten Jahren stetig verschlechtert hat: IGLU, PISA, die IQB-Berichte. Die IGLU-Studie 2021 zeigte, dass 25 Prozent aller Viertklässlerinnen und -klässler Texte nicht verstehen, weil sie sich so sehr mit den Wörtern abmühen. Fünf Jahre zuvor waren es noch "nur" 20 Prozent.
Hamburger Leseband - auch SH, MV und NDS machen mit
Daher suchen viele Bundesländer nun nach wirksamen Lösungsansätzen - wie dem wissenschaftlich erprobten "Leseband", einer täglichen Lesezeit mit speziellen Methoden, die sich wie ein Band durch die gesamte Schulwoche zieht. Das Projekt läuft seit 2014 in mehr als 70 Hamburger Grundschulen und sein Erfolg hat sich herumgesprochen: Mehrere andere Länder übernehmen nun das Modell, darunter Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, wo es seit Februar getestet wird. Niedersachsen geht einen ähnlichen Weg und erhöht im kommenden Jahr sowohl die tägliche Lesezeit als auch die Stundenanzahl in den Grundschulen.
Vorlesen für den Lesefluss
Die Hamburger Lesebandschulen liegen in benachteiligten Stadtteilen. Dort erhalten Kinder ab der zweiten Klasse täglich 20 Minuten zusätzliche Lesezeit. Das bedeutet viel Vorlesen im Chor oder in kleinen Gruppen - doch nie so, dass ein schlecht lesendes Kind bloßgestellt wird. Schwächer Lesende lernen stattdessen von den Stärkeren oder vom Vorlesen der Lehrerinnen und Lehrer. Sie lesen aktiv mit, lernen neue Wörter und steigern so ihren eigenen Lesefluss. Der Zeitaufwand wird aus allen Fächern gedeckt, nicht nur aus dem Deutschunterricht. Seit Februar dieses Jahres wird das Leseband auf alle Hamburger Grundschulen in sozial benachteiligter Lage ausgeweitet.
Leseunterricht weit unter EU-Durchschnitt
So gleicht das Modell auch ein existierendes Defizit aus, denn an deutschen Grundschulen gibt es deutlich weniger Leseunterricht als in anderen Ländern. Laut der IGLU-Studie 2021 liegt Deutschland mit circa 140 Minuten pro Woche weit unter dem EU-Durchschnitt von 200 Minuten. Um flüssig lesen zu lernen, ist diese Extrastunde jedoch kostbares Gut.
Hunde sind gute Zuhörer
Auch in Kiel setzt man auf das Lautlesen, um Kinder zu unterstützen - mit dem Vorlesehundprojekt, vor einem vierbeinigen Publikum. Über mehrere Wochen hinweg kommen Kinder in die Stadtbücherei und lesen dort einem Hund vor, einem Therapiehund. In dieser entspannten Situation können sie Furcht abbauen, so Projektleiterin Christin Jans: "Ein 13-jähriges Kind kam zitternd in den Raum, da es große Angst vor dem Vorlesen hatte. Der Hund legte seinen Kopf auf den Schoß des Mädchens, um es zu beruhigen, das Mädchen hörte auf zu zittern und konnte langsam, aber flüssig vorlesen."
Jans freut sich über den Erfolg des hundegestützten Modells. "Bisher konnten wir bei jedem teilnehmenden Kind eine deutliche Verbesserung der Lesekompetenz feststellen. Die Kinder lesen flüssiger und selbstbewusster und haben oft Spaß daran gefunden, Geschichten zu lesen." Manche von ihnen würden nun sogar zu Hause ihren Kuscheltieren oder einem Bild des Hundes vorlesen. Dieses Jahr wird das Projekt erweitert und auch der Arbeiter-Samariter-Bund in Schleswig-Holstein setzt inzwischen Vorlesehunde ein.
Verbessertes Textverständnis
Leseforscher Steffen Gailberger von der Bergischen Universität Wuppertal begründet die Wirksamkeit des Lautlesens damit, dass das gemeinsame Üben und Wiederholen das Lesevermögen der Kinder kontinuierlich steigere. Es sei dabei egal, ob das Vorlesen im Klassenverband oder durch das Vorlesen einer Lehrkraft geschehe: "Der schwächere Leser hat die Möglichkeit, diese Stimme als Hilfe zu verwenden, auch als kognitive Erleichterung im Lesen, weil der Schüler den Text jetzt hört." So könne er selbst leichter den eigenen Text lesen.
Von 2014 bis 2018 begleitete der Wissenschaftler die Einführung des Lesebands an den Hamburger Schulen. Seine Studie zeigte, dass sich das Textverständnis der Leseband-Kinder besser entwickelte als das der Kontrollgruppe, die nicht daran teilnahm. Mit jedem Schuljahr wurde ihr Vorsprung größer. Auch in Mathematik erzielten die Schülerinnen und Schüler bessere Ergebnisse, sobald Textaufgaben Teil des Unterrichts wurden, wo Lesefähigkeit ebenfalls entscheidend sein kann. Die größten Lesefortschritte machten Kinder aus Haushalten, in denen wenig oder kein Deutsch gesprochen wurde.
Leselücken auch bei Erwachsenen
Dass sich die Lesekompetenz bei Kindern insgesamt seit Jahren verschlechtert, bereitet auch Anke Grotlüschen, Professorin für lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg, Sorgen. Denn leseschwache Kinder schaffen es kaum, diese Lücken nach der Grundschule wettzumachen.
Schon jetzt gibt es 6,2 Millionen Erwachsene, die nicht oder nur schlecht lesen können, zeigte 2018 die von ihr geleitete deutschlandweite Level One (LEO)-Studie. Das ist ein Achtel aller Menschen im erwerbstätigen Alter. Dabei kämpfen 300.000 von ihnen selbst mit einzelnen Buchstaben; der Rest kann Wörter oder kurze Sätze bewältigen. In den vergangenen Jahren hatte sich ihre Anzahl verringert, aber der Trend unter Kindern und Jugendlichen geht in die entgegengesetzte Richtung.
Politische Kompetenzen beeinträchtigt
Diese Menschen sind in ihrer politischen Teilhabe benachteiligt. Sie gehen seltener wählen und es fällt ihnen schwerer, politische Positionen oder Fake News zu hinterfragen. Laut einer auf den Daten der LEO-Studie 2018 basierenden Studie haben sie weniger Vertrauen in ihre politischen Kompetenzen und engagieren sich nicht so oft in Vereinen oder im Ehrenamt.
"Wo wir wirklich ganz große statistische Abweichungen sehen, ist das Beurteilen von Sachverhalten", so die LEO-Leiterin Anke Grotlüschen. Die Studie enthielt zum Beispiel die Frage, ob man sich die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an einer Demonstration zutraue. 80 Prozent der normal lesenden Menschen fühlten sich kompetent genug, dies zu entscheiden - im Vergleich zu nur 50 Prozent der Befragten mit eingeschränkter Lesekompetenz.
Leseprobleme erschweren das Hinterfragen
Diese Unsicherheit mache es auch schwerer, Fake News zu erkennen und politische Standpunkte einzunehmen, sagt die Forscherin: "Wenn Menschen an Ratgeber kommen, die tendenziell esoterisch oder einseitig sind, dann haben sie einfach kein Rüstzeug, sich davon abzugrenzen, also sich ihre eigene Position dazu zu bilden. Sondern sie folgen dann viel leichter."
Sowohl Kinder als auch Erwachsene in Deutschland brauchen also gezielte, wirksame Leseförderung - um besser zu lernen, für ihre beruflichen Chancen und um Politik aufgeklärt mitbestimmen zu können. Die Modelle von Leseband und Lesehund sollten also so viele Nachahmer finden wie möglich.