Für mehr Lesekompetenz: Das Projekt "Bücherkoffer“
Vielen Grundschulkindern fällt das Lesen schwer. Das hat weitreichende Folgen, wie aktuelle Studien zeigen. Das Projekt "Bücherkoffer" soll Kinder fürs Lesen begeistern.
Im Klassenraum der 2c an der Grundschule in Dummerstorf herrscht Aufregung, denn die Schülerinnen und Schüler wissen: Am Ende der Deutschstunde darf wieder ein Kind den Bücherkoffer mit nach Hause nehmen. Der hellblaue Rollkoffer in Handgepäckgröße steht dafür schon neben dem Pult von Lehrerin Yvonne Kißhauer-Müller bereit. Dann ist es endlich soweit: Für die Kofferübergabe bilden die Schülerinnen und Schüler einen Halbkreis auf dem Boden. In die Mitte setzt sich Hilda. Sie übergibt den Koffer heute an Wiebke, die ihr gegenüber Platz nimmt. Zunächst erfolgt der Check: Sind alle zwölf Bücher da? Die beiden zählen durch. Dann erzählt Hilda, was ihr am besten gefallen hat: "Mein Lieblingsbuch war eine Geschichte über einen Hund, der sich erst nicht traut und sich dann Stück für Stück in der Welt umguckt."
Der Bücherkoffer erstmals in MV
Die zwölf bunten, mehrsprachigen Bücher beinhalten mal viel, mal weniger Text. Dazu liegt ein Lesetagebuch für Kinder und Eltern dabei. Hinter dem Projekt "Bücherkoffer" steht der Hamburger Verein Coach@School, unterstützt von der Hamburger Familienstiftung Peter Jensen. Seit Beginn dieses Schuljahres rollen die blauen Koffer zum ersten Mal durch drei Schulen in Mecklenburg-Vorpommern. Neben der Grundschule Dummerstorf sind sie an der Lessing-Grundschule Bad Doberan und der Goethe-Grundschule Rerik im Einsatz. Es sei bewusst so geplant, dass die Übergabe wie eine kleine Zeremonie gefeiert wird, so Nina Menzel von Coach@School. Einerseits soll es Bücher wie einen Schatz präsentieren und die Neugierde und Aufmerksamkeit der Kinder wecken. Andererseits wird so auch der sorgfältige Umgang mit Geliehenem geübt.
Grundschulkinder können schlechter lesen
Yvonne Kißhauer-Müller sieht in dem Projekt viele Chancen. Für die Deutschlehrerin hat sich in ihren zwanzig Berufsjahren bei den Lesekenntnissen der Mädchen und Jungen Einiges verändert: "Wir beobachten, dass viele Kinder mit kaum irgendwelchen Erfahrungen zu uns in die Schule kommen. Früher konnten sie gewisse Sachen, kleine Texte sogar schon oder konnten auch ihren Namen schreiben. Das ist ein bisschen rückläufig geworden“, so die Lehrerin. Das bestätigen auch aktuelle Forschungsergebnisse. Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann laut der aktuellen IGLU-Studie nicht richtig lesen. Seit 2001 nimmt die Lesekompetenz immer mehr ab. Der Vorlesemonitor 2022 zeigt außerdem, dass mehr als ein Drittel der Eltern ihren Kindern nur selten oder gar nicht vorliest.
Auch Vorlesen ist wichtig fürs Lernen
Mittlerweile haben die Kinder der 2c in Dummerstorf aber einen guten Stand erreicht, findet Yvonne Kißhauer-Müller: "Die Kinder sind begeistert und sie lesen tatsächlich freudvoller, mehr und auch intensiver. Wichtig ist für mich, dass die Kinder ihren Eltern mal vorlesen. Dieses laute Vorlesen, das trauen sich viele Kindern auch nicht mehr." Für Wiebke geht es mit dem Koffer nach Hause. Mit ihrem vierjährigen Bruder Olli und ihrer Mutter Svenja beugt sie sich über den Stapel Bücher. Zuhause lesen sie viel gemeinsam, so Svenja Brünau: "Wiebke liest erst alleine. Die muss ja üben für die Schule. Und dann lesen wir abends immer vor. Mein Mann geht mit den Kindern auch viel in die Bücherei.“ Eigentlich liest Wiebke gerade "Die Schule der magischen Tiere". Doch das legt sie jetzt für ein paar Tage zur Seite. Denn als Erstes, das steht für die Zweitklässlerin fest, ist nun das Buch über den Yeti aus dem "Bücherkoffer" dran.