Kriminalität: Menschen mit Migrationsgeschichte unter Generalverdacht?
Die Polizei hat 2023 wieder mehr Straftaten registriert. Auch die Zahl der ausländischen Verdächtigen ist demnach gestiegen. Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich in der Debatte schnell unter Generalverdacht gestellt.
5,94 Millionen Straftaten hat das Bundesinnenministerium für das vergangene Jahr verzeichnet, ein Anstieg um 5,5 Prozent und der höchste Stand seit dem Jahr 2016, wie aus der Statistik hervorgeht. Besonders stark stiegen demnach Zahl und Anteil der ausländischen Tatverdächtigen. Während die Zahl der deutschen Verdächtigen innerhalb eines Jahres nur um ein Prozent auf etwa 1,32 Millionen stieg, wuchs die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen um 17,8 Prozent auf rund 923.000.
Mittlerweile leben 23 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland, weitere 13 Millionen Menschen ohne deutschen Pass. Wenn in der Öffentlichkeit und in den Medien über steigende Ausländerkriminalität debattiert wird, fühlen sich viele von ihnen unter Generalverdacht gestellt.
Debatte schüre Vorurteile und rassistische Stereotypen
Einer von ihnen ist Lucien Rehbach. Der 34-Jährige wurde in Neumünster in Schleswig-Holstein geboren. Sein Vater stammt aus Kamerun, seine Mutter aus Deutschland. Er arbeitet als Friseur am Gänsemarkt in Hamburg. Im Gespräch mit seinen Kunden geht es jetzt oft auch um die jüngste Kriminalitätsstatistik. "Mit jedem, der dunkelhäutig ist, habe ich das Thema in zehn Gesprächen mindestens dreimal angesprochen", sagt Rehbach.
Die Debatte schüre Vorurteile und rassistische Stereotypen, sagt er. Gegen die kämpft Rehbach seit seiner Kindheit. "Es ist halt so: Egal was jemand macht, der aussieht wie ich, es wird auf alle zurückgeführt. Einer geht bei rot über die Straße, dann heißt es, dass alle über rot gehen. Einer zieht ein Messer, alle ziehen ein Messer." Das "N-Wort" sei bis er 15 Jahre alt war immer noch normal gewesen. Auch Diskussionen über die passende Bezeichnung für ein Schoko-Kuss-Brötchen führte Rehbach noch als Jugendlicher und junger Erwachsener.
Diese vielen negativen Erfahrungen haben Spuren bei Lucien Rehbach hinterlassen. "Wenn mich Leute angucken, denke ich nicht, dass sie mich angucken, weil ich gut aussehe oder Stil habe oder weil meine Haare interessant sind. Nein, sie gucken mich an, weil ich dunkelhäutig bin. Das ist alles, was ich sehe für mich, alles was ich denke."
Rassismus ist im Alltag sehr verbreitet
Als Nächstes sitzt David Amoateng auf dem Friseurstuhl von Rehbach. Auch ihn beschäftigt die Statistik. Der 39-Jährige ist Afro-Deutscher und wurde wie Rehbach in Neumünster geboren. Beide gehören also nicht zur Personengruppe, die in der Statistik für die besonders große Zunahme von Gewalttaten verantwortlich gemacht wird. Dennoch nehmen sie eine Spaltung in der Gesellschaft wahr und müssen im Alltag immer wieder mit Ressentiments kämpfen. Schon der sichtbare Migrationshintergrund sorge in gewissen Situationen für einen Vorverdacht, sagt Amoateng. "Wenn ich das zum Beispiel vergleiche mit meinen weißen deutschen Freund Tim, mit dem ich zusammen in den Kindergarten gegangen bin. Wie oft wurde er in seinem Leben von der Polizei angehalten? Und wie oft wurde ich angehalten? Da ist es merklich, dass ich weitaus öfter angehalten werde."
Amoateng will seinen Beitrag leisten, dass die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland - auch mit Blick auf einen steigenden Rechtsruck durch die AfD - in den kommenden Jahren nicht noch weiter zunimmt. Der studierte Sozialökonom hat 2019 ein Label für diverse Kinderstoffpuppen ins Leben gerufen. Auf der Suche nach einem Geschenk für seine Nichte stolperte er vor einigen Jahren nur über viele weiße Stoffpuppen oder über Spielzeug, das rassistische Vorteile bediente. So stieß er unter anderem auf schwarz überzeichnete Puppen im Lendenschurz. Daraufhin gründete er sein eigenes Unternehmen, das nun in Ghana, der Heimat seines Vaters, faire und nachhaltige Puppen produziert, die mehr Diversität in deutsche Kinderzimmer bringen.
Außerdem bietet der seit zehn Jahren in Hamburg lebende Amoateng Antirassismus-Trainings an. Damit will er Brücken bauen. Dabei sieht er sich jedoch nicht als Einzelkämpfer. Rassismus müsse man als gemeinschaftliche Gesellschaft angehen. Auch Deutsche müssten das Thema deutlicher anprangern, vor allem im Alltag, meint Amoateng.
Mögliche Ursachen bei Debatte im Blick behalten
Von rassistischen Ressentiments kann auch Siavash Osmani berichten. Der Afghane ist 2014 nach Deutschland gekommen und lebt in Hannover. "Ich fühle mich richtig schlecht und bin enttäuscht. Leider kann man gar nichts machen. Es ist nicht meine Schuld, wenn jemand aus meiner Heimat oder einer anderen etwas macht. Dann heißt es immer: Ausländer sind so." Osmani hat Deutsch gelernt und macht eine Ausbildung als Erzieher. Ihm ist es wichtig, über die Ergebnisse der Statistik zu sprechen und mögliche Ursachen für den Anstieg der Delikte zu ermitteln.
Siavash Osmani sowie auch David Amoateng und Lucien Rehbach eint der Wunsch, über die jüngste Statistik sachlich und konstruktiv zu debattieren und dabei vor allem auch mögliche Lösungen nicht aus den Augen zu verlieren.