Herausforderung Energiewende: Strom wegwerfen statt nutzen?
Der rasante Zubau von Wind- und PV-Anlagen hat Folgen. Immer häufiger kommt es zu einem Überangebot an Strom, für den nicht jederzeit eine Nachfrage besteht. Bisher wurde zu wenig unternommen, um den grünen Strom in das Energiesystem zu integrieren. Stattdessen wird abgeregelt.
Jeden Mittag erhält Uwe Iwersen eine Info auf sein Handy. Er erfährt, was ihn der Strom in den kommenden 24 Stunden privat kostet. Der Strompreis ist in jeder Stunde anders. In Dänemark sei das völlig normal, erzählt der Journalist aus dem süddänischen Tondern (Tønder). "Wir haben viel Sonnenenergie und viel Windenergie. Dadurch, dass sich das Wetter ändert, ändert sich dann auch der Preis. Und der preisbewusste Verbraucher richtet sich darauf ein." Es gehöre für ihn seit Jahren zur Routine die Spül- oder Waschmaschine so zu programmieren, dass sie dann laufen, wenn der Strom billig ist, erklärt er. Das ist immer dann der Fall, wenn die Sonne scheint und der Wind weht.
Möglich ist das in Dänemark, weil das Netz komplett digitalisiert ist. Der intelligente Stromzähler von Uwe Iwersen meldet seinem Stromanbieter zurück, wann in seinem Haus wie viel Strom verbraucht wird. Manchmal, erzählt er, erhalte er den Strom quasi umsonst, wenn die erneuerbaren Energien sehr viel produzieren. "Dann müssen sie einfach die Leitungen entlasten." Der Vorteil davon ist, dass in Dänemark so mehr Strom abgenommen werden kann, wenn auch viel produziert wird. Das entlastet das dänische Energiesystem und ist auch ökonomisch sinnvoll.
Die Digitalisierung "einfach verschlafen"

In Deutschland sind stündlich wechselnde Strompreise für die allermeisten Haushalte noch Zukunftsmusik. Die wenigsten Verbraucher orientieren sich daran, ob gerade viel Grünstrom produziert wird oder nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass man in Deutschland die flächendeckende Einführung von intelligenten Messsystemen, sogenannten Smart Metern, und damit die Digitalisierung des Netzes über viele Jahre "einfach verschlafen" hat, meint Prof. Andreas Löschel. "Viele Haushalte haben heute eben keinen Smart Meter, ganz im Gegensatz zu der Situation in praktisch allen europäischen Ländern," erklärt der Energieökonom von der Ruhr-Universität in Bochum. Er ist seit vielen Jahren Mitglied einer Expertenkommission, die im Auftrag der Bundesregierung die Umsetzung der Energiewende beobachtet.
Erst seit Anfang 2025 ist der sogenannte Rollout, also die flächendeckende Installation von intelligenten Stromzählern, in Deutschland für viele Verbraucher Pflicht. Zunächst sind davon Haushalte mit einem großen Stromverbrauch sowie die Betreiber von PV-Anlagen betroffen. Insgesamt sind in Deutschland nach aktuellen Zahlen nur rund zwei Prozent aller Stromzähler intelligent. Die verzögerte Digitalisierung hat Folgen, vor allem seit die kleinen PV-Anlagen auf Dächern zunehmen. Die Anlagen geben den Strom ins Netz ab, unabhängig davon, ob er gerade gebraucht wird oder nicht. Dafür erhalten die Anlagenbetreiber die sogenannte Einspeisevergütung pro Kilowattstunde. Doch die Stromnetzbetreiber können diese Dachanlagen heute vielfach nicht runterregeln.
Zu viel Strom führt zur Überlastung im Netz

Das ist ein Problem, erklärt Torsten Maus. Er ist Geschäftsführer des Verteilnetzbetreibers EWE Netz, der für den gesamten Nordwesten Niedersachsens verantwortlich ist. Zwar habe man schon viele Smart Meter installiert, die das Runterregeln möglich machen, dennoch könnte es zu schwierigen Situationen im Netz kommen. Ein Beispiel sei ein "typischer Pfingstsonntag". Wind und Sonne lieferten viel Energie "und gleichzeitig haben wir eine geringe Abnahme. Dann haben wir mehr Produktion am Netz, die wir nicht beeinflussen können, als Abnahme. Und dann wird die Situation kritisch, was die Stabilität des Netzes bedeutet." Mit "beeinflussen" meint Maus, dass aus der Netzleitstelle eine Anlage runter- oder abgeregelt werden kann, damit sie nicht zu viel Strom ins Netz pumpt, obwohl der gar nicht gebraucht wird. Zu viel Strom im Netz könnte zu dessen Überlastung führen, bis hin zum Blackout.

Große PV- und Windkraftanlagen lassen sich dagegen schon seit vielen Jahren aus den Netzleitstellen runter- oder abregeln. Die Anzahl dieser Netzeingriffe hat sich bei EWE Netz innerhalb der vergangenen zehn Jahre ungefähr verhundertfacht. Daher begrüßt Maus, dass seit Ende Februar bundesweit neue PV-Anlagen pauschal bei 60 Prozent ihrer maximalen Leistung abgeregelt werden, sofern sie nicht an einen Smart Meter angeschlossen sind. Dadurch geht den Anlagenbetreibern ein Teil der Einspeisevergütung verloren. Nach Auskunft des Bundesverbands Solarwirtschaft können auf diese Weise, je nach Anlage, bis zu neun Prozent des Stroms verlorengehen, den die PV-Anlage ins Netz einspeisen könnte. Wer allerdings einen Stromspeicher hat, dürfte von der Abregelung wenig merken.
Bis zu neun Prozent Verlust
Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) geht nun sogar noch einen Schritt weiter und fordert eine Förderstopp für kleinere PV-Anlagen in der bisherigen Form. "Aufdachanlagen, die zukünftig neu in Betrieb genommen werden, sollten keine feste Einspeisevergütung mehr erhalten", erklärt ein Sprecher. Diese Anlagen würden sich auch ohne Einspeisevergütung lohnen. Ziel sei es, die "Kosten für die Energiewende in Summe" zu senken. Der rasante Zubau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen in den vergangenen Jahren sorgt für immense Herausforderungen im Energiesystem, bei dem "Angebot, Nachfrage und Infrastruktur in einen Gleichklang" gebracht werden müssen, meint Prof. Löschel. "Und wir sehen, dass diese Bausteine des Energiesystems augenblicklich nicht gut in Balance sind." Es tauchten immer mehr Probleme auf, wenn die Erneuerbaren mal viel Strom produzieren und dann wieder sehr wenig, "also in Zeiten der Dunkelflaute".

Im zuständigen Bundeswirtschaftsministerium ist die Lage bekannt. Künftig solle neben den erneuerbaren Energien ein "Technologiemix aus Kraftwerken, Speichern und flexiblen Verbrauchern" für eine sichere Stromversorgung sorgen. Besonders beim Bau der neuen regelbaren Kraftwerke müsse man aber schneller vorankommen, meint Prof. Löschel. Große Hoffnungen ruhen daher auf Großbatterien, die vielerorts wie Pilze aus dem Boden schießen. In Bollingstedt bei Schleswig entsteht gerade eine der größten, mit einer Leistung von 100 Megawatt. Bald wird sie in den kommerziellen Betrieb gehen. Tobias Badelt vom Investor EcoStor erklärt: "Die Speicher nehmen die Energie aus dem Netz, wenn zu viel da ist und geben die Energie wieder ab, wenn zum Beispiel die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht." Rund 170.000 Haushalte können so rechnerisch etwas zwei Stunden aus dem Speicher mit Strom versorgt werden.
Die Zahl der Großspeicher hat sich 2024 verdoppelt
Die Zahl der Großspeicher hat sich nach Angaben des Verbands BSW-Solar im Jahr 2024 verglichen mit dem Vorjahr verdoppelt. Von einem Boom ist die Rede. Doch nur die Batterien werden nicht reichen. Ove Petersen, CEO des Energieunternehmens GP Joule, meint: "Wir haben es erfolgreich geschafft, die letzten 20 Jahre die erneuerbaren Energien nicht in unser Energiesystem zu integrieren." Es habe zu lange an Anreizen gefehlt. Wenn der Strom aus Wind- und PV-Parks nicht gebraucht wird, dann würde eben abgeregelt, meint Ove Petersen. Für den Einnahmenausfall bekommen die Anlagenbetreiber bislang eine Entschädigung. Stattdessen müssen man sich darum kümmern den Verbrauch besser zu optimieren. Das bedeutet, viel Strom zu verbrauchen, wenn der Wind weht und die Sonne scheint.

Auch die Industrie müsse da mitmachen, also ebenfalls möglichst viel abnehmen, wenn viel Strom vorhanden ist. In der Industrie ist man noch zurückhaltend, obwohl das Thema eine enorme Rolle spielt. Ulf Gehrckens ist als Manager weltweit für die Energiebeschaffung beim Kupferhersteller Aurubis verantwortlich. Allein in Hamburg verbraucht das Unternehmen jährlich mehr Strom als eine Kleinstadt. Der Bedarf hier ist konstant hoch, die Anlagen in dem riesigen Werk könne er schlecht hoch- und runterfahren, um sich so an ein schwankendes Stromangebot anzupassen, sagt der Manager: "Wir können nicht zurückfahren, ohne einen wirtschaftlichen Schaden davon zu tragen." Eine eigene Großbatterie sei für das Unternehmen nicht sinnvoll, der Strom solle lieber in der Nähe von PV- und Windparks gespeichert werden.
Klima und Energie: Große Fragen bleiben offen
Das Bundeswirtschaftsministerium versucht offenbar erst mal jede Aufregung aufseiten der Unternehmen zu minimieren: "Industriekunden können selbst entscheiden, ob/wie sie am Strommarkt zu ihrem Vorteil agieren. Klar ist, dass sich nicht alle Verbraucher flexibilisieren müssen." Wie das genau umgesetzt werden soll, dürfte spannend werden. Auf die neue Bundesregierung warten beim Thema Klima und Energie große und drängende Fragen.
