Bildungsgerechtigkeit: Als erstes Arbeiterkind an der Uni
Die gemeinnützige Organisation "Arbeiterkind" fördert junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie eine Hochschule besuchen. Zwei von ihnen sind Chris und Kaushik, Studierende aus Hamburg.
Von 100 Kindern aus Akademikerfamilien beginnen laut Hochschulbildungsreport 79 ein Studium. Bei Nicht-Akademikerfamilien sind es gerade einmal 27 von 100, obwohl in dieser Gruppe doppelt so viele Schülerinnen und Schüler einen entsprechenden Abschluss haben. Diesem Ungleichgewicht will die Organisation "Arbeiterkind" entgegenwirken.
Kaushik ist 23 Jahre alt und studiert Schiffbau und Meerestechnik an der Technischen Universität (TU) in Hamburg-Harburg. Er ist der erste aus seiner Familie, der eine Hochschule besucht. Kaushik: "Ich bin in eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, weswegen für mich eigentlich früh das Ziel klar war, eine Ausbildung anzufangen und Geld zu verdienen." Doch dann habe er Abgabefristen verpasst und weil seine Noten gut waren, doch Abitur gemacht und anschließend das Studium begonnen.
Jobben und Stipendien rauben im Studium Energie
Weil seine Eltern aus Indien stammen und relativ schlecht Deutsch sprechen, konnten sie ihm weder bei Textaufgaben in der Schule noch beim BAföG-Antrag helfen, sagt Kaushik. Auch finanziell ist er auf sich gestellt. Die Bedeutung des Wortes "Kommilitone" musste der 23-Jährige zu Beginn des Studiums googeln - das Hochschul-Vokabular war in seiner Familie nie Thema.
Jetzt jobbt Kaushik neben dem Studium und hat zusätzlich ein Stipendium. Die Arbeit und die Bürokratie für die Anträge von Stipendien rauben ihm häufig Energie, die er eigentlich für das Studium bräuchte. "Im Gegensatz zum Akademikerkind, das jeden Monat 1.500 Euro von seinen Eltern bereitgestellt bekommt und sich um nichts Sorgen machen muss", stellt er einen, wie er selbst sagt, überspitzten Vergleich an.
Jura-Student: "Man merkt einen gewissen Habitus"
Auch die Eltern von Chris haben weder Abitur noch studiert. Finanzielle Unterstützung oder diesbezügliche Erfahrung können sie ihm nicht geben. Trotzdem studiert der 22-Jährige Jura in Hamburg. Er sagt: "Natürlich merkt man im Jurastudium immer wieder, dass es ein altehrwürdiger Studiengang mit einem gewissen Habitus ist (...). Aber ehrlich gesagt, versuch ich mich davon nicht beirren zu lassen." Auch Chris jobbt neben dem Studium und hat ein Stipendium. Um Geld zu sparen, wohnt er außerdem bei seinen Eltern.
Dieses Bild der beiden Studenten ist typisch deutsch und wird auch von Lisa Graf in ihrem Buch "Abgehängt" in vielen Beispielen gezeichnet. Die Lehrerin und Autorin erklärt im NDR Info Podcast Familientreffen einen Ursprung von Bildungsungerechtigkeit: "Man hat Familien, klassisch aus dem Bildungsbürgertum, mit einem großen Bücherregal zu Hause und sehr viel kulturellem Kapital. Ein Kind wächst da von Anfang an wie selbstverständlich mit rein (...) und es gibt eben auch Eltern, die das nicht haben."
Geld und Erfahrung: Soziale Herkunft oft wegweisend für den Bildungsweg
"Ich wusste, ich muss als Arbeiterkind einigermaßen pragmatisch sein", sagt Kaushik. Das heißt einerseits, durch Jobben und Stipendien stets für genug Geld auf dem Konto zu sorgen, weil die Eltern nichts oder nur wenig beisteuern können. Andererseits bedeutet es, fleißig zu sein, um möglichst schnell den Abschluss in der Tasche zu haben. Denn Stipendien und BAföG sind an die Regelstudienzeit geknüpft. Wer länger braucht, wird oft nicht weiter finanziert.
Wessen Eltern dagegen selbst studiert haben, der hat es aus mehreren Gründen an der Uni oft leichter. Das liegt nicht nur an der finanziellen Unterstützung, meint Chris: Im klassischen Akademikerhaushalt würde oft schon in der Oberstufe besprochen, was der Nachwuchs studieren könnte. Das sei bei ihm nicht so gewesen, im Gegenteil. "Man informiert sich selber, man macht irgendwie alles selbst. Da habe ich gemerkt, dass ich wirklich auf mich allein gestellt war."
Buch-Autorin Lisa Graf kennt dieses Phänomen: "Wie funktioniert eine Bibliothek? Was bedeutet es eigentlich, in eine Universität zu gehen? Was sind Dozenten und Dozentinnen? All diese ganz selbstverständlichen Dinge sind für Kinder, die eben nicht aus Akademiker-Haushalten kommen, eben nicht selbstverständlich. Und dann haben diese dort große Schwierigkeiten und fühlen sich oft sehr unwohl."
Chris und Kaushik haben beide Unterstützung von der gemeinnützigen Organisation "Arbeiterkind" erhalten. Bundesweit engagieren sich 6.000 Ehrenamtliche in 80 lokalen Gruppen, um Schülerinnen und Schüler über die Möglichkeit eines Studiums zu informieren und sie auf ihrem Weg vom Studieneinstieg bis zum erfolgreichen Hochschulabschluss und Berufseinstieg zu unterstützen.
"Arbeiterkind" hilft bei Studienauswahl und Studienfinanzierung
Um das deutsche Bildungssystem etwas fairer zu gestalten, engagieren sich Kaushik und Chris nun auch selbst bei "Arbeiterkind". Kaushik hilft bei Bewerbungen auf das Deutschlandstipendium, das er aktuell auch selbst erhält. Chris macht bei der digitalen Sprechstunde mit. Hier beantwortet er die Fragen von Schülern und Studenten, die ebenfalls keinen akademischen Hintergrund haben. Chris: "Die Hauptberatungsthemen sind Stipendienbewerbung, Stipendienorientierung, und dann noch BAföG und 'was möchte ich eigentlich studieren'- man kann also grob sagen: Studienauswahl und Studienfinanzierung."
Kaushik: "Ich fand das mega super! Ich hab mich das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit von Leuten verstanden gefühlt, die so eine ähnliche Bildungsbiografie hatten und einfach wissen, wie es ist, gewisse Hindernisse überwinden zu müssen. Ich fand das Konzept so gut, dass ich dachte, ich möchte da auf jeden Fall Teil davon sein."