Abschiebungen innerhalb der EU: Warum scheitern sie so oft?
Seit dem Anschlag in Solingen wird verstärkt über Geflüchtete und Abschiebungen diskutiert. Dabei ist auch die Gruppe der sogenannten Dublin-Fälle in den Fokus gerückt, die eigentlich in andere EU-Länder zurückgeführt werden müssten. Bundesweit werden zurzeit nur 14 Prozent dieser Überstellungen durchgeführt, warum?
Nach dem tödlichen Messer-Attentat von Solingen gibt es viele Fragen rund um die sogenannten Dublin-Geflüchteten. Denn übereinstimmenden Medienberichten zufolge war der mutmaßliche Attentäter, ein heute 26-jähriger Syrer, 2022 über Bulgarien in die EU eingereist. Laut Dublin-Abkommen wäre also Bulgarien für sein Asylverfahren zuständig gewesen. Doch eine Rücküberführung scheiterte, weil der Verdächtige während der sechsmonatigen Überstellungsfrist untertauchte.
Tatsächlich gelingen Rücküberführungen innerhalb der EU deutlich seltener als Abschiebungen ins Nicht-EU-Ausland. Nach Angaben der Stadt Hamburg liegt die Quote der durchgeführten Überstellungen in der Hansestadt bei 32,3 Prozent - im Bundesvergleich seien es dagegen nur 14,02 Prozent. Laut Bundesinnenministerium leben derzeit knapp 7.000 Asylsuchende in Deutschland, für deren Unterbringung ein anderer europäischer Staat zuständig ist und die als ausreispflichtig gelten.
Wiebke Judith, die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, erläutert im Interview mit NDR Info, wie es dazu kommt und warum die Hilfsorganisation die sogenannten Dublin-Überführungen eher kritisch sieht.
Wie ist die rechtliche Situation für Geflüchtete, die über sichere Drittstaaten nach Deutschland einreisen, um hier einen Asylantrag zu stellen?
Wiebke Judith: Das Grundprinzip in der Europäischen Union ist, dass Asylsuchende ihren Antrag im Mitgliedsstaat der ersten Einreise stellen müssen. Aufgrund der Fluchtrouten und Möglichkeiten von fliehenden Menschen sind das in den allermeisten Fällen die Staaten an den Außengrenzen der EU, wie Griechenland, Italien oder Polen. Wenn Asylsuchende nach Deutschland kommen, wird daher als erstes im sogenannten Dublin-Verfahren geprüft, ob Deutschland oder ein anderer EU-Mitgliedsstaat zuständig ist. Danach entscheidet sich, ob in Deutschland überhaupt ein Asylverfahren durchgeführt wird.
Wie geht es für Geflüchtete weiter, wenn der Asylantrag aufgrund der Dublin-Regelung abgelehnt wurde?
Judith: Tatsächlich liegen in vielen Fällen Dublin-Verfahren vor - im Jahr 2023 fast in jedem vierten Verfahren. Das heißt, dass Deutschland den Asylantrag als unzulässig ablehnt, weil ein anderer Staat zuständig ist. Dann bleibt die Frage, ob Deutschland den Asylsuchenden in den zuständigen Staat überstellt oder doch noch zuständig für das Verfahren wird - denn die Überstellung muss innerhalb von sechs Monaten stattfinden.
Das Grundprinzip des Dublin-Systems besagt, dass ein Staat für das Asylverfahren zuständig sein muss. Es soll vermieden werden, dass Asylsuchende ohne jegliche Zuständigkeit im luftleeren Raum umherirren, ohne ein wirkliches Asylverfahren zu durchlaufen. Schließlich muss festgestellt werden, ob eine Person Schutz braucht oder nicht.
Warum kommt es so häufig dazu, dass die Zuständigkeit für Asylsuchende doch noch bei Deutschland landet?
Judith: Das ist meiner Meinung nach Teil des Geburtsfehlers des Dublin-Systems. Es ist dramatisch unfair gegenüber den Außengrenzstaaten. Denn in der Theorie müssten die allermeisten Asylverfahren in der EU in diesen Staaten stattfinden. Als Konsequenz sehen wir, dass viele Mitgliedstaaten nicht mitarbeiten und versuchen, das Dublin-System zu unterlaufen. So weigert sich etwa die Regierung von Giorgia Meloni in Italien seit anderthalb Jahren, Dublin-Fälle aus Deutschland zurückzunehmen. Es gibt aber auch andere "Tricks", wie Mitgliedstaaten verhindern, dass es effektive Überstellungen gibt. Zum Beispiel, indem nur an bestimmten Tagen gewisse Personenkontingente aufgenommen werden oder Vorgaben gemacht werden, die es den deutschen Behörden stark erschwert, diese zu erfüllen.
Aufgrund dieser Probleme ist es für Länder wie Deutschland eine große Herausforderung, die sechsmonatige Frist einzuhalten. Nach Ablauf der sechs Monate ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dazu verpflichtet, ein inhaltliches Asylverfahren in Deutschland durchzuführen.
Es gibt zudem auch Entscheidungen von deutschen Gerichten, nach denen bestimmte Dublin-Überstellungen nicht stattfinden dürfen. Denn in Ländern wie Griechenland oder Italien herrschen für viele Asylsuchende unmenschliche Bedingungen, es gibt keine ausreichende Versorgung - noch nicht einmal für Familien mit Kindern. Es gibt also auch menschenrechtliche Gründe, bestimmte Rücküberführungen auszusetzen.
Welche Möglichkeiten haben Geflüchtete, wenn ihr Asylverfahren mit Verweis auf das Dublin-System für unzulässig erklärt wird?
Judith: Grundsätzlich haben sie das Recht, gegen die Entscheidung zu klagen - hierfür müssen knappe Fristen eingehalten werden und ein Eilantrag gestellt werden, um die Überstellung vor gerichtlicher Entscheidung zu verhindern. Nicht in allen Fällen ist dies erfolgsversprechend. Wenn die Entscheidung des Bundesamtes rechtskräftig geworden ist, kann die Person zu dem Zeitpunkt nichts machen, denn sie darf zum Beispiel nicht freiwillig in das zuständige Land zurückreisen, sondern muss darauf warten, ob sie von Deutschland dorthin zurücküberstellt wird.
Wenn eine Person als flüchtig gilt, also sich von ihrem zugewiesenen Wohnort entfernt, ohne die zuständigen Behörden darüber zu informieren, dann kann die Frist für die Überstellung auf bis zu achtzehn Monate ausgeweitet werden. Es macht aber einen Unterschied, ob eine Person zum Beispiel in ihrer Unterkunft bei einer Abschiebung, von der sie nicht weiß, wann sie stattfindet, nicht antreffbar ist - oder ob sie wirklich untergetaucht ist.
Wie geht es Ihrer Erfahrung nach Menschen in dieser Zeit, in der sie auf eine mögliche Rücküberführung warten?
Judith: Die sechs Monate können für die Person eine hohe Belastung darstellen. Die Menschen entscheiden sich aus unterschiedlichen Gründen, nach Deutschland zu kommen. Beispielsweise weil sie brutale Grenzgewalt in den anderen Mitgliedsstaaten erlebt haben und sich bei den dortigen Behörden nicht sicher fühlen. Es kann sein, dass sie dort auf der Straße gelebt haben. Oder dass sie Freunde und Familie in Deutschland haben und sich hier einen besseren Start in Europa erhoffen. Es ist eine Zeit der großen Perspektivlosigkeit.
Wenn die sechs Monate abgelaufen sind, beginnt das große Warten erneut - denn dann wird erst das richtige Asylverfahren eingeleitet, das auch wieder Zeit in Anspruch nimmt. Das ist in meinen Augen eines der großen Probleme, dass Dublin eine Art "Verschiebe-Bahnhof" ist und zu einer größeren zeitlichen Verzögerung des Zugangs zu Schutz führt. Außerdem können die betroffenen Personen in dieser Zeit oft nicht anfangen, sich zu integrieren, können beispielsweise die Sprache noch nicht lernen. Das ist auch mit Blick auf die Aufnahmegesellschaften nicht sinnvoll.
Wie steht Pro Asyl zu Rücküberführungen innerhalb der EU?
Judith: Mit Blick auf die Lebensrealität von Geflüchteten in Ländern wie Griechenland, Italien oder Polen steht Pro Asyl dem Dublin-System sehr kritisch gegenüber. Wir erleben auch, dass die Dublin-Regelungen dazu führen, dass Mitgliedsstaaten versuchen, die Lebensbedingungen für Flüchtlinge immer weiter zu verschlechtern, um Schutzsuchende in andere Länder zu verdrängen. Ab einem bestimmten Punkt führt diese Abwärtsspirale ja sogar dazu, dass Gerichte entsprechende Rückführungen verbieten. Zwar gibt es nicht gegen jede Rücküberstellung innerhalb Europas menschenrechtliche Gründe, trotzdem muss man das Grundprinzip hinterfragen. Das Dublin-System ist extrem ineffizient, dabei funktioniert es weder für die Staaten noch für die Betroffenen.
Das Interview führte Anina Pommerenke.