(97) Coronavirus-Update: Wir müssen uns aus der Pandemie rausimpfen
In der neuen Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update spricht der Virologe Christian Drosten über die Bedeutung der Impfquote, über Impfdurchbrüche, Booster und Teststrategien in den Schulen.
Trotz einer Impfquote von gut 60 Prozent stehen wir jetzt am Beginn einer vierten Welle - wie ist das möglich? Im Gespräch mit NDR Info Wissenschaftsredakteurin Korinna Henning geht Virologe Christian Drosten in der ersten Folge nach der Sommerpause auf dieses Thema ein. Außerdem geht es in der Folge 97 des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update unter anderem um Teststrategien, die Maßnahmen an Schulen, Impfdurchbrüche und Impfstoffe für Kleinkinder.
Die zentralen Themen der Folge im Überblick - per Klick direkt zur Textstelle springen
Die Impfquote in Deutschland - wird es einen neuen "Lockdown" geben?
Die Gefahren der Delta-Variante: Kommt es zu einer stärkeren Erkrankung?
Der Streit um Inzidenzen - die Politik ist gefordert
Die Situation in Großbritannien
Impfdurchbrüche - die Übertragung des Virus trotz Impfung
Impfdurchbrüche in anderen Ländern: Beispiel Israel
Booster-Impfung in Deutschland
Für wen ist die Auffrischungsimpfung sinnvoll?
Covid-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen
Als Geimpfter Vorsichtsmaßnahmen beibehalten?
Wäre eine Impfpflicht sinnvoll?
Korinna Henning: Vor ungefähr drei Monaten, Anfang Juni, haben Sie in einer Podcastfolge gesagt: "Ich gehe davon aus, dass wir es bis Ende August, vielleicht bis Mitte September schaffen werden, 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung doppelt geimpft zu haben." Und dann, so haben Sie es wörtlich gesagt: "Dann werden wir ja in eine bessere Situation kommen." Wir stehen jetzt bei um die 60 Prozent, gerechnet auf die gesamte Bevölkerung. Von einer besseren Situation kann man da eigentlich nicht reden, oder?
Christian Drosten: Genau, das ist leider nicht gelungen, diese Impfquote zu erzielen. Etwas anderes ist auch dazugekommen. Die Delta-Variante stellt sich anders dar, als wir das damals gehofft haben. Wir haben damals darüber geredet, ob das wirklich so schnell überhandnimmt. Das hat sich innerhalb von Wochen beantwortet. Mittlerweile kennen wir aber auch ein paar Eigenschaften dieser Delta-Variante, die dazu führen, dass wir uns die Situation noch mal anders anschauen müssen.
Die Impfquote in Deutschland - Lockdown möglich?
Hennig: Über diese Eigenschaften wollen wir heute auch sprechen. Ich würde trotzdem gern noch einmal auf diese Impfquote gucken. Wenn die jetzt weiter schwächelt, bedeutet das für den Herbst, dass all diese vollmundigen Versprechungen der Politik, die wir jetzt gehört haben, dass wir die dann eigentlich gar nicht eingelöst bekommen werden? Also: Es wird keinen Lockdown geben, was auch immer Lockdown heißen mag?
Drosten: Ja, ich spreche in diesem Zusammenhang nicht so gerne von Lockdown, weil ich glaube, dass die Erfahrungen in anderen Ländern ganz andere waren, in Bezug auf die Maßnahmen der Kontaktbegrenzung. Die sind in Deutschland vielleicht nicht so einschneidend gewesen. Wir werden im kommenden Herbst mit Sicherheit solche Maßnahmen brauchen. Angesichts der neuen Situation, angesichts der niedrigen Impfquote, angesichts dessen, was wir jetzt wissen über Delta, auch angesichts dessen, was wir in einigen Ländern sehen, in denen die Epidemie schon etwas weiter fortgeschritten ist.
Hennig: Wenn wir auf die Inzidenzen gucken, dann ist das in den Bundesländern teilweise noch ein bisschen unterschiedlich. In der Gesamttendenz kann man ein Bild ableiten. Aber welche Rolle spielen noch immer zum Beispiel Reiserückkehrer? Die Sommerferien sind ja ganz unterschiedlich positioniert im Kalender in Deutschland. Welche Rolle spielt da das Ende der Schulferien?
Drosten: Na ja, deutschlandweit betrachtet ist es natürlich so, dass man einen Zufluss von Leuten hat, die das mitbringen. Es gibt sogar Zahlen dazu. Ob die so genau sind, kann man jetzt nicht so sicher sagen. Ich würde die jetzt hier auch gar nicht nennen.
Steigende Inzidenzen während der Urlaubszeit
Man kann sagen, es ist während dieser Urlaubszeit ein konstanter Zufluss erfolgt. Der wird demnächst weniger werden. Die letzten Bundesländer kommen bald aus den Ferien zurück. Wir haben ja im Moment beispielsweise diese Beobachtung in Nordrhein-Westfalen mit einer sehr hohen Inzidenz in den Schulen, wo man wahrscheinlich auch so einen Effekt sieht, dass viele Infektionen mitgebracht worden sind.
Hennig: Es gibt Bundesländer, die weisen Inzidenzen jetzt schon getrennt nach Geimpften und Ungeimpften aus. Wir kennen das aus Daten in den USA, dass besonders die Bundesstaaten mit niedriger Impfquote hohe Inzidenzen haben. Es liegt so ein bisschen auf der Hand, dass das mehr ist als eine bloße Korrelation, sondern dass es da wirklich einen kausalen Zusammenhang gibt. Die Geimpften liegen dann eher so im einstelligen Prozentbereich, was Infektionen angeht, die Ungeimpften so bei 90 Prozent, wenn man das jetzt ganz grob über den Daumen verallgemeinert. Wie sinnvoll sind solche Zahlen eigentlich?
Drosten: Die haben einen gewissen Informationswert, indem man sich daran immer wieder vergegenwärtigen kann, dass die Impfung doch ganz gut hilft. Ich glaube jetzt nicht, dass man daran sehen kann, wie viel wirklich an Infektionstätigkeit beispielsweise in der geimpften Bevölkerung ist. Denn das ist ja zum Glück in den allermeisten Fällen eine unbemerkte Infektion.
Geimpfte bemerken Corona-Infektion oft nicht
Der normale Geimpfte oder die Geimpfte hat eben eine Infektion, die kann passieren. Die wird aber meist gar nicht bemerkt oder die ist so harmlos, dass man sich deswegen jetzt nicht testen lässt. Darum tauchen diese Zahlen dann natürlich auch nicht in den Statistiken auf. Wenn man aber unter den positiv Getesteten schaut: Wie viele waren geimpft? Wie viele waren nicht geimpft? Da fällt einem dann eben schon auf: Die meisten waren nicht geimpft. Das wird sich aber natürlich, wenn der Impffortschritt weitergeht, auch ändern. Also das einfachste Szenario ist, sich zu denken, was wäre denn, wenn die ganze Bevölkerung geimpft wäre? Dann wären ja alle positiv Getesteten eben auch vorher geimpft gewesen. Sagt uns das allzu viel über die Gefährdung? Eigentlich nicht.
Hennig: Nicht wirklich. Wenn man in die Krankenhäuser guckt, dann kriegt man aber natürlich einen etwas deutlicheren Blick, weil dort die Fälle sind, um die es uns ja auch eigentlich geht. Und auf den Intensivstationen, ich habe mal ins DIVI-Intensivregister geguckt, ist zurzeit ein Viertel der Patienten zwischen 50 und 59 Jahre alt und noch so ungefähr jeder Zwölfte ist aber 30 bis 39 Jahre. Das heißt, die Bedeutung der Normalstation nimmt auch zu. Das sind die Intensivstationen. Aber Jüngere haben ja vielleicht oft, wenn sie einen schweren Verlauf haben, keinen so schweren wie Ältere. Was sagt uns das mit Blick auf die Belastung der Krankenhäuser?
Drosten: Das wird eben jetzt im Herbst so sein. Wir werden nicht nur eine Belastung auf den Intensivstationen haben, sondern auch auf den normalen Stationen, auf den Notaufnahmen insbesondere. Wir werden eine sehr hohe Testbelastung haben. Es wird sehr viel gefragt werden: Ist das jetzt Covid-19? Ist das was anderes? Denn es wird so sein, wenn man jetzt die Inzidenz mehr und mehr verlässt als Maßgabe für politische Interventionen zum Beispiel, dann wird diese Inzidenz steigen, und zwar sehr schnell.
Die wird dann auch für andere Atemwegserreger irgendwann steigen. Dann ist diese Frage nach Differentialdiagnose im Krankenhaus wichtig. Das heißt, es wird viel getestet werden müssen. Auf den normalen Stationen wird es so sein, da konkurrieren natürlich diese Covid-19-Patienten, die so krank sind, dass sie zur Sicherheit im Krankenhaus bleiben. Vielleicht ist da eine Grunderkrankung. Man will nicht riskieren, dass sie zu Hause sind, also nimmt man sie auf.
Konkurrenz um Krankenhausbetten im Herbst
Dann konkurrieren die natürlich um Betten mit Patienten, die eigentlich andere Probleme haben, also mit den ganz normalen Krankenhauspatienten. Das wird eine Belastung sein. Dann wird es da auch wieder eine Belastung auf den Testbetrieb geben. Denn bei der Entlassung wird man immer fragen wollen: Ist da noch Coronavirus? Kann man jetzt entsprechend von Hygiene-Kautelen und Quarantäne-Kautelen jetzt entlassen? Das nimmt gleichzeitig aber auch nicht die Belastung von den Intensivstationen weg, denn wir haben weiterhin die Älteren. Es ist leider nicht gelungen, die Impfquote bei den Älteren auf über 90 Prozent zu heben.
Hennig: Ich glaube, bei 81 Prozent stehen wir bei über 60 Jahren.
Drosten: Wir sind gerade im Bereich von 81, 82 Prozent in diesem Fenster. Das sagt natürlich, das wir auch wieder eine starke Belastung mit älteren Patienten auf den Intensivstationen kriegen. Wir haben gleichzeitig wegen der wahrscheinlich ansteigenden Inzidenz auch bei den Jüngeren dieses Problem. Die Jüngeren sind nun aber bekannterweise auch besonders lange auf der Intensivstation. Die halten diesen Kampf auch länger durch.
Hennig: Weil sie seltener versterben.
Drosten: Ja. Und das bringt natürlich eine langfristige Belastung der Intensivbetten. Deswegen bin ich nicht optimistisch für die Situation in den Krankenhäusern.
Die Gefahren der Delta-Variante: Kommt es zu einer stärkeren Erkrankung?
Hennig: Es ist vor wenigen Tagen eine Studie im Lancet erschienen, die versucht abzuschätzen, was wir vor der Sommerpause in den Daten in England schon ein bisschen gesehen haben. Aber Sie waren da immer noch sehr zurückhaltend und haben gesagt: Ja, da gibt es viele Störfaktoren, da kann man jetzt noch nicht so eine klare Hausnummer benennen. Aber Delta macht offensichtlich kränker. Was man da versucht hat, ist, Störfaktoren wie zum Beispiel das Alter herauszurechnen. Denn wir müssen uns klarmachen, in der vorherigen Welle hat Delta noch keine Rolle gespielt. Da war es die Alpha-Variante. Davor war es der Wildtyp des Virus, den wir davor aus Wuhan kannten.
Je mehr Menschen trotzdem, auch wenn die Impfquote noch nicht ideal ist, geimpft sind, umso mehr Jüngere, wie wir es gerade besprochen haben, erkranken. Darum kann man nicht einfach miteinander vergleichen. Die haben das aber rausgerechnet und kommen dann nach dem Rausrechnen dieser Störfaktoren darauf, dass die mit der Delta-Variante ein doppelt so hohes Risiko haben ins Krankenhaus eingewiesen werden zu müssen, wie die mit der Alpha-Variante. Ist das plausibel?
Drosten: Ja, das ist leider plausibel. Es gibt diese Studie. Die Zahlen sind natürlich noch ein bisschen differenzierter zu betrachten, wenn wir das hier machen wollen. Was dort gemacht wurde, ist eine Studie an ungefähr 43.000 getesteten Patienten - die Ende März bis Ende Mai in England aufgetaucht sind. Davon kann man dann schauen: Wer wird hospitalisiert, wer geht nach dem positiven Test ins Krankenhaus?
Ohne da jetzt in die letzten Details einsteigen zu wollen, die Hazard Ratio, also ein Begriff, den wir früher schon mal eingeführt haben, ein Begriff für ein relatives Risiko, ist 2,26 adjustiert für die Krankenhausaufnahme. Das heißt, 2,26-mal so wahrscheinlich ist es, wenn man ein Delta-Virus hat, dass man danach ins Krankenhaus muss nach der PCR-Diagnose, wie wenn man einen Alpha-Virus hat.
Besuche in Notaufnahmen
Ein anderes Kriterium: Wenn man sagt, wir zählen mal nicht nur das Krankenhaus, sondern wir zählen auch noch die Besuche in den Notaufnahmen mit, da ist diese Hazard Ratio 1,45. Das heißt, alle Patienten gehen irgendwie mal eher in die Notaufnahme. Da gleicht sich das wieder ein bisschen aus. Da stellt es sich nicht mehr so überdramatisch dar. Und interessanterweise gibt es auch einen Zahlenwert für Krankenhausaufnahme trotz Impfung.
Es gibt ja Personen, die sind vollständig geimpft, bei denen ist diese Hazard Ratio 1,94, also auch da sind diese zum Glück selten auftretenden Aufnahmen von Delta-Patienten gegenüber Alpha-Patienten doppelt so wahrscheinlich. Hier sind es allerdings sehr kleine Zahlen. Also, das ist eben zum Glück sehr selten. Das ist hier in der Studie so selten, dass man das auch statistisch schon für wackelig halten muss.
Aber insgesamt, wenn man sich diese drei Zahlen anschaut 2,26, 1,45, 1,94, wie man es dreht und wendet, man kommt darauf, dass dieses Delta-Virus offenbar, so wie die Patienten von der Straße wegdiagnostiziert werden, eher ins Krankenhaus müssen. Das heißt natürlich, das macht eine deutlich schwerere Erkrankung.
Hennig: Wie viel Sinn ergibt es vor dem Hintergrund, den wir jetzt gerade besprochen haben: Krankenhauseinweisungen, Delta macht kränker, Inzidenzen unter Jüngeren, tatsächlich sich von der Inzidenz als zentralen Parameter für die Pandemiesteuerung zu verabschieden, so wie es die Politik ja gerade relativ öffentlichkeitswirksam getan hat?
Drosten: Ich glaube, wir brauchen die Inzidenz weiterhin, um weiter auch diese Situation beobachten zu können. In Deutschland haben wir nicht diesen Datenstrom, diese Konnektivität, dass wir also sagen können: Da ist ein Patient, der ist ja registriert, der hat eine Nummer und von da können wir sein ganzes Schicksal durchs Gesundheitssystem eindeutig verfolgen. Das geht in England. Bei uns haben wir das aus verschiedensten Gründen nicht. Das liegt am Datenschutz.
Das liegt aber auch daran, dass bestimmte Forschungsstrukturen dafür in Deutschland nicht existieren. Und wir haben ja nichts anderes in Deutschland als beispielsweise die Konnektivität zwischen Inzidenz und Krankenhausaufnamen mal über die Zeit zu vergleichen, wie sich das so entwickelt. Wir haben diese Krankenhausaufnahme-Meldepflicht ja überhaupt erst im Sommer eingeführt. Dieses System funktioniert noch gar nicht reibungsfrei.
Der Streit um Inzidenzen - die Politik ist gefordert
Das heißt, die Inzidenz jetzt zu verlassen, das wäre ein Blindflug. Und natürlich wird man die auch nicht verlassen. Was ja im Moment in der Politik stark gefordert wird, ist, dass man die Inzidenz nicht mehr zur Maßgabe oder zur alleinigen Maßgabe von politischen Entscheidungen macht. Das ist sicherlich ein Weg, den man auch gehen kann. Wir haben auch schon früher darüber gesprochen, dass es eine Entkopplung geben wird zwischen Inzidenz und Krankenhausaufname.
Wir haben ja immer mal gesagt, die Inzidenz, das ist vielleicht der heulende Motor, aber wenn da kein Gang ist oder die Kupplung durchgetreten ist, dann kommen wir nicht vorwärts. Und diese Geschwindigkeit, das ist ja eigentlich die Krankheitsschwere in der Bevölkerung oder die Belastung aufs Gesundheitssystem. Wir wissen nicht genau, wo wir stehen. Aber wir brauchen ja doch beides. Wir brauchen die Geschwindigkeit und wir brauchen auch den Drehzahlmesser. Den kann man jetzt nicht ignorieren. Und er wird auch nicht ignoriert. Das Robert Koch-Institut zeichnet das ja weiter auf.
Hennig: Wie viel Inzidenz kann man dann aber zulassen? Kann man das quantifizieren? Es gibt da ja so ein paar Rechnungen, wo man sagt: Gerade wegen der veränderten Altersstruktur ist es, wenn wir sie auch als Parameter nicht öffentlich benutzen, aber intern schon, ein Faktor 4, ein Faktor 6, den man da drauflegen muss.
Drosten: Das ist relativ schwer, da Anhaltswerte zu liefern. Also ich bin ein bisschen erstaunt im Moment über das, was man in England gesehen hat. Das Gute ist ja, dass wir einfach aus England sehr gute Daten bekommen. Es gab in der Zeit vor den Sommerferien in England einen sehr starken Inzidenz-Gipfel. Manche sagen, das liegt an der Fußballeuropameisterschaft. Es liegt sicherlich auch daran, dass in England überhaupt das gesellschaftliche Leben zu der Zeit schon sehr stark geöffnet wurde.
Die Situation in Großbritannien
Maßnahmen wurden ganz fallen gelassen. Und dann kam es zu einem Inzidenz-Gipfel, der dann mit Beginn der Sommerferien wieder abgeflacht ist und dann doch auf einem hohen Niveau weiterhin besteht. Man kann aber jetzt schauen, was war eigentlich die Folge dieser hohen Inzidenz zu der Zeit in Form von Krankenhausaufnahmen und Todesfällen? Die Zahlen sind relativ einfach, die sind in der Öffentlichkeit gar nicht so stark diskutiert worden, aber man kann sie sich aus den statistischen Daten einfach ausrechnen.
Die Zahl der Krankenhausaufnamen hat sich nur geviertelt. Ich hätte gedacht, das geht viel stärker runter. Und die Zahl der Todesfälle hat sich gezehntelt, also wir sind noch bei zehn Prozent. Es gibt eine Untersuchung der Universität Cambridge, die ganz anders gemacht wurde, die zu einem sehr ähnlichen Wert bei der Todesrate kommt. Wir wissen ja, die Infektionssterblichkeit liegt in einer Gesellschaft wie bei uns oder in England zwischen 1 und 1,2, 1,3 Prozent. Und man kommt jetzt in der Untersuchung der Uni Cambridge so auf 0,15 Prozent zur gegenwärtigen Zeit. Auch das ist mehr, als ich gehofft hatte.
Also da bleibt noch mehr übrig, an Gefahr zu sterben. Und das ist jetzt natürlich die Situation in England zu der Zeit. Niemand weiß, wie das jetzt wird, wenn in England die Sommerferien ganz zu Ende sind. Niemand weiß, wie es bei uns wird. Ich denke, in England kann man sich auf die eigenen Daten gut verlassen. Ich glaube, man hat dort in den Herbst hinein eine ganz große Chance, dass man in ein anderes Fahrwasser kommt.
Andere Impfquoten in Großbritannien
Ich weiß nicht, ob ich jetzt zu weit aushole, aber wir haben dort, das können wir vielleicht gleich noch mal separat benennen, andere Seroprävalenz-Werte als bei uns, andere Impfquoten. Ohne da jetzt Zahlen zu nennen, wir sind da noch lange nicht, wo man in England ist. Und wir können uns jetzt nicht einfach in nächster Zeit darauf verlassen, dass so ein bisschen an neuer Infektionstätigkeit wieder das letzte bisschen an Bevölkerungsempfänglichkeit verschließt durch neue Immunität und dass man dann in einen relativ ruhigen Herbst und Winter reinkommt.
Sondern wir sind tatsächlich noch so gelagert, dass wir in der höchst empfänglichen Bevölkerungsgruppe zu wenig geimpft haben. Dort wird das Virus dann wieder hingehen und Todesfälle verursachen. Wir haben auch in der großen Gruppe der unter 60-jährigen Erwachsenen viel zu wenig geimpft. Das wird natürlich zu den gesellschaftlichen Prozessen führen. Also nicht nur die Krankenhausbelastung, die wir gerade schon mal kurz besprochen haben, sondern all diese Überlegungen in Richtung: Was kann man jetzt notfallmäßig machen? Also jetzt sehen wir, die Inzidenz schnellt nach oben. Das wird kommen.
Dieser Eindruck wird kommen. Wie kann man jetzt intervenieren? Man kann jetzt nicht plötzlich beschließen, alle doch noch mal schnell zu impfen. Zumal das ja nicht geht. Wir haben keine Impfpflicht oder ähnliche Dinge. Aber selbst, wenn man das wollte, braucht man eine ganze Zeit. Also ich würde mal sagen zwei Monate, vielleicht manche sogar noch länger, um einen wirklichen Immunschutz aufgebaut zu haben, bevölkerungsweit. Es sind ja zwei Impfungen und die Aufbauzeit danach, die 14 Tage, die man braucht, um dann einen wirklich starken Immunschutz zu haben.
Hennig: Um noch mal kurz auf England zurückzukommen, weil Sie das eben angedeutet haben mit der Seroprävalenz, auch wenn ich da ein bisschen vorgreife, wir sprechen darüber gleich noch mal ausführlicher. Die Impfquoten in England sind ja jetzt auch nicht so wahnsinnig gut, aber es hat mehr Infektionen gegeben. Also der Antikörperstatus ist wesentlich besser in England. Kann man das vergleichen, England, Deutschland? Aus Deutschland haben wir ja nicht so gute Daten.
Drosten: Es gibt wieder mal in Deutschland eine Datenlücke. Aber ich glaube, man muss sich deutlich machen, warum die Situation in England anders ist. Also wir haben in England in den jeweiligen Altersbereichen vielleicht fünf, manchmal sogar bis zu zehn Prozent mehr Impfquote. Je nachdem, ob einzelne, Doppelimpfung und so weiter, wie man das alles zählt. Das sieht erst mal gar nicht so beeindruckend viel mehr aus. Aber auch dazu kann man schon was sagen. Und zwar man muss sich einfach mal klarmachen, der Unterschied zwischen 90 und 95 Prozent, das ist eine Verdoppelung.
Denn wir rechnen ja hier die Lücke zu den 100 Prozent und wir rechnen nicht die 90, das ist also nicht mal fünf Prozent mehr, sondern es ist das Doppelte, also in Form von Schutz. Und darum sind eben solche kleinen Prozentunterschiede sehr wichtig, gerade in dieser Zeit, wo sich eine Impflücke in einer gewissen Altersgruppe schließt. Und dann kommt ein ganz wichtiger Faktor dazu, der ist besonders in England tragfähig und erfasst, das ist eben die Rate an genesenen Personen, bei denen man auch durch einen Labortest die Antikörper nachweisen kann.
Und wenn man die Erwachsenen in England zählt, dann ist man inzwischen so im Bereich von 95 Prozent. Und das ist wirklich eine Situation. Da könnte man zumindest, wenn man jetzt die Kinder mal ignorieren wollte, selbst bei der Delta-Variante von einer Herdenimmunität sprechen. Es ist ganz interessant zu sehen, was da zum Beispiel in England vor den Sommerferien passiert ist. Die Inzidenz geht schlagartig nach oben. Ferien kommen, die Inzidenz beruhigt sich sofort.
Schulzeit und Schulferien ändern das Gesamtbild
Vielleicht waren da einfach die Schulen das Zünglein an der Waage. In so einer Zeit, wo man kurz vom Ziel ist, da kann es auch ein Zünglein an der Waage geben. Da kann es eben gewisse Effekte geben. Schulferien, eine neue politische Regel für irgendwas, für bestimmte Gesellschaftsbereiche. Und schon ändert sich das Gesamtbild. Schon kommt man aus einem Anstieg in Richtung eines ruhigen Fahrwassers. Aber wir sind davon leider ganz weit weg. Wir sind nicht bei 95 Prozent. Also wenn man summiert: Impfung plus natürliche Infektion. Wir sind irgendwo bei vier Millionen bekannten kumulativen Fällen.
Die groß angelegte Gutenberg-Studie in Mainz, die hat ergeben, dass wir eine Dunkelziffer von 1,8 haben. Das heißt, wir müssen 80 Prozent obendrauf rechnen auf die bekannten Fälle. Da wären wir also irgendwo im Bereich von 8,7 Prozent. Ich habe es mir aufgeschrieben, solche Sachen rechne ich mir hier immer in meinem Notizbuch aus. Das wären also 7,2 Millionen von unseren 83 Millionen Deutschen. Vielleicht liegen wir auch ein bisschen höher. Es gibt eine Studie aus dem RKI, die basiert auf Blutspenden, die kommt auf eine Schätzung von 14 Prozent. Aber ich denke, dass wir uns eher bei diesem anderen Wert gedanklich einordnen sollten. Das kommt dann zu einer bevölkerungsweiten Quote von 61 Prozent. Also da sind wir einfach nicht in einer Situation, wo das Fenster fast schon geschlossen ist.
Letzte Anstrengung fehlt in DeutschlandHallo
Man muss nur noch einmal so ein bisschen nachtippen und schon kommt der Wind nicht mehr rein. Das ist einfach nicht so bei uns. Das Fenster steht immer noch ziemlich weit auf. Man hat es so ein bisschen zugeschoben, aber das steht noch nicht auf Kippe oder so. Ich weiß nicht, welche Bilder man da benutzen soll. Das ist nicht vergleichbar. Und es ist eben diese letzte Anstrengung, die gerade sein müsste und die wir in Deutschland anscheinend nicht hinkriegen.
Hennig: Kippfenster ist im englisch-deutschen Vergleich natürlich ein schönes Beispiel, ein schönes deutsches Beispiel. Jetzt muss man zur Vollständigkeit des Bildes aber noch dazusagen, England hat sich das für einen harten Preis erkauft, sie hatten viel mehr Todesfälle. Ich glaube, rund 75 Prozent mehr anteilig gerechnet auf die Bevölkerung und ins Verhältnis gesetzt als in Deutschland. Trotzdem, auch wenn Sie keinen Faktor für die Inzidenz benennen können, den wir drauflegen können im Vergleich zum Jahr davor, weil Sie sagen, das ist eben schwierig: Kann man denn grundsätzlich sagen, wenn die Fallzahlen wieder so massiv steigen, so rapide steigen und ins Exponentielle gehen, dass dieser Faktor ohnehin sehr schnell wieder aufgefressen wird?
Drosten: Sicher, der ist gleich verbraucht. Also stellen wir uns einfach mal einen Faktor vier vor oder so etwas. Also wir hätten noch ein Viertel von dem, was wir vorher hatten, an Gefährdung. Dann könnte man sagen: Okay, dann können wir uns viermal mehr Inzidenz leisten. Aber die ist ja sofort erreicht. Also stellen wir uns vor, wir haben eine Inzidenz von 100 bis zu 200 und dann 400, das sind zwei Verdopplungszeiten. Aber so eine Verdopplungszeit, das sind ungefähr zehn Tage. Also was soll man daraus machen?
Dann hätte man drei Wochen Zeit gewonnen. Zweimal zehn Tage sind ungefähr drei Wochen, bis man dann wieder am selben Punkt ist. Schon daran kann man sehen, angesichts der Zahlen ist es eine gewagte Vorstellung jetzt zu sagen, wir können ganz gelassen in den Herbst gehen. Ich bin natürlich kein Hellseher. Es kann sein, dass ich auch gewisse Effekte übersehe. Also es gibt Effekte, die man ganz schwer greifen kann. Netzwerkeffekte, Gruppierungseffekte.
Hennig: Also wie viele Kontakte welche Bevölkerungsgruppen haben?
Drosten: Ja, genau. Dass man eben sagt: Na ja, es stimmt schon, da ist eine Lücke. Aber diese Lücke, die ist da in der Ecke und die große Masse, die ist doch geimpft und das kommt in die Ecke da gar nicht rein, weil hier müsste es herkommen aus der großen Masse und da ist das Virus kontrolliert. Also solche Gruppierungseffekte könnte es geben. Es kann aber auch anders sein, dass es sich gerade in dieser ganz ungeschützten Gruppe vollkommen unkontrolliert weiterverbreitet, so als hätte man gar nicht geimpft.
Diese Dinge kann ich jetzt auch nicht voraussagen. Ich bin da manchmal in einer glücklichen Situation. Ich bin nur ein einfacher Virologe, der hier so Sachen sagen kann, ohne das wirklich quantitativ zu hinterlegen. Während die Kolleginnen und Kollegen, die quantitative Effekte erfassen, also die Modellierer beispielsweise, denen raucht einfach der Kopf. Die wissen auch nicht genau, was sie sagen sollen, weil diese Modellierung wird ja jetzt auch immer schwieriger.
RKI-Modellierung auf Stand von Juli
Das Robert-Koch-Institut hat ja eine Modellierung im Juli vorgelegt. Auf der basieren im Moment wahrscheinlich die größten Teile der öffentlichen Auffassung und der politischen Planung. Da wird gesagt, 85 Prozent der Erwachsenen unter 60 und 90 Prozent der Erwachsenen über 60 müssen doppelt geimpft sein. Dann ist der Herbst zu managen. Das Ganze hat auch noch mal ein Update bekommen. Man weiß jetzt, die Kinder über zwölf sind jetzt auch impfbar. Dann kann man da auch noch mal nachrechnen und das Modell ein bisschen nachpflegen. Das ist auch vom RKI gemacht worden.
Da ist so ein Szenario, was dann immer gezeigt wird, als ein schlechtes Szenario, wo man vielleicht 75 Prozent Impfabdeckung erreicht und dann gibt es 85, 95. Dieses 75-Prozent-Szenario haben wir aber noch gar nicht erreicht. Das ist so ein Problem. Und dann gibt es andere Dinge, wo man auch sagen muss, wenn man da genau auf diese Modellierung vom RKI draufschaut, dann müsste man schon sagen, das RKI hat das zwar sorgfältig gemacht, aber das ist natürlich auch eine Annahme, die auf einem alten Wissensstand von Juni, Juli basiert. Da wurde das Modell aufgesetzt.
Was da nicht drin ist, ist, dass Delta doppelt so viel Krankenhausaufnahme macht. Das ist natürlich ein wichtiger Faktor. Und es sind ein paar andere Effekte da einfach vielleicht noch nicht so ganz berücksichtigt. Die kann man ja vielleicht auch noch mal zusammenfassen. Es ist eben die Verbreitung, da muss man eine gewisse Annahme treffen. Wie ist der R-Wert von diesem Delta-Virus? Und da ist eine Annahme getroffen worden. Da findet man in der Literatur auch höhere Annahmen, nicht so konservative Annahmen.
Delta-Virus mit Windpocken verglichen
Hennig: Es gab Schätzungen vom CDC, die das Delta-Virus mit den Windpocken verglichen haben.
Drosten: Ja, genau. Also das ist ein relativ plakativer Begriff in den Medien gewesen. Aber es gibt auch die Einschätzung, dass Delta tatsächlich eine Verdopplung der Übertragungsrate macht. Was eben auch fehlt, ist eine neue Erkenntnis, dass unter dem Delta-Virus der Übertragungsschutz noch schneller nach der Impfung schwindet. Wir haben das im Podcast ja immer wieder besprochen, müssen das vielleicht gleich auch noch mal ein bisschen vertiefen, aber die Impfung hält nicht ewig.
Auch die natürliche Infektion hält nicht ewig im Immunschutz, das geht also wieder weg. Weil aber das Delta-Virus noch ein bisschen Immune-Escape macht und Fitness-Gewinn hat, geht das jetzt effektiv noch schneller wieder weg. Und wir haben da inzwischen auch Daten, die uns zeigen, dass gerade am Anfang der Infektion auch wirklich infektiöses Virus im Hals ist. Wir haben immer davon geredet: Wir wissen nicht genau, da ist ja auch IgA und vielleicht schwimmt da Virus nur in einer Suppe von Antikörpern und das Virus ist in Wirklichkeit verkleistert.
Hennig: IgA sind die Antikörper, die auf der Schleimhaut eine Rolle spielen.
Drosten: Genau. Und das scheint in Grenzen auch so zu sein. Aber am Anfang der Infektion nach Daten, die jetzt rausgekommen sind, da gibt es eine wichtige Studie aus Rotterdam dazu. Es sieht so aus, als wäre da zu viel Virus für die Antikörper. Also das Virus ist verkleistert, aber in der Anfangszeit der Infektion ist da zu viel Virus, da macht der ganze Kleister auch nichts mehr aus. Das wird offenbar infektiös abgegeben. Man kann also Virus in Zellkultur isolieren in der Frühphase der Geimpften, die sich dann infizieren. Wenn ein Modellierer das hört, ist das natürlich ein Alarmsignal.
Denn wir haben ja in diesen Modellen die Annahme, dass diejenigen, die das überstanden haben, das so schnell nicht wieder kriegen und auch nicht mehr wirklich weitergeben können. Die Frage ist: Wie belastbar ist diese Annahme eigentlich noch? Da kann man gar nicht mehr wirklich quantitativ rechnen. Diese Dinge muss man aber in einer vorsichtigen Planungsüberlegung zumindest mal im Hinterkopf haben, dass es sein könnte, dass man sich hier einfach vertut, also dass man was ganz Wichtiges übersieht.
Ich möchte da jetzt alles andere als Panik verbreiten oder so. Ich will nur darauf hinweisen, mit den kalten Temperaturen wird der Infektionsdruck wieder steigen. Und die Vorstellung, dass wir jetzt ohne Maßnahmen in den Herbst gehen können, halte ich für naiv. Und selbst mit den Maßnahmen muss man überlegen, ob nicht das Delta-Virus die Karten in diesem Spiel neu gemischt hat und ob wir uns nicht täuschen.
Hennig: Wenn Sie sagen "ohne Maßnahmen": Wir haben ja jetzt schon noch Maßnahmen, die noch bestehen. Wir haben Maskenpflicht in öffentlichen Bereichen. Da müsste dann möglicherweise noch was draufkommen, was Kontaktreduzierung angeht.
Drosten: Richtig. Das Robert Koch-Institut geht in seiner Modellierung von einer zweimaligen Reduktion aus. Einmal zum Herbst hin zehn Prozent und dann mitten im Herbst, also im November noch mal 30 Prozent. Gegenüber dem, was so im Sommer war, ist das fast eine Halbierung. Was bedeutet das? Es ist ein bisschen schwer zu greifen. Das ist etwas mehr noch, als es im Frühjahr gewesen ist. Diese Halbierung betrifft ja nicht alle Gesellschaftsbereiche gleich. Wir haben das damals eben gesellschaftlich so vermittelt, viele Arbeitsstätten sind geöffnet geblieben. Der Handel musste um Weihnachten herum tatsächlich fast schließen, die Schulen waren geschlossen. Man teilt sich diese Last auf.
Also diese Reduktion der Kontakte wird auf verschiedene Gesellschaftsbereiche verteilt. Und in einigen Bereichen ist die Last besonders hoch, weil in anderen Bereichen die Last nicht mitgetragen wird. Also so ist das gesellschaftlich zu vermitteln. Und ich finde es ehrlich gesagt absolut schrecklich, dass wir hier darüber jetzt wieder reden müssen. Ich hatte wirklich gedacht, wir kommen aus der Sommerpause mit einer hohen Impfquote und können im Prinzip jetzt noch mal in ein paar Podcastfolgen feiern, wie gut wir das doch in Deutschland alles hingekriegt haben. Und dann kommen wir so langsam in ein anderes gesellschaftliches Fahrwasser.
Und jetzt muss ich hier doch wieder solche mahnenden Dinge sagen. Und das aus diesem dummen Grund, weil wir die Impfquote nicht erreicht haben. Es ist wirklich so, dass man schon sagen kann, auch mit dem Delta-Virus ist das zu schaffen. Also wenn wir eine Impfquote von 90, 95 Prozent schaffen würden. Das ist leider im Moment Utopie. Ich frage mich eigentlich: Warum? Dann könnte man diese Pandemie wegimpfen, dann würden wir zum Herbst und Winter hin wirklich das schaffen, was die Impfung eigentlich schaffen kann, nämlich uns über diese Schwelle zu einem endemischen Zustand zu helfen.
Hennig: Sie haben eben schon ein wichtiges Thema angesprochen, Stichwort Impfdurchbrüche. Das wird viel diskutiert. Da würde ich gleich gerne draufkommen. Eine letzte Frage noch bei dem großen Thema Inzidenz, gerade, wenn wir uns angucken, die Impfquote wird nicht erreicht und auch die Erstimpfungen liegen gar nicht weit weg von den doppelt Geimpften in Deutschland, sodass man nicht sagen kann: Na ja, aber in ein paar Wochen, wenn die dann wirklich alle brav ihre zweite Dosis abholen, wird es besser aussehen.
Das ist in manchen Ländern in Europa ein bisschen besser. Ich weiß, Sie haben das schon mal im Podcast verneint. Aber wäre es denn nicht trotzdem sinnvoll, die Inzidenz wirklich auch auf Ungeimpfte zu berechnen und klarzumachen, hier erwarten wir die größte Krankheitslast. Und wenn wir die gesamte Inzidenz einfach auf diese Bevölkerungsgruppe beziehen, dann können wir euch noch deutlicher machen, was euch da blüht.
Drosten: Klar, vom Informationswert ist das natürlich wertvoll. Also man sieht, man kann Leuten vermitteln, die nicht geimpft sind, dass für sie die Situation anders aussieht. Es ist natürlich so, in Wirklichkeit gibt es aber auch Infektionen bei den Geimpften. Das muss man sich schon auch klarmachen. Und ich frage mich tatsächlich, ob man diese Information jetzt braucht für den Informationswert oder ob man noch mal anders eine Ansprache machen muss.
Oder ob man eben doch über staatliche, politische Maßnahmen etwas machen muss. Oder ob man dann später andere politische Maßnahmen braucht, die im Bereich von Kontaktreduktion liegen. Denn es nützt ja nichts. Also es ist ja ganz egal, warum jetzt jemand ein Intensivbett braucht, ob das aus Gleichgültigkeit war oder ob das aus Überlegung war.
Belastung für das Gesundheitssystem
Also ob ich mich bewusst nicht impfen lasse oder ob mich die Botschaft nicht erreicht hat. Ganz egal. Ich brauche ein Intensivbett und ich werde ja auch nicht im Krankenhaus abgewiesen. Es wird im Krankenhaus niemand sagen: Moment mal, Sie sind aber nicht geimpft. Sie hätten sich doch impfen können. Jetzt fährt der Krankenwagen mal wieder zurück nach Hause. Das passiert ja nicht.
Das heißt, die Belastung aufs Gesundheitssystem kommt, und die Politik muss was machen. Entweder sie würde jetzt etwas machen. Die Politik ist ja sehr bemüht. Das muss man ja sagen. Also die Appelle sind ja da. Oder man muss eben später in Maßnahmen eintreten. Aber ich kann da als Wissenschaftler eben nur die Situation beschreiben und darauf hinweisen. Das mache ich, indem ich mich an die Öffentlichkeit wende. Das ist für mich überhaupt der einzige Grund, das zu tun, dass man vielleicht an einigen Stellen aufpassen muss, dass man nichts übersieht.
Ich möchte wirklich keinerlei Angst schüren oder so etwas, sondern ich möchte einfach nur sagen: Es gibt Effekte, die kommen garantiert. Das ist der Infektionsdruck im Winter, der kommt. Es gibt Erfahrungen, die sollte man sich anschauen. Man kann das vielleicht, wenn man in Zahlen bestimmte Dinge lesen kann, weitergeben, dann kann man das vermitteln. Mehr kann ich als Wissenschaftler da nicht tun.
Impfdurchbruch - die Übertragung des Virus trotz Impfung
Hennig: Die Rolle der Geimpften in den Netzwerken und bei der Übertragung des Virus trotz Impfung, ohne dass die in der Regel schwer erkranken, wird gerade viel diskutiert unter der großen Überschrift "Impfdurchbruch". Ich habe den Eindruck, dass sich aufgrund dessen auch so ein bisschen eine Auffassung durchsetzt, die Impfung hilft ja eh nicht gegen Delta. Das ist natürlich fatal, wenn wir eine hohe Impfquote erreichen wollen, weil das sind vielleicht noch nicht mal Impfgegner, vielleicht noch nicht mal richtige Skeptiker, sondern genau die, die es bisher noch gar nicht geschafft haben, das Risiko nicht so groß fanden und jetzt sagen: Jetzt nützt es ja auch nichts mehr. Vielleicht können wir das Thema Impfdurchbruch mal ein bisschen näher betrachten und vor allem auch mal definieren. Was ist überhaupt ein Impfdurchbruch?
Drosten: Ein Durchbruch ist eine Infektion trotz Impfung, und zwar eine, die man bemerkt. Also es gibt offenbar ja auch ständig Infektionen, die man zum Glück nicht bemerkt. Darum ist man ja geimpft. Also wir müssen uns vorstellen, die Impfung, das ist eine Injektion hier und nicht eine Infektion im Rachen. Das bedeutet also, wenn wir uns jetzt impfen lassen, dann machen wir kurze Zeit IgA-Antikörper, die landen auch auf den Schleimhäuten.
Nach zwei Monaten sind die wieder weg. Dann sind die Schleimhäute eigentlich kaum geschützt, das heißt, da wird Virus im Rachen landen und ein bisschen replizieren. Es wird uns nicht groß stören, denn vor der Weiterverbreitung sind wir durch die Antikörper im Blut geschützt, die dann auch wieder mit eine Rolle spielen, wenn Entzündungsprozesse in Gang kommen - und insbesondere die zelluläre Immunität, die auch da ist, die Immunzellen wandern ganz schnell dahin und die Infektion wird im Keim erstickt.
Infektion im Alltag kaum zu merken
Wir kriegen das im Alltag kaum mit. Asymptotisch. Oder wir haben so ein bisschen Kratzen im Hals. Vielleicht husten wir auch mal kurz. Aber es ist dann gleich wieder vorbei. Ist das ein Impfdurchbruch? Nur dann, wenn ich mich testen lasse und mir sagt jemand: Moment mal, Herr Drosten, Sie sind doch geimpft und jetzt haben Sie das Virus. Dann sage ich: Okay, das ist ein Impfdurchbruch. Aha. Also dieses Wort Durchbruch klingt schon irgendwie so schrecklich. Aber das ist meistens der Impfdurchbruch.
Und dann gibt es so Arten, solche Impfdurchbrüche zu zählen. Da wird es ein bisschen schwierig, wenn man sich jetzt die Studien anschaut. Ich habe mittlerweile manchmal ein bisschen das Gefühl, die Allgemeinheit, die Öffentlichkeit ist so ein bisschen von Evidenz geblendet. Also wir haben inzwischen für alles eine Studie und diese Studien werden über Pressemitteilungen in die Medien gespült und dann kommen die abends in den Hauptnachrichtensendungen und man fragt sich: Gehört das jetzt hierhin? Wenn man als Wissenschaftler diese Studie gelesen hat, dann denkt man sich schon: Hm, also das müsste jetzt nicht in die Hauptnachrichten. Das wird bestimmt missverstanden. So.
Zwei Sorten von Impfstudien
Und jetzt gibt es bei dem Thema Impfdurchbruch zwei Sorten von Studien. Die einen sind die, die Durchbrüche geradezu suchen. Zum Beispiel gibt es jetzt eine Studie aus Israel, im New England Journal publiziert, bei Krankenhausmitarbeitern. Es sind ungefähr 1.500, also 1497, und davon gab es 39 Durchbruchsinfektionen. Und jetzt ist natürlich die Frage: Das ist ja eigentlich gar nicht mal so wenig. Also so 40 von 1.500 ungefähr, hätte ich gar nicht gedacht, so viele. Aber jetzt muss man sich natürlich klarmachen: Das ist eine Studie, die hat danach gesucht.
Und in welchem Setting ist das passiert? Das ist bei medizinischem Personal passiert, wo man ganz früh angefangen hat zu impfen. Da wusste man: Aha, die sind geimpft. Und wenn wir jetzt eine Studie machen wollen, wenn wir die ersten sein wollen, die so was publizieren, dann gehen wir doch zu denen hin. Die sind als Erstes geimpft, gleichzeitig sind die ja greifbar, die sind hier in unserem Krankenhaus, unsere Kollegen. Also testen wir die ständig mit der PCR. Wenn ich aber als Normalbürger eine Durchbruchsinfektion bekomme, dann sehe ich die ja nur wegen den Symptomen. Sonst würde ich mich ja gar nicht testen lassen.
Hier hat man aber die ganze Zeit den Leuten hinterhergetestet. Ein-, zweimal in der Woche eine PCR gemacht. Dann sieht man auch ganz asymptotische Durchbruchsinfektionen. Und dann sind das natürlich viel mehr. Und dann ist natürlich die Frage bei diesen Krankenhausmitarbeiter-Studien: Wie ist denn die Exposition? Also ich als Normalbürger würde mir meine Durchbruchsinfektion vielleicht in der Straßenbahn holen, ohne es zu merken, oder so was. Das ist schon selten. Ich fahre nicht so oft Straßenbahn. Während aber jemand, der zum Beispiel als Krankenpfleger in einem Krankenhaus arbeitet, jeden Tag auf der Notaufnahme Kontakt mit hochinfektiösen Patienten hat. Und der kriegt natürlich auch eine Durchbruchsinfektion mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Also man könnte sagen, je genauer man hinschaut, je stärker die Exposition.
Und eine Sache noch: je länger man wartet. Wir können ja auch sagen, stellen wir uns vor, 100 Prozent der Bevölkerung wären geimpft, dann sind demnächst alle Infektionen Durchbruchsinfektionen. Und jetzt müssen wir nur warten und dann werden das immer mehr, denn wir kommen in einen endemischen Zustand rein. Also das integriert auch noch über die Zeit. Diese Art von Studie ist interessant, aber die ist auch nicht so, dass sie die Realität reflektiert.
Und dann gibt es eine andere Art von Studie. Das ist die Studie an den schweren Fällen. Also wenn man sagt: Aha, hier auf unserer Intensivstation, jetzt zählen wir mal, da sind 20 Patienten, wie viele von denen hatten eigentlich vorher schon eine Impfung? Und das macht man mit zehn oder 20 Intensivstationen. Dann kommt man auf Zahlen, die auch wieder erschreckend sind. Da heißt es dann plötzlich zwei, drei oder sogar fünf Prozent unserer schweren Fälle waren doch eigentlich vorher schon geimpft. Aber das ist die Spitze des Eisbergs.
Hennig: Und das sind oft Menschen mit Vorerkrankungen.
Drosten: Genau, und das ist da jeweils die Selektion. Warum kommt man auf die Intensivstation? Das muss man dann immer noch wieder dazusagen. Da ist eine Grunderkrankung. Und häufig ist es sogar so, dass man gar nicht genau weiß, ob der Einweisungsgrund überhaupt Corona war. Da sprechen wir nicht nur von einem Risiko, das sich erhöht für einen schweren Coronaverlauf, wenn die Infektion kommt, und dann kommt man auf die Intensivstation. Sondern da sind dann zum Teil auch Fälle dabei, die sind wegen etwas anderem auf der Intensivstation und dann hat man auf der Station obligatorisch die Patienten getestet und gesehen: Hups, der hat ja Corona.
Hennig: Das ist ja das, was wir bei Kindern auch schon früh in der Pandemie gesehen haben, weil die möglicherweise asymptomatisch waren. Das haben die Kinderärzte ganz oft so formuliert, auch in der Öffentlichkeit. Da ist ein Kind ins Krankenhaus gekommen wegen irgendwas ganz anderem. Dann hat man einen PCR-Test gemacht aus Pandemiegründen und hat dann festgestellt, das Kind ist Corona-positiv. Und genau so was sehen wir jetzt möglicherweise auch bei Geimpften.
Das heißt, um es noch mal festzuhalten, die Impfung wirkt nicht gegen Delta in der persönlichen Impfmotivation. Das ist Quatsch, weil sie weiterhin vor schweren und möglicherweise auch vor moderaten Verläufen schützt, ich möglicherweise gar nichts mehr merke. Aber epidemiologisch gesehen ist es natürlich trotzdem nicht ganz egal. Zum Beispiel Sie und ich, wir haben Kinder, wenn wir uns jetzt infizieren an irgendeiner Stelle, tragen wir es vielleicht nach Hause und stecken einen ungeimpften Menschen an.
Unbedingt impfen lassen
Drosten: Genau in der Einzelfallbetrachtung ist das so. Wir haben vorhin ja gesagt, als wir die eine Studie besprochen haben, auch Geimpfte kommen mit Delta doppelt so häufig ins Krankenhaus wie mit Alpha. Ich habe aber auch dazugesagt, das waren so kleine Zahlen, dass das statistisch schon wackelig ist. Das heißt, das ist extrem wenig, dass man überhaupt entweder Alpha oder Delta als Geimpfter bekommt. Wenn man sich klarmacht, das war eine Studie in England, wie viele in England ja schon geimpft sind. Das ist die Bevölkerungsbetrachtung. Es ist ganz klar, man muss sich unbedingt impfen lassen. Das ist ein Superschutz, auch gegen Delta.
Während in der Individualbetrachtung die Überlegung eine Rolle spielt: Was ist hier los im Hals? Wenn ich jetzt auch eine stille Infektion kriege, die ich gar nicht bemerke. Ja, da kann Virus sein. Und gerade bei Delta haben wir jetzt Labordaten, die uns sagen, da ist am Anfang, wo das Virus so richtig hochkocht, auch mehr Virus als neutralisierende Antikörper im Rachen. Das heißt, am Anfang dieser stillen, unbemerkten Infektion, die wir dann trotz Impfung haben können, sind wir wahrscheinlich infektiös. Das ist aber leider dummerweise gerade die Phase, wo ja diese Infektion übertragen wird. Zwei Tage vor, zwei Tagen nach Symptombeginn. Und auch ohne, dass da Symptome sind. Dieser Zeitpunkt des Symptombeginns, den können wir uns da ja immer noch hindenken.
Stellen wir uns vor, die Symptome wären ultramild, dann kann man aber doch sagen, diese ganz milden Symptome, die gingen da los. Zwei Tage vorher, zwei nachher sind wir wahrscheinlich als Geimpfter doch auch noch infektiös. Und das müssen wir in die Berechnung mit reinrechnen. Dann muss ich leider noch mal einen Nachsatz sagen: Wir sind infektiös, aber wir sind dennoch wieder nicht so infektiös wie ein Ungeimpfter. Das kommt noch mal dazu. Das ist also eben wieder mal nicht schwarz und weiß. Wir sind nicht weiß, wir sind grau, ein Ungeimpfter* ist schwarz. So vielleicht.
Schnelltest trotz Impfung?
Hennig: Heißt das denn aber nicht, dass es trotzdem Sinn ergeben würde, in bestimmten Situationen Geimpfte auch mit dem Schnelltest sicherheitshalber mit einer Maßnahme mehr zu testen?
Drosten: Das ist wieder ein ganz eigenes neues Thema. Also diese Testung, das muss man vielleicht einfach mal vorwegsagen, ist grundsätzlich eine Krücke, egal, wie wir das in der Vergangenheit benutzt haben. Es gibt natürlich besondere Bereiche, da ist es durchaus sehr nützlich. Aber insgesamt betrachtet ist das schlechter als die Impfung. Und das ist, glaube ich, was wir uns einfach klarmachen müssen. Also die Wissenschaft hatte für die Gesellschaft ein großes, vorläufiges Angebot. Das war die Testung, solange der Impfstoff noch nicht fertig war.
Jetzt ist der Impfstoff aber da, und zwar in ausreichender Menge. Und jetzt ist immer die bessere Antwort die Impfung. Unter diesen Kautelen muss man auch als Wissenschaftler dann so langsam mal darüber nachdenken, ob es nicht schädlich ist, wenn man zu sehr für die weitere Testung argumentiert bei den Geimpften, denn die Geimpften müssen doch auch was davon haben, dass sie geimpft sind im Alltag. Und es ist doch auch wirklich so, dass da weniger Virus ist, wenn man geimpft ist. Selbst in einer Situation der Durchbruchsinfektion sind wir nicht schwarz, sondern nur grau in irgendeiner Schattierung.
Wir sind eben nicht so infektiös. Um noch mal auf diese Testfrage zu kommen und die vielleicht mit einem Alltagsbeispiel zu beantworten. Stellen wir uns mal ein Restaurant in diesem Herbst vor. Wir sind jetzt in einem Stadtteil, wo 90 Prozent der Leute geimpft sind.
Beispiel Ansteckung im Restaurant
Das ist ein gut situierter Stadtteil, wo die Leute vielleicht eine hohe Impfquote haben. Und die gehen abends ins Restaurant, dann sitzen die da, 20 Leute vielleicht, ein kleines Restaurant. Und dann hat man direkt an der Tür eine Testgelegenheit, Testzentrum oder von mir aus wird an der Tür getestet. So, jetzt sitzen da die Geimpften und einer oder zwei von denen werden ein bisschen Virus im Hals haben, ohne das zu merken. Das wird so sein. Und jetzt kommt da an der Tür einer rein und den testet man positiv. Den lässt man jetzt nicht ins Restaurant, der ist nicht geimpft. Also der will sich freitesten, den lässt man nicht rein.
Dem kann man ja jetzt eigentlich nur sagen: Tut mir leid für Sie. Sie sind positiv. Ich wünsche Ihnen einen guten Verlauf, dass Sie keinen schweren Verlauf haben. Aber mehr als diesen Wunsch kann ich Ihnen nicht geben. Der hat nichts davon für sich selbst. Die Frage ist: Hat jetzt der Rest der Gesellschaft, also die 20 Leute, haben die was davon, dass er nicht ins Restaurant durfte? Eigentlich nicht, denn da sitzen sowieso ein oder zwei, die unbemerkt schon infiziert sind und den anderen ist es auch relativ egal. Die sind geimpft.
Die meisten sind dadurch wirklich komplett geschützt. Während der andere, der ins Restaurant rein will, negativ ist. Den testet man und sagt: Okay, Sie sind zwar nicht geimpft, aber Sie sind negativ getestet. Sie können bei uns reinkommen und können sich an Tisch setzen. Was hat man jetzt davon? Also der wird sich ja in dem Restaurant wahrscheinlich infizieren, weil einer von den Geimpften unbemerkt infiziert ist und neben dem sitzt. Und dann hat man den auch dadurch nicht geschützt.
Infektionskontrolle durch Impfung
Also die Impfung hat eben eine Infektionskontrolle in sich selbst. Während die Testung nur ein Anzeiger ist. Und dieser Anzeiger ist nützlich, wenn man den bevölkerungsweit hat. Also wenn man beispielsweise so wie im letzten Frühjahr zehn Millionen Tests pro Woche macht, also Antigen und PCR zusammengerechnet, und dann weiß, da sind überall in der Bevölkerung ganz viele solcher Anzeiger. Diese Anzeigen von Infektionen, die haben dann Konsequenzen, nämlich Quarantäne. Und das ist dann das, was eigentlich die Weitergabe durchbricht. Nicht die Testung selbst, sondern die Quarantänemaßnahmen, die Folgen.
Aber das ist nur etwas bevölkerungsweites. Und das funktioniert nur, wenn man auch bevölkerungsweit testet. Wenn man in einer individualmedizinischen Situation ist, bringt das nichts mehr. Sie haben schon recht, man könnte natürlich auch sagen, an der Tür des Restaurants müssen sich alle immer testen, ob geimpft oder nicht. Das stimmt. Dann würde man diesen einen oder die zwei, die unbemerkt infiziert sind, vorher rausfiltern. Die dürften dann auch nicht essen gehen. Aber erstens, ich bezweifle, dass das gut für die Impf-Adhärenz wäre. Ich glaube, dann hätte man wirklich noch den letzten Enthusiasmus für die Impfung zerstört bei Leuten, die sich nicht speziell mit medizinischen Problemen beschäftigen wollen. Man hätte auch gleichzeitig ein ungeahntes logistisches Problem geschaffen.
Endliche Testkapazität
Denn jetzt ist es wieder so, die Testkapazität ist nicht unendlich. Die ist zwar ziemlich groß und die Labore können noch deutlich mehr leisten, aber ich glaube ehrlich gesagt, die werden im Labor im Herbst ihre Laborkapazität wieder für Patienten brauchen, im Krankenhaus und in den Arztpraxen. Gleichzeitig hätten wir dann unterm Strich einen ganz großen Teil der Impfung, nämlich den gesellschaftlich kulturellen wirtschaftlichen Nutzen der Impfung, einfach über Bord geworfen. Und das können wir ja nicht machen. Also wir wollen ja durch die Impfung eben schon auch einen Bevölkerungseffekt erzielen. Also auch wenn die Stiko sagt, es geht nur um den Nutzen für das Individuum. Das ist die Sicht der Stiko. Die ist deswegen nicht falsch, aber die ist nicht komplett. Wir wollen auch den Bevölkerungsnutzen. Wir wollen die Kultur retten. Wir wollen die Gastronomie wieder öffnen. Wir wollen all diese Bereiche, allen voran natürlich auch den Schul- und Bildungsbetrieb. Das alles ist ja auch ein ganz hohes Gut, das wir durch die Impfung wieder herstellen.
Hennig: Wenn wir beim Individualschutz sind, dann ist das natürlich ein bisschen ein Missverständnis. Wenn ich als Ungeimpfter irgendwo reingehe, das ist genau das, was Sie geschildert haben, mit lauter Geimpften, dann geht es ja gar nicht mehr darum, die Geimpften vor mir zu schützen, sondern ich muss geschützt werden. Und das kann ein Test nicht leisten.
Drosten: Genau. Und wenn die Ungeimpften immer in der Minderheit sind, dann kann man da über Testung ja nicht mehr viel bewirken.
Hennig: Ich möchte trotzdem noch etwas nachtragen bei der Frage nach Schnelltests für Geimpfte. Sie hatten in einer früheren Folge mal gesagt: Na, ob die Schnelltests überhaupt gut bei Geimpften funktionieren, weil die ja Antikörper machen? Jetzt sagen Diagnostiker, die meisten Schnelltests testen gar nicht auf das Spike-Protein, wogegen Antikörper gebildet werden, sondern auf ein anderes des Virus, auf das Nukleokapsid. Also wenn ich privat zu Hause Geimpfte treffe und sie haben Kinder und wir sagen, wir wollen sicher gehen, kann ich als Geimpfter durchaus noch einen Schnelltest machen und hoffen, dass er ein bisschen was anzeigt.
Drosten: Ja, absolut, genau. Was ich damals angesprochen habe, ist eine Erfahrung mit Influenza. Also bei Influenza ist in dem Impfstoff das ganze Virus drin. Aber da ist es auch nicht nur die Impfung, da sind es einfach die laufenden Infektionen, die die Testung stören. Also da ist Virus, da ist aber auch Antikörper. In diesem Fall gegen das Nukleokapsid. Dagegen testet der Antigen-Schnelltest, darum funktioniert das nicht so gut.
Das ist eben bei dem Corona-Test auch so. Also jemand, der Antikörper gegen das Nukleokapsid hat, die kommen nicht aus der Impfung, die kommen aus einer natürlichen Infektion. Das ist richtig. Da ist der Test einfach trotz einer Viruslast im Hals bei einer Zweit-, Drittinfektion nicht mehr effizient. Damit müssen wir rechnen.
Hennig: Über Tests werden wir gleich auch noch ein bisschen reden müssen. Auch was die Strategie für den Herbst angeht, die große Debatte um 2G und 3G. Wenn wir die Impfdurchbrüche trotzdem noch mal weiter betrachten, gerade in der Motivation fürs Impfen. Sie haben es schon erwähnt, da gibt's eine Studie aus Israel. Es gibt ganz verschiedene Studien, die über den Sommer erschienen sind zu Impfdurchbrüchen, die das betrachten.
Impfdurchbrüche in anderen Ländern: Beispiel Israel
Wenn wir uns angucken, wie Impfdurchbrüche in anderen Ländern verlaufen, dann geht zum Beispiel der Blick viel nach Israel. Da war man ein bisschen erschreckt, weil die am Anfang sehr schnell waren mit ihrer Impfkampagne. Auch da stagniert die Impfquote. Aber da gibt es so die Theorie: Na ja, da sind diese bewussten sechs Monate schon rum, seit der Impfung verschwinden die Antikörper. Die haben aber zum Beispiel auch einen anderen Impfabstand gehabt. Die haben ja sehr schnell die zweite Impfung gegeben. Spielt das eine Rolle für den Schutz?
Drosten: Ja. Ich denke, davon kann man ausgehen, dass das auch eine Rolle spielt. Also es ist der Abstand der beiden Impfungen zueinander, es ist aber auch vor allem der lange zeitliche Abstand seither. In Israel hat man ganz früh angefangen mit einer dann schnell auch abgeschlossenen Impfkampagne, weil die Bevölkerung relativ klein ist. Das konnte man erledigen. Deswegen ist es jetzt tatsächlich so, dass man den Eindruck gewinnt, dass eine höhere Rate von Impfdurchbrüchen vorhanden ist in Israel. Das mag schon so sein. Aber die Frage ist natürlich: Ist das jetzt der Grund, weshalb man dort wieder in eine bevölkerungsweite Booster-Vakzinierung reingehen muss? Oder ist es ein allgemeinerer Grund. Und ich denke, der Grund ist erst mal allgemeiner.
Lage in Israel
Man hat in Israel im Moment den Eindruck, dass das Gesundheitssystem wieder extrem belastet wird durch das, was da jetzt gerade passiert, nachdem man sehr viel gesellschaftliche Freiheit gelassen hat. Und der Grund für diese starke Belastung ist natürlich auch, dass es in der Gesellschaft in Israel weiterhin Impflücken gibt, deutliche Lücken. Es ist nicht so, dass man in Israel einen sehr, sehr hohen Impffortschritt erzielt hat. Bei den jungen Leuten ist es in Israel so, dass viele eben die Impfung einfach nicht annehmen und ein bisschen sorglos sind. Und wir haben bei den konservativen, religiösen Menschen in Israel zum Teil auch Überzeugungen, die dagegensprechen, sich impfen zu lassen.
Und das führt insgesamt dazu, dass man den Eindruck hat, wir müssen jetzt was tun. Irgendwas müssen wir jetzt machen. Also wir müssen mal unsere Optionen checken. Was können wir jetzt tun? Lockdown-Maßnahmen wollen wir nicht. Also man hat natürlich kontaktreduzierende Maßnahmen wiedereingeführt. Aber man sieht, das reicht nicht aus. Deswegen ist das natürlich ein naheliegender Reflex in der Abwägung der Güter. Und jetzt ist es so, der Teil der Bevölkerung, bei dem man weiß, die werden sich impfen lassen, ist überschaubar groß.
Man weiß, das ist wahrscheinlich ethisch vertretbar, weil es nicht so viele Impfdosen sind, die man da nicht an ärmere Länder abgibt, sondern für die eigene Bevölkerung nimmt. Und man muss jetzt schnell was tun, darum hat man sich offenbar dafür entschieden. Das ist aber etwas anderes in einer sehr großen Bevölkerung, also in einer Bevölkerung wie bei uns zum Beispiel. Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, in Deutschland jetzt zu sagen: Das, was wir jetzt schon verimpft haben, das multiplizieren wir jetzt einfach noch mal.
Booster-Impfung in Deutschland
Also wir nehmen noch mal denselben Teil für eine bevölkerungsweite Booster-Impfung. Da kommen wir dann eben doch auch in Zahlenbereiche rein, wo man sagen muss: Moment, also die armen Länder haben gar keine Impfstoffe und wir versorgen uns hier ein drittes Mal. Da muss man dann vielleicht differenzierter drauf schauen und muss eben sagen: Wir haben eindeutig eine Bevölkerungsgruppe, die ist sehr alt. Wir wissen, die Älteren verlieren den Immunschutz.
Wir haben zum Beispiel vor Kurzem in der Charité eine Studie zu dem Thema gemacht. Und wir sehen da nun mal, dass man sich das vorstellen kann, wenn man über neutralisierende Antikörper spricht: Da sind von den Jungen, das sind Krankenhausmitarbeiter in der Studie, die geimpft wurden, haben immer noch 95 Prozent nachweisbare neutralisierende Antikörper.
Aber bei den Alten, das sind Altersheimbewohner, hat man nur noch 60 Prozent. Diese neutralisierenden Antikörper sind vielleicht der beste Hinweis aus dem Labor auf einen Schutz, den wir im Moment geben können, sodass man schon sagen müsste: Okay, also Bewohnerinnen und Bewohner von Altersheimen, da wissen wir, die sind besonders gefährdet.
Schwindender Immunschutz bei Älteren
Die verlieren den Impfschutz nach sechs Monaten besonders stark. Und es gibt in diesen Heimen auch Ausbrüche, die könnte man jetzt wieder mal verhindern, indem man dort gezielt impft. Aber wenn man dann eben anfängt zu rechnen, die Bewohnerinnen und Bewohner solcher Wohneinrichtungen, nehmen wir vielleicht auch noch Behindertenwohneinrichtungen dazu und so weiter, das ist sicherlich eine Zahl, die vertretbar ist. Und da kann man ethisch ganz klar sagen: Da wird natürlich eine Auffrischungsimpfung gemacht, die ist besonders notwendig und auch besonders verkraftbar. Und ich denke, solche Kontingentierung, wie sie jetzt auch in der Politik diskutiert werden, die kommen auch schon aus so einem Hintergrund von Überlegungen. Das ist natürlich eine ethische Abwägung.
Hennig: Jetzt haben Sie schon die neutralisierenden Antikörper angesprochen. Bisher war immer die große Frage: Ja, aber wir können gar nicht sagen, wo eigentlich die Grenze ist. Es gibt den Anhaltspunkt Alter. Es gibt den Anhaltspunkt Vorerkrankungen. Aber auch das Alter ist schwierig zu interpretieren, weil manche mit 70, 80 Jahren noch unglaublich fit sind, andere mit 60 vielleicht mit einer Vorerkrankung viel vulnerabler. Gibt es so ein Schutzkorrelat in absehbarer Zeit? Also dass man zum Beispiel sagen kann, wir finden in der Forschung raus, so und so viele neutralisierend Antikörper müsste es geben. Und dann gibt es so eine mittlere Gruppe, bei der wir es per Alter noch nicht so genau sagen können, da bestimmen wir einfach mal den Antikörper-Titer.
Drosten: Ich glaube nicht, dass es das geben wird. Neutralisierende Antikörper haben wir ja im Podcast x-mal erklärt, was das ist. Das sind also Antikörper wie alle anderen auch. Aber die binden bei dem Virus an kritischer Stelle, sodass, wenn diese Antikörper da sind, eine Infektion zum Beispiel in Zellkultur nicht mehr klappt. Und so messen wir die auch. Wir tun in einem Laborversuch das Virus zu Zellen dazu und die müssten eigentlich gefressen werden von dem Virus.
Wenn wir aber Antikörper dazutun, also Serum von dem Patienten, dann passiert das nicht mehr. Die Zellen sind dann geschützt. Dieser Schutzeffekt, das ist das Niveau von neutralisierenden Antikörpern. Das können wir auch als Verdünnungsfaktor dann quantitativ ausdrücken. Nach dem Motto: Das Serum zu den Zellen gegeben, Zellen sind geschützt. Wenn wir das Serum eins zu zwei verdünnt zu den Zellen geben, sind sie immer noch geschützt. Wenn wir das Serum eins zu vier verdünnt zu den Zellen geben, dann sind sie nicht mehr geschützt. Also ist der Neutralisationstiter, wie wir sagen, eins zu zwei. In Wirklichkeit sind die in der Erfahrung höher als eins zu zwei. Es ist jetzt nur ein plakatives Beispiel. Die Titer sind sonst so im Bereich von eins zu 200 irgendwas. Das ist so ein mittelmäßig hoher Neutralisationstiter.
Beispiel Polio
Jetzt gibt es eine Krankheit, wo die Barriere im Blut liegt, Polio, die Kinderlähmung. Und da ist so ein klassisches Beispiel für ein Schutzkorrelat. Da wissen wir genau, wenn ein Patient einen nachweisbaren Neutralisationstier im Blut hat, dann ist er geschützt. Also der wird keine Kinderlähmung kriegen, obwohl dieses Poliovirus durchaus den Darm infizieren kann. Da passiert nichts. Die Darmbarriere ins Blut hinein wird nicht mehr überschritten und der Patient ist geschützt.
Also überhaupt einen Neutralisationstier zu haben ist bei Polio das Schutzkorrelat. Es gibt andere Erkrankungen, Hepatitis B zum Beispiel, da gibt es ganz bestimmte Titerhöhen in ELISA-Testen von Antikörpern, da können wir genau sagen, wenn ein Patient diesen Titer hat, dann ist der nach klinischer Erfahrung, basierend auf großen klinischen Studien gegen eine Infektion geschützt- Und wir können sagen, der muss jetzt nachgeimpft werden oder nicht. Die Impfung reicht noch. Das ist also ein Schutzkorrelat. Und das werden wir bei so einer Atemwegsinfektion wie mit dem Coronavirus nicht erreichen. Und zwar deswegen, weil der Schutz hier nicht wie bei einem Hepatitisvirus oder bei der Kinderlähmung im Blut liegt, sondern der liegt hier auf der Schleimhaut und da können wir im Labortest gar nicht gut messen.
Also wir messen aus der Vene des Serums, aber uns interessiert, was hier oben ist, und da kommen die IgG-Antikörper fast gar nicht hin. Da kommen IgA-Antikörper hin, die messen wir aus dem Blut schon auch mit in den ersten zwei Monaten, da werden die nach der Impfung oder Infektion gebildet, dann sind die nicht mehr da. Wir sehen dann den IgG-Schutz im Serum. Die IgG-Antikörper sind da immer im Blut, aber da oben in der Schleimhaut sind sie dann nach einer Zeit nicht mehr. Und darum ist das, was wir im Blut messen, nicht das, was da oben passiert. Darum wird es schwierig sein, mit einem wirklich belastbaren Schutzkorrelat.
Hennig: Aber wenn man es aus verschiedenen Faktoren zusammenstellen könnte zum Beispiel? Weil es um die Frage geht: Was passiert auf den Schleimhäuten? Dann geht es schon um die bloße Infektion. Und dann, wenn die zelluläre Immunantwort ins Spiel kommt, geht es auch wirklich darum, wie ist es für den individuellen Patienten, für die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufes?
Drosten: Klar. Man kann natürlich zum Beispiel ganze Gruppen von Patienten in Impfstudien anschauen und gucken: Was haben denn diejenigen, die geschützt waren, im Blut als Antikörper-Titer? Und wenn man das eine ganze Zeit nach der Impfung macht, wo das IgA nicht mehr im Spiel ist, dann sagt das schon was aus. Und deswegen sage ich, der Neutralisationstest ist erst mal mit das beste Korrelat, was man auch gut messen kann.
Testformate
Dann kann man natürlich in die T-Zell-Immunität einsteigen. Man kann die zelluläre Immunität auch messen. Es gibt inzwischen Testformate, also IGRA, Interferon-Gamma Release Assay, heißt einer zum Beispiel. Viele Labore bieten so was schon an. Es gibt auch andere Arten von T-Zell-Stimulations-Assays, die anzeigen können, ob man wahrscheinlich geschützt ist gegen den schweren Verlauf. Das ist basierend auf einer Blutprobe, die muss relativ frisch abgenommen sein. Im Moment muss man auch sagen: Praktisch jeder, der geimpft wurde, da muss man diesen Test gar nicht machen. Die sind alle gut geschützt.
Hennig: Also die Angst, also ich sage mal, als Ende 40-Jähriger zum Beispiel, ich könnte ein Non-Responder, sein - ich finde das ein schöneres Wort als Impfversager - ist …
Drosten: Das kann man als gesunder Mensch komplett vergessen. Man muss sich nicht im Labor überprüfen lassen, ob der Impfschutz noch hält. Ich sage Ihnen, ohne dass Sie sich testen lassen voraus, der Antikörper-Titer ist ein bisschen runtergegangen, aber wenn Sie diesen, durchaus übrigens teuren T-Zell-Test machen würden, dann würden Sie sehen, dass da noch genauso viel Immunität ist wie vor einem halben Jahr. Und das reicht. Damit sind Sie geschützt.
Immunsupprimierte Patienten
Es gibt ja Patienten, die sind immunsupprimiert. Transplantationspatienten in der Spezialambulanz oder Patienten, die wegen ihrer Grunderkrankung immer wieder nachkontrolliert werden müssen, wie der Immunstatus ist, wie der Gesamtstatus der zugrunde liegenden Erkrankung ist. Und in diesen Spezialambulanzen, zum Beispiel in Unikliniken oder in Spezialpraxen, da sehen wir das im Labor auch.
Da gibt es diese Anfragen und die sind medizinisch durchaus auch mal berechtigt, dass man einfach fragt: Okay, hier ist zum Beispiel ein Dialyse-Patient, die haben schlechte Impfreaktionen. Da will man es jetzt doch vorm Winter noch mal wissen. Und da würde man eben jetzt auch einfach schon mal per ärztlicher Indikation eine Booster-Impfung machen, wenn dieser Impfschutz nicht so gut ausfällt. Und diese Anfragen im Labor kriegen wir eigentlich ständig und die sind auch sinnvoll.
Für wen ist die Auffrischungsimpfung sinnvoll?
Hennig: Nun hat die Politik aber die Parole Booster-Impfung, dritte Auffrischimpfung im Prinzip schon für bestimmte ausgegeben, die man ja jetzt nicht alle testet. Noch mal die Frage: Wie kann man damit umgehen? Wo zieht man die Grenze? Sie haben schon Alten- und Pflegeheime gesagt. Das ist plausibel. Aber der 78-jährige fitte Rentner, der zu Hause sitzt, aber sagt: Na ja, ich bin nun auch nicht mehr 35.
Drosten: Als Virologe kann ich dazu nur sagen: Jede Auffrischungsimpfung ist rein immunitätstechnisch nützlich. Wenn man ein drittes Mal geimpft wird, hat man danach viel bessere Antikörper. Wahrscheinlich bleibt der Schutz dann auch deutlich länger als nach nur zwei Impfungen. Das ist absolut super, eine Booster-Impfung zu bekommen. Ich bin aber jetzt zum Beispiel an der Charité nicht nur Virologe, sondern wir haben da auch so was, das nennt sich "Charité Global Health". Das ist eine Einrichtung, wo sich die Charité auch damit beschäftigt, wie ist Medizin weltweit? Und ich sehe auch aus eigener Erfahrung, weil ich in so Ländern arbeite, die Situation in Afrika beispielsweise. Da kommt eben eine ethische Überlegung ins Spiel.
Hennig: Keine zwei Prozent Impfquote.
Drosten: Genau. Wenn ich diesen Hut aufhabe, dann würde ich schon immer sagen: Was machen wir uns hier die dritte Dosis klar, wenn dort noch nicht einmal die erste verabreicht ist? Dazwischen liegt dann glaube ich die Alltagseinschätzung. Dazwischen muss man sagen, es gibt ethische Abwägungen und es gibt hier bei uns besonders alte Patienten, besonders bedürftige Patienten, die es natürlich auch in Afrika gibt. Aber gesellschaftsweit gibt es die dann auch weniger als bei uns, weil dort die Gesamtbevölkerung jünger ist.
Also auch das vielleicht mal als ein ethischer Gedanke. Hätten sich denn die westlichen Industrieländer überhaupt am Anfang versorgen dürfen mit den Vakzinen? Es liegt darin durchaus eine Begründung, dass die Bevölkerungen dieser Länder deutlich älter sind. Also ohne da jetzt eine Gesamtbewertung betrachten zu wollen. Aber es gibt solche Erwägungen einfach. Und jetzt sind wir hier wieder in einer ähnlichen Erwägung bei der Booster-Impfung und die ist zum Glück einfacher zu machen.
Wir haben definierte Gruppen in der Bevölkerung, immun Geschwächte, gerade schon die erwähnten Dialysepatienten beispielsweise. Wir haben die sehr Alten, die auch auf eine Weise eine Immunschwäche haben, die zusätzlich noch in Einrichtungen leben, wo sich Ausbrüche erfahrungsgemäß ausbreiten können. Dann ist doch die Antwort klar, dass man da boostern muss.
Hennig: Das heißt aber, es ist eine Hausaufgabe an die Politik, an das Pandemie-Management, herauszufinden, wo verläuft die Grenze? Man setzt sich mit Ethikern zusammen, mit Virologen und guckt dann: Geben wir das in die Hand der Hausärzte, die einschätzen können, mein Patient ist zwar 65, aber der ist nicht so fit.
Drosten: Die simple virologische Beratung zu dem Thema habe ich gerade schon abgegeben. Jede Booster- Impfung ist einfach super, also einfach effizient für die Immunisierung. Da sehen Sie schon, den Virologen braucht man für so eine Erwägung nicht als Politiker. Da muss man sich wirklich von Ethikern beraten lassen.
Viele Impfungen erreichen nicht 100 Prozent Schutz
Hennig: Jetzt müssen wir noch mal den Vergleich machen, weil wir bei der Impfmotivation waren und der Frage: Was nützt denn die Impfung? Viele starren ja immer auf diese Impf-Effektivität und sagen: Warum schützt denn das nicht zu 100 Prozent? Wir sind alle so fixiert auf das Virus, dass wir immer eine Garantie für einen Schutz haben wollen. Es gibt aber durchaus andere Impfungen, bei denen auch nie 100 Prozent erreicht werden. Ich habe mal nachgeguckt, bei Mumps, diese kombinierte Impfung Masern, Mumps, Röteln, die ja bei Masern und Röteln sehr hoch ist, da kommt man auf 85 Prozent Schutzwirkung. Und die Influenza ist ein klassisches Beispiel, da landen wir in manchen Jahren ...
Drosten: ... bei 40, 35 Prozent. Und trotzdem, bevölkerungsweit nützt es was, kombiniert mit der natürlichen Infektion, die überall passiert. Wir haben eine endemische Situation bei Influenza. Ich glaube, wir müssen da vielleicht auch noch mal an den Anfang der Pandemiebetrachtung zurückkehren, als das bei uns kam. Wir haben uns da eigentlich klargemacht: Was können wir machen? Geht das mit der Impfung?
Und wir haben dann irgendwie in der Wissenschaft grundsätzlich festgestellt, natürlich werden wir das schaffen. Wir wissen genug über Coronaviren und deren Impfmöglichkeiten. Wir wissen aus der Veterinärmedizin so viel. Wir haben Coronaviruskrankheiten in der Tiermedizin. Und wir haben dort Impfstoffe. Deswegen können wir sagen, das werden wir beim Menschen auch schaffen.
Politische Planung während der Pandemie
Daran hat sich international auch die politische Planung orientiert. Wäre das anders gewesen, hätte man beispielsweise zu Beginn der Pandemie sagen müssen: Wer weiß, ob das jemals klappt mit der Impfung. Also das haben die Leute, die sich mit Coronaviren auskennen, nie gesagt. Die haben immer gesagt: Das klappt. Siehe Veterinärmedizin. Wenn es anders gewesen wäre, hätte man wirklich sagen müssen: Wer weiß, ob das so ein Kampf wie bei HIV wird. Wir kriegen einfach keinen Impfstoff, dann hätte man mit der gesamten Pandemie anders umgehen müssen.
Man hätte dann eine schreckliche Strategie fahren müssen. Und zwar hätte man relativ früh gewusst, schon aus Wuhan hätte man das gewusst, dass Kinder weniger betroffen sind und junge Leute weniger betroffen sind, dass es diese Altersflanke gibt in der Infektionssterblichkeit und man hätte eben die alten Menschen, je älter, desto stärker isolieren müssen, schützen müssen vor einer Infektion.
Pandemie ist eine Naturkatastrophe
Man hätte bei den jungen Leuten Durchseuchung zugelassen, geradezu fast stimulieren müssen. Und man hätte dann eine lange Zeit gehabt, bei der eben der Großteil der jüngeren Bevölkerung schon immun ist. Durchaus auch wahrscheinlich mit Opfern, leider. Also auch das hätte man tolerieren müssen. Also die Pandemie ist eine Naturkatastrophe, das ist eine höhere Gewalt. Und man hätte dann graduell wahrscheinlich die Isolation der Älteren immer weiter zurückgenommen und hätte dann aber ja keine einzige Infektion bei diesen Menschen verhindert. Die hätten sich alle infiziert. Über eine gestreckte lange Zeit.
Hennig: Keine so hohe Belastung für das Gesundheitssystem, für den Einzelnen aber genauso schrecklich.
Drosten: Das heißt aber nicht, dass die nicht infiziert und nicht gestorben wären. Natürlich muss man auch sagen: An Delta und solche Dinge haben wir damals nicht gedacht. Wir sind überrascht worden von dieser Virulenz und von dem Übertragbarkeitsanstieg. Das heißt, das wäre auch nicht gut ausgegangen. Wir hätten das nicht durchhalten können. Am Ende wären die Alten trotz aller Bemühungen schnell infiziert worden und wir können sehr dankbar sein für die Impfung in diesem Sinne.
Hennig: Und wir haben noch nicht mal über Long-Covid und Post-Covid gesprochen.
Drosten: Nein, wir reden hier über Todesfälle. Und dann ist es so, ich spreche hier jetzt nicht über die Politikberatung in irgendeinem kleinen Ministergremium in Deutschland, ich spreche von der internationalen wissenschaftlichen Community. Nachdem wir festgestellt haben, es wird diese Impfung geben, war auch klar: Was kann die Impfung machen? Was leistet die eigentlich? Es war von vornherein klar, die Impfung hilft der Gesellschaft über die Schwelle zur Endemizität, zur endemischen Situation.
Maßnahmen im Herbst
Hennig: Also dass das Virus bleibt und immer harmloser für alle wird: Mit dem Virus leben.
Drosten: Mit dem Virus leben lernen, genau. Aber natürlich nicht mit dem Virus leben lernen ohne Schutz. Sondern mit dem Virus leben lernen, nach dem über die Impfung ein Bevölkerungsschutz erreicht ist. Dann ist das Virus immer noch nicht weg. Das war von vornherein klar, dass das Virus weiterzirkulieren wird. Sonst hätten wir nicht von Anfang an von einem endemischen Zustand gesprochen.
Keine sterile Immunität
Wir haben auch von Anfang an immer davon gesprochen, dass es keine sterile Immunität geben wird. Wir impfen hier, der Schutz muss aber da sein und das kommt einfach nicht überein. Nur später, wenn es vielleicht Lebendimpfstoffe gibt, dann wird man das noch mal deutlich verbessern können. Aber im Moment kann das nicht gehen.
Hennig: Wir haben am Anfang des Podcasts auch schon darüber gesprochen: Die viel diskutierte Herdenimmunität, lange vor Delta war das irgendwie 66, 67 Prozent, die hat sich auch damals schon nur auf die Pandemiesituation bezogen, also auf die rasante Ausbreitung, die dann verlangsamt wird, und nicht auf das Individuum, das dann immer automatisch mitgeschützt wäre von anderen.
Drosten: Der Begriff Herdenimmunität wird schlampig verwendet in der Öffentlichkeit. Die Verwendung, wie wir sie meistens kennengelernt haben, war das Ziel, den RT-Wert unter eins zu kriegen, also die Verbreitungsziffer. Das macht man zum Beispiel bei einem R0-Wert von drei, indem man zwei von diesen drei Einheiten, also die Zahl drei besteht aus dreimal einer eins. Und zwei von diesen Einsen nehmen wir weg. Dann bleibt noch eine Eins übrig. Das ist also R0 gleich 1.
Herdenimmunität erreichen?
Und diese zwei Drittel, das sind die 67 Prozent, die wir eben immun haben müssen, um eine Herdenimmunität in diesem Sinne zu erreichen. Einige Leute haben aber den Begriff Herdenimmunität anders verstanden, als eine sterile Elimination, sogar Eradikation dieses Virus aus der Bevölkerung. Das war aber nie das Ziel. Und dass ein RT von eins erreicht ist, heißt ja nur, dass es nicht mehr exponentiell geht, sondern langsam schleichend. Aber es geht weiter.
Hennig: Noch mal zur Erklärung: R0, reine Netto-Reproduktionsrate sozusagen ohne Maßnahmen. Und RT ist über die Zeit gesehen.
Drosten: RT ist die momentane jetzt beobachtete Infektionshäufigkeit. R0 ist die dem Virus und der Bevölkerung mögliche Verbreitungsgeschwindigkeit, wenn alles freiläuft. Jetzt sind wir also in der Auffassung da reingegangen, dass uns das über eine Schwelle in die Endemizität helfen kann. Und das ist wichtig, denn diese Schwelle hätten wir ohne Vakzine so nicht auf uns nehmen können. Und wir können die bei der geringen Impfquote, die wir jetzt haben, weiterhin im Herbst nicht auf uns nehmen. Die Zahl der Toten ist zu groß.
Tödlichkeit abmildern
Dieses Virus ist zu virulent und zu gefährlich, zu tödlich. Diese Tödlichkeit müssen wir abmildern, um dann in einen Modus zu kommen, dass das Virus sich schleichend in der Bevölkerung verbreiten kann und den meisten, allermeisten, fast jedem Infizierten eigentlich dabei nichts ausmacht. Sprich, wir sind in einer Erkältungssituation. Wir wollen, dass das zu einer Erkältung wird. Über die anderen Erkältungsviren machen wir uns ja auch nicht solche Gedanken. Da wissen wir auch, es ist halt unangenehm, aber wir werden es überleben.
Und die nächste Erkältung kommt bestimmt, vor der Erkältung, ist nach der Erkältung. Und so entspannt wollen wir mit SARS-2 auch irgendwann umgehen können. Und das ist die endemische Situation. Und der ganze Zinnober, den wir hier gesamtgesellschaftlich betreiben, ist nur bis zu diesem Zeitpunkt relevant. Und wann dieser Zeitpunkt ist, das liegt an uns. Und das liegt an der Impfquote.
Hennig: Hatten Sie vor dem Sommer, als Sie über diese 80 Prozent möglicherweise Ende August sprachen, hatten Sie da schon darauf gehofft, dass diese Endemizität langsam schon über den Herbst und Winter beginnen könnte?
Drosten: Ja, also ich hatte gedacht, wir sind dann in einer Situation wie ungefähr jetzt in England, sodass man sagen kann, da deutet sich an, dass auch ohne Maßnahmen - also ganz ohne Maßnahmen schnellt es hoch, aber mit milden Maßnahmen wird es schon sichtbar weniger. Wir sind schon in einer so kippeligen Situation, dass das in ein ruhiges Fahrwasser kommt, dass man jetzt noch ein bisschen nachtarieren muss. Also niemand kann in England im Moment sagen, ob es nicht doch noch mal einen kleinen Shutdown bestimmter Bereiche für kurze Zeit braucht, so moderierende Maßnahmen.
Ich glaube aber, insgesamt besteht im Moment für England und in England die Hoffnung, dass man das jetzt im Herbst erreichen könnte, weil eben bestimmte Dinge erreicht worden sind in Form von Immunität, sowohl durch natürliche Infektion als auch durch Impfung. Da sind wir nicht. Und ich hatte gehofft, dass wir da schon sein könnten. Und wir müssen uns einfach klarmachen, wir werden das, was wir jetzt erreicht haben, auch wieder ein bisschen verspielen, wenn wir jetzt nicht die Gelegenheit nutzen. Denn dieses Springen über die Schwelle in die Endemizität, das hält die Vakzine auch nicht für immer für die Gesamtbevölkerung bereit. Sondern der Impfschutz wird ja auch wieder ein bisschen schlechter werden nach einer Zeit.
Und natürlich kann man sagen: Gut, da muss man wieder nachimpfen. Aber eigentlich ist es nicht das Ziel für alle Zeiten, immer impfen zu müssen. Ich glaube, dass die Mehrheit der Infektionsbiologen und Mediziner im Moment sagt: Wir müssen eigentlich die endemische Situation als eine Erkältungssituation betrachten. Das heißt, wir sind aber dann auch in der Situation, dass unser Immun-Update, also die Booster-Immunisierung, eigentlich nicht hier passiert, sondern durch immer wiederkehrende Kontakte mit dem Virus und dass die Bevölkerungsimmunität auch immer belastbarer wird, weil dann sind es hier wirklich Infektionen. Und da kriege ich dann Schleimhautimmunität, die ortsständig ist.
Da sind dann eigene T-Zellen, die dort sitzen, lokale B-Zellen, die dort lokal Antikörper machen. Also diese Infektionsimmunität, die ist auf Dauer robuster. Mein Ziel als Virologe Drosten, wie ich jetzt gerne immun werden will, ist: Ich will eine Impfimmunität haben und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben. Damit habe ich mich schon lange abgefunden.
Eigenverantwortung übernehmen
Und dann weiß ich, bin ich richtig langhaltig belastbar immun und werde nur noch alle paar Jahre überhaupt mal dieses Virus sehen, genau wie ich die anderen Coronaviren auch immer mal wieder sehe. Das kann ich als relativ gesunder Erwachsener so für mich verantworten. Es gibt andere Bevölkerungsgruppen, die können das natürlich nicht. Aber ich kann das für mich selbst, für meine eigene Gesundheit auch nur verantworten, weil ich jetzt zweifach geimpft bin. Und ich muss zugeben, ich wäre gerne auch noch ein drittes Mal geimpft.
Aber hier würde ich als Bürger dann auch sagen: Meine dritte Impfdosis geht erst mal nach Afrika. Aber leider ist es eben so, dass sich viele Leute jetzt auch nicht klargemacht haben, dass wir das nicht bevölkerungsweit im Moment machen können. Die Eigenverantwortung, die ja auch in der Politik immer so stark betont wird, können viele Leute nicht übernehmen, denn sie werden im Nachhinein, wenn sie einen schweren Verlauf durchmachen mussten, sagen: Hätte mir das jemand richtig erklärt, dann hätte ich die Eigenverantwortung anders gewählt.
Hennig: Das ist etwas, was aus Krankenhäusern ja schon viel berichtet wird. Das liest man immer wieder. Dass Ärzte aus den Krankenhäusern, von den Intensivstationen sagen: Wir haben hier fast nur Ungeimpfte, die das bitter bereuen, dass sie sich nicht haben impfen lassen. Trotzdem, die endemische Situation, so wie Sie sie gerade skizziert haben, die ist eigentlich ganz langfristig ja etwas, was Mut macht, wo man sagen kann: Meine extreme Angst vor dem Virus, in die wir uns alle so hineingelebt haben, kann ich dann auch mal verlieren.
Großbritanniens wunder Punkt: Kinder
Jetzt kommen wir aber auch bei England an einen wunden Punkt und das ist der Punkt Kinder. Und in England teilweise auch noch Jugendliche, weil England ja anders als zum Beispiel Frankreich nicht mit einer massiven Impfkampagne nach vorne gegangen ist und gesagt hat: Wir impfen ab zwölf, so wie die Stiko es für Deutschland jetzt auch empfiehlt. Das wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir die, die gar keinen Schutz haben können, mitschützen können.
Das heißt, über den Winter können wir eigentlich nicht in den Schulen alles laufen lassen. In England gibt es auch keine Maskenpflicht. Wir sehen, die haben teilweise noch Schulferien, aber wir sehen auch, dass die Zahlen unter den Jüngeren nach oben gehen. Und auch wenn die krankheitsmäßig nicht so schwer betroffen sind, das ist ja keine Garantie für jeden.
Drosten: Ja, das ist richtig. In Deutschland können wir zum Glück die über zwölfjährigen Kinder schon impfen. Das ist ein ganz wichtiges Plus. Wir sind da, ich habe es mir aufgeschrieben ...
Hennig: 31 Prozent Erstimpfung und 21 Zweitimpfung.
Drosten: Okay, genau. Wir sind bei 21 Prozent voll geschützten Kindern in dieser Altersgruppe. Und Jugendliche muss man ja auch sagen, sind keine Kinder mehr eigentlich. Und zum Glück gibt es eine sehr hohe Impfbereitschaft in dieser Altersgruppe, und das ist auch wichtig. Es gibt jetzt glücklicherweise auch die Stiko-Empfehlung, die das klar positiv empfehlt. Das heißt, alle in dieser Altersgruppe sollten sich unbedingt so schnell es geht impfen lassen. Das wird ein ganz wichtiger Baustein sein in der Pandemiekontrolle im Herbst.
Und auch da wieder, die Stiko hat natürlich recht mit der Betonung auf das Eigeninteresse, die Abwägung: Ist die Impfung besser oder die Infektion? Und hat jetzt eindeutig gesagt: Jetzt haben wir auch die Evidenz dafür, dass die Impfung besser ist. Die Stiko hat ja auch nicht gesagt: Die Kinder, die kriegen ja gar keine Infektion. Das sage ich jetzt mal so aus dem Bauch heraus. Sondern die Stiko sagt ja nur: Wir müssen abwarten, bis für das und für das die Evidenz da ist. Dann können wir das abwägen.
Gesellschaftlicher Nutzen der Kinderimpfung
Und jetzt gehen wir darüber hinaus und sagen eben: Es ist doch trotzdem aber auch nicht schädlich, wenn durch die Impfung zwischen den zwölf- bis 17-jährigen Kindern auch ein Gesellschaftsnutzen erwächst. Und diesen Nutzen nehmen wir doch als Gesellschaft unbedingt mit. Das ist doch nichts Schädliches. Ich denke, das sollte man unbedingt betonen, das ist im Moment ein großer Vorteil, dass wir diese Karte noch ziehen können. Aber es wird nicht reichen. Wir müssen trotzdem die Impfquote dann von den Zwölf- bis 59-Jährigen deutlich, deutlich steigern. Also wir müssen unbedingt auf 85 Prozent und mehr kommen.
Eigentlich würde man sich wünschen 90 bis 95 Prozent. Und bei den über 60-Jährigen wollen wir eigentlich 100 Prozent Impfquote haben. Also das müssen wir irgendwie noch mal klarmachen, dass es einfach ein riesiges Risiko ist, ungeimpft in diesen Herbst reinzugehen, wenn man über 60 Jahre alt ist. Bei den ganz kleinen Kindern, das haben Sie ja gerade eigentlich gefragt, bevor ich hier ein bisschen absichtlich abgeschweift bin, muss man eine Sache auch vorwegschicken, oder zwei Sachen sogar. Es wird zu Beginn des nächsten Jahres wahrscheinlich auch für diese Altersgruppen Impfstoffe geben, die zugelassen sind, die sicher sein werden, die die gleichen sein werden wie die jetzigen erwachsenen Impfstoffe. Die werden gut vertragen, die Dosis wird nämlich reduziert.
Das ist vielleicht eine wichtige Information. Die andere Sache ist, dass wir auch jetzt bei den Kindern, um die wir uns am meisten Sorgen machen, also Kinder, die eben eine Grunderkrankung haben, wo man wirklich sagt: Das ist jetzt mal bei aller öffentlicher Diskussion einfach nicht mehr glaubwürdig, dass man dieses Kind in die Schule schicken kann, denn dieses Kind hat eine Grunderkrankung. Das hat vielleicht einen Organdefekt, eine Stoffwechselkrankheit, die vielleicht seit der Geburt schon besteht. Ein Sorgenkind in diesem Sinne. Da kann man ja nicht mehr irgendeinem Elternteil zumuten, das eigene Kind in die Schule schicken zu müssen. Also das geht emotional an mich nicht ran, wie man das vermitteln will.
Impfung für Kleinkinder?
Und jetzt gibt es da aber eine gute Botschaft. Diese gute Botschaft ist: Jeder Kinderarzt darf solche Kinder off-label impfen, darf also den Impfstoff benutzen, um dieses Kind zu schützen. Und das geht. Wir wissen auch, wie man das machen kann, denn die Pharmafirmen machen ja Phase-3-Studien, Dosis-Findung ist da inbegriffen. Und wir wissen, bei Kindern sollten wir die Dosis reduzieren. Zum Beispiel dieses Risiko von Herzmuskelentzündungen eins zu 16.000 bei den älteren Kindern, das ist übrigens eine milde und gut kontrollierbare Herzmuskelentzündung. Dieses Risiko geht dann ja runter, wenn man die Dosis reduziert. Und gleichzeitig ist die Reaktion dieser Kinder besonders gut auf die Impfung. Also je jünger, desto besser reagieren die Kinder auf die Impfung. Darum können wir auch die Dosis reduzieren.
Hennig: Das heißt, wir können auch damit rechnen, dass bei den jüngeren Kindern vielleicht dieses Herzmuskelentzündungs-, Myokarditis-Risiko weniger relevant ist?
Drosten: Das wird es nicht wesentlich geben, davon gehe ich jetzt aus. Also ich gehe davon aus, dass diese Impfung bei den Kleinkindern sicher sein wird. Wir wissen ja, welche Dosis verwendet wird aus den Protokollen der Phase-3-Studien und Kinderärzte können das einfach adaptieren. Also der Erfahrungswert ist, für über fünfjährige Kinder ein Drittel der Dosis und für unter Fünfjährige ein Zehntel der Dosis.
Das machen die Firmen und das scheint gut zu laufen in den Studien. Es geht ja jetzt um die Zeit bis Anfang nächsten Jahres, wo wir damit rechnen können, dass solche Impfstoffe da sind. Diese Zeit müssen Kinderärzte jetzt überbrücken im Gespräch mit den mit Recht sehr besorgten Eltern. Denn gleichzeitig möchte man ja diesen Kindern auch ermöglichen, in die Schule zu gehen, in die Kita zu gehen, wenn es kleine Kinder sind. Diese Diskussion muss einfach mal geführt werden.
Dogmatische Diskussionen
Ich würde mir von den Kinderärzten wirklich wünschen, dogmatische Diskussionen jetzt einzustellen. Und an die, die vielleicht immer noch sagen: Ach, wir sehen doch in unserer Klinik gar keine, fast keine kranken Kinder. Und jetzt müssen mal die Schulen auf. Es ist ja nicht so, dass wir diese dogmatische Diskussion überhaupt führen müssen. Jeder möchte, dass die Schulen laufen. Jeder Politiker, jeder Virologe, jeder Kinderarzt möchte das. Und es wird immer noch so getan, als gäbe es da Meinungsverschiedenheiten drüber.
Wir müssen doch irgendwie vorwärts denken. Zu diesem Vorwärtsdenken gehört, das pädiatrische Fachgesellschaften ihre Aufgabe wahrnehmen, hier ihren Kolleginnen und Kollegen konkrete Empfehlungen zu geben. Möglicherweise auch in Absprache mit der Stiko, wo ja Pädiater auch breit vertreten sind. Wir müssen dieses Problem jetzt auch mal aus der Medizin heraus anfassen und nicht immer nur hitzige Stellungnahmen verfassen, bei denen man sich fragt, was die überhaupt noch sollen und wem die überhaupt noch etwas sagen sollen.
Impfstoffe für Kinder
Hennig: Jetzt sagen aber auch manche, auch Kinderärzte, die mRNA-Impfstoffe sind gut. Bei Kindern bin ich trotzdem noch skeptisch. Und man kann ja auch noch auf einen anderen Impfstoff warten. Es gibt ja noch einen proteinbasierten Impfstoff, der im Rolling-Review-Verfahren bei der EMA ist, Novavax. Die haben allerdings ihren Zulassungsantrag mehrfach verschoben, weil sie offenbar Produktionsschwierigkeiten haben und kündigen den jetzt fürs vierte Quartal an.
Das heißt, bis der dann bei der EMA zugelassen ist, wird auch Zeit ins Land gehen. Und die haben kleinere Kinder noch gar nicht in ihrer Zulassungsstudie, sondern seit Mai, wenn ich es richtig gesehen habe, nur die über Zwölfjährigen. Also würde man da tendenziell auch sagen: Ob das Sinn ergibt, so lange auf einen anderen Impfstoff zu warten. Und unterdessen kann es gut sein, dass mein Kind sich schon infiziert. Ist das auch keine gute Idee aus Ihrer Sicht?
Drosten: Ich glaube nicht, dass es Sinn ergibt, darauf zu warten. Also es ist schön, einen Proteinimpfstoff zu haben. Aber wir haben doch jetzt einige Erfahrungen mit den mRNA-Vakzinen und wir haben laufende Studien bei Kindern. Wir haben auch viele Kinder, die jetzt schon off-label geimpft werden. Ich denke, wir sollten diese Möglichkeit öffnen. Gerade und wohlgemerkt, ich spreche hier nicht, ich möchte hier nicht propagieren, jetzt die gesamten Kinder mal kurz unzugelassen durchzuimpfen, sondern mir geht es um hochgefährdete Kinder, bei denen man jetzt wahrscheinlich überlegt: Wie wird der Winter? Sitzt das Kind jetzt monatelang alleine zu Hause? Und muss man sich hier auch noch über das Thema Schulpflicht Sorgen machen. Ich will nur sagen, dass die Medizin, und die Pädiatrie insbesondere dafür auch eine Antwort hat, die es auch bei anderen Erkrankungen gibt. Also der Off-Label-Use von erwachsenen Medikamenten ist in der Pädiatrie etwas Eingeübtes und auch etwas Legales.
Covid-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen
Hennig: Da geht es auch um die konkrete Risiko-Nutzen-Abwägung bei den Kindern. Wenn wir allerdings auf die Schulen gucken, dann läuft die Diskussion nach meinem Eindruck ein bisschen auf zwei verschiedenen Gleisen. Die eine ist: Wir müssen die Schulen aufhalten, wir wollen die Schulen aufhalten und lasst am besten auch jetzt alle Maßnahmen weg. Und auf dem anderen Gleis läuft eine große, große Sorge.
Wenn mein Kind jetzt in die Schule geht und sich infiziert, dann ist das Virus einfach nicht so ungefährlich, wie das manchmal gesagt wird. Da werden manchmal auch Erkrankungszahlen hochgerechnet auf Kinder. Also wenn sich alle Kinder infizieren, wir haben unter zwölf so zehn Millionen Kinder in Deutschland. Dann erkranken so und so viele Kinder schwer und landen auf der Intensivstation und so und so viele werden sogar versterben. Wie verfolgen Sie solche Rechnungen?
Drosten: Ich ärgere mich über beide Extreme in der öffentlichen Diskussion. Beide Extreme werden leider auch von Medizinerinnen und Medizinern mit betrieben. Ich finde das wirklich zerstörerisch, gerade auch für den Schulbetrieb zerstörerisch, weil es sowohl die Ängstlichen als auch die Risiko-, sagen wir mal, -ignorierer jeweils gegenseitig aufeinanderhetzt. Und dieser ganze Schulbetrieb darunter leidet. Die Kinder werden massiv darunter verunsichert.
Ich habe auch das Gefühl, dass inzwischen verhärtete Stellungen von einzelnen Personen in der Öffentlichkeit so sichtbar geworden sind, da wird über Kinder und über Schulbetrieb argumentiert. Und ich kann da nicht mehr die Sorge um Kinder erkennen in dieser Argumentation. Wir können vielleicht einfach mal diese beiden Seiten gegeneinanderhalten. Die eine Seite sagt, wenn die Schulen jetzt durchseuchen, dann haben vielleicht vier Prozent aller Kinder Long-Covid. Also es gibt Studien zwischen einem und 30 Prozent. Man findet so allerhand …
Hennig: Nach wie vor eine disparate Studienlage.
Drosten: … an Long-Covid-Einschätzungen - und Long-Covid ist schrecklich. So. Und daran ist jetzt praktisch alles falsch, was ich gesagt habe. Erstens, die Schulen werden gar nicht durchseucht. Auch unter den schlimmsten Kautelen wird man die Schulen nicht durchseuchen lassen. Die Frage ist: Wo kann man das tarieren? Wo zieht man die Grenze? Und am besten ohne, dass man den Schulbetrieb unterbrechen muss? Das, was wir im letzten Winter gemacht haben, war falsch. Also, infektionsepidemiologisch gesehen war das richtig. Also wir haben die Winterwelle damit gestoppt. Wir haben gesehen, vor Weihnachten war das dieser Qual-Lockdown, der alle betroffen hat.
Rolle der Schulen
Die Schulen waren so in einem Qualbetrieb, aber im Betrieb, und die waren das Zünglein an der Waage. Die Arbeitsstätten sind die ganze Zeit ziemlich weitergelaufen, muss man übrigens dazusagen. Die Schulen waren dann nach den Weihnachtsferien bis zur achten Kalenderwoche geschlossen und man hat gesehen, es geht runter und bleibt unten. Das war das Zünglein an der Waage. Das heißt, es war infektionsepidemiologisch absolut effektiv, die Schulen zu schließen.
Long-Covid bei Kindern
Für die Schüler war es absolut falsch, das gemacht zu haben. Man hätte sich es anders gewünscht. Aber so ist es nun mal. Und wir müssen aufpassen, dass es jetzt nicht wieder so wird. Aber dennoch, wir werden die Schulen nicht durchseuchen. So wird es nicht kommen. Darum muss man nicht die Zahl der Schüler mit vier Prozent multiplizieren und sagen: So viel Long-Covid wird es geben. Das ist Unsinn. Gleichzeitig ist es aber auch so, zu sagen, wir glauben keine Einschätzung von Long-Covid, eine Erkrankung, die es bei Erwachsenen eindeutig gibt und die wir eindeutig noch nicht so ganz richtig verstehen und wo wir auch wirklich Respekt haben müssen.
Hennig: Aber die bei den Erwachsenen zahlenmäßig mittlerweile immer besser erfasst wird.
Drosten: Ja, schon, genau. Aber jetzt zu sagen, wir glauben einfach nicht daran, dass es das bei Kindern geben kann, das ist genauso unsinnig. Und es ignoriert genauso alle Realitäten und Erfahrungen. Und das ist mittlerweile auch wissenschaftlich unpräzise, muss man sagen. Also ich kann schon mitgehen, wenn man sagt, wir glauben keine Evidenz, die nicht auch mit einer Kontrollgruppe erhoben worden ist. Das war also ein lange gehegt Argument, wo man gesagt hat: Diese ganzen Long-Covid-Studien, wenn man mal schaut bei Kindern, die kein SARS-2-Virus hatten, die haben ja auch solche Symptome.
Hennig: Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten.
Drosten: Genau. Also jetzt können wir doch mal darüber reden, wie diese Studien zustande kommen. Da gibt es zum Beispiel diese eine wirklich berühmte Schweizer Studie mit Kontrollgruppe, auf die sich dann sehr viele bezogen haben im frühen Sommer, wo dann gesagt wurde: Siehst du, also es gibt doch gar kein Long-Covid. Da gibt es genauso viele Kinder in der Gruppe ohne SARS-2-Infektion, die die gleichen Symptome haben. Das ist eine Studie an Krankenhauskindern und die haben chronische Erkrankungen. Und die Rate von Kindern mit chronischen Erkrankungen ist da ungefähr doppelt so hoch wie die Rate von Long-Covid.
Aber wenn man sich die Symptomdefinition anschaut, dann gibt es kaum eine klare Abgrenzung zwischen manchen chronischen Erkrankungen und Long-Covid. Das heißt, Long-Covid, was man hier erheben will, das versinkt in einem Hintergrund von sehr, sehr ähnlichen chronischen Erkrankungen. Und worüber wundern wir uns jetzt eigentlich? Wundern wir uns jetzt darüber, dass die Nicht-Infizierten auch so ähnliche Symptome haben? Oder wundern wir uns darüber, dass die Infizierten die gleichen Symptome haben? Ich glaube, es wird greifbar, wenn ich das so sage. Und wenn man das anerkannt hat, wenn man sagen kann, aus dieser Analyse kann man eigentlich kaum was machen, dann kann man noch tiefer in die Daten dieser Studie einsteigen. Dann sieht man, da sind durchaus auch die nicht chronisch erkrankten Kindern separat ausgewertet worden.
Und wenn man dann eine schärfere Definition von Long-Covid nimmt, zum Beispiel indem man sagt, das sind mehrere Symptome kombiniert, dann kann man wirklich mal sagen: Das ist nicht nur eine Konzentrationsschwäche und Müdigkeit, die jedes Kind mal hat oder auch behauptet wegen der akuten Motivationslage. So was gibt es ja auch manchmal in klinischen Studien. Es sind ja Fragebogenangaben, die da gemacht werden.
Schulbetrieb im Winter aufrecht erhalten
Wenn man jetzt dieses Bild etwas schärfer definiert durch eine Kombination von Symptomen, dann sind es in der infizierten Gruppe von Kindern ungefähr dreimal so viele, die diese Symptome haben. Und das ist statistisch hochsignifikant. Aber diesen Signifikanztest muss man sich selber zusammenrechnen, der steht in dem Paper noch nicht mal drin. Und ich frage mich manchmal schon, wie genau solche Studien eigentlich gelesen werden, bevor man dann mit zum Teil ziemlich breiten Statements in die Öffentlichkeit geht.
Und in diesem Klima muss in Deutschland der Schulbetrieb jetzt gemanagt werden. Und ich finde das fatal für den Schulbetrieb. Die öffentliche Diskussion, die darüber geführt wird. Ich denke, man wird es schaffen, einen Schulbetrieb zu machen, insbesondere jetzt unter dem Eindruck, dass die 12- bis 17-Jährigen sich impfen lassen können. Und das ist die überwältigende Antwort dafür, wie wir es hinkriegen können, den Schulbetrieb in Deutschland im Winter zu erhalten. Die Schülerinnen und Schüler in dieser Altersgruppe sollten sich unbedingt impfen lassen.
In der jüngeren Altersgruppe gibt es ja jetzt neuere wissenschaftliche Daten, die zeigen, dass gerade bei kleineren Kindern, wir jetzt endlich auch einen wissenschaftlichen Anhalt dafür haben, warum die Infektionen milder verlaufen. Es ist eben nicht, dass da weniger Rezeptor ist, wie das einige in der Öffentlichkeit auch relativ pauschal behauptet haben. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar. Es ist was anderes. Es sind die Pattern-Recognition-Rezeptoren, also die Mustererkennungsrezeptoren im Interferon-System MDA5, vor allem der Coronavirus-Rezeptor, den wir kennen.
Hennig: Interferon kennen wir auch schon aus dem Kontext als Botenstoff.
Drosten: Genau. Ich will da jetzt nicht absolut einsteigen, da fehlt uns jetzt auch die Zeit. Aber wir haben jetzt einen wissenschaftlichen Anhalt aus einer Studie aus Heidelberg und Charité zusammen, sodass wir sagen können: Das gibt uns noch mal wieder ein bisschen Überzeugung, dass wirklich auch die Verläufe durch die Bank milder sind bei Kindern und nicht nur in der kleinen Zahl bisher gut charakterisierter Kinder, sodass man eben auch ein gewisses Infektionsniveau in den Schulen zulassen kann. Man darf davor nicht die Augen verschließen, man darf nicht dogmatisch sein. Und das ist ein Problem, das wir eben auch haben.
Immunabwehr bei Kindern schneller
Also wir müssen oder mussten bislang vielleicht aus Informationsmangel eben auch von einer kompletten Begrenzung im Schulbetrieb ausgehen, auch wegen der Gefahr, weil der gesamte Rest der Gesellschaft ebenfalls zur Virusvermehrung beiträgt - so, dass das hochkocht im Schulbetrieb und darum muss man die Inzidenz ganz niedrig halten und kontrollieren. Und das muss man jetzt vielleicht nicht mehr ganz so stark machen, und zwar deswegen, weil man jetzt auch Anhalte hat für einen Infektionsmechanismus, der sagt, das wird milder verlaufen und auch so bleiben.
Hennig: Der auch bei anderen Viren greift und es deswegen besonders einleuchtend ist, dass Kinder schneller mit einem Infekt fertig werden. Im Prinzip vereinfacht gesagt, weil die Immunabwehr schneller und deutlicher reagiert.
Drosten: Ja, genau. Aber der eigentliche Grund ist ein epidemiologischer Grund. Der eigentliche Grund ist eben die Geschwisterkinder und die Elternhaushalte, die sind jetzt durch die Impfung endlich zu schützen. Das ist der wirkliche Grund dafür. Und jetzt können wir eben sagen, die Kinder für sich selbst betrachtet in einem durch Maßnahmen noch geschützten Schulbetrieb, wo man auf dem Schulweg und in großen Teilen der Klasse des Unterrichts auch immer noch Maske trägt und so weiter, da muss man jetzt die Inzidenz so kontrollieren, dass man es über den Winter schafft, aber eben nicht jede Infektion verhindern.
Das ist nicht zu schaffen. Wenn man versucht, etwas zu schaffen, was nicht zu schaffen ist, dann wird man irgendwann überreagieren und einfach die Schulen wieder schließen. Und das müssen wir verhindern. Da müssen wir das tarieren. Wir haben hier ein großes regulatives Problem. Wir können damit umgehen, indem wir in den Schulbetrieb reintesten und das Virus durch die Testung sehen. Die Frage ist aber jetzt: Wie geht eine Amtsärztin, ein Amtsarzt mit einem Virusnachweis um?
Hennig: Wir haben es noch nicht weggetestet. Die Quarantäne ist eine große Frage, wie lang die greift.
Engmaschige Teststrategien in Schulen
Drosten: Genau. Und da ist jetzt die Frage, da wird man Kompromisslinien finden müssen. Eine Kompromisslinie ist die, die jetzt zum Beispiel in dem nordrhein-westfälischen Lolli-Testprojekt gefahren wird. Die könnte funktionieren.
Hennig: In Grundschulen wird das gemacht.
Drosten: Genau. Da wird engmaschig mit Pool-PCR, also mit zusammen durchgeführter PCR getestet.
Hennig: Wichtiger Unterschied, aber PCR. Bisher hatten wir Schnelltest-Konzepte in den Schulen.
Drosten: Genau. Es gab auch schon mal Pool-PCR-Konzepte. Die sind aber letztes Jahr eigentlich an der mangelnden Testkapazität gescheitert. Da gab es nicht genug Kapazitäten. Jetzt gibt es deutlich mehr. Und jetzt kann man das versuchen, dass man also im Schulbetrieb testet, engmaschig.
Nachtestung und Isolierung
Und dann eigentlich ganz schnell am nächsten Tag durch Nachtestung herausfindet, welches Kind jetzt infiziert ist und dass man dieses Kind zu Hause isoliert und für den Rest der Klasse eigentlich sagt: Wir machen keine Isolation, sondern wir testen dann nach ein paar Tagen schon wieder. Und wenn dann ein Ausbruch entsteht, dann werden wir die betroffenen Kinder finden. Die geben wir wieder nach Hause in die Isolierung. Und das machen wir die gesamte Zeit. Und dadurch nehmen wir immer die infizierten Kinder raus.
Hennig: Ich weiß bei denen ja aber dann mit größerer Sicherheit, dass sie infiziert sind oder dass sich eine Infektion anbahnt, weil ich beim PCR-Test den Ct-Wert habe. Ich kann die Viruslast schon mal sehen. Beim Schnelltest rutschen immer welche durch.
Drosten: Genau. Da hofft man jetzt eben bei der PCR-Pool-Testung, bei der Lolli-PCR-Testung, dass man die eben früher sieht und dass nichts mehr durchrutscht. Das ist das ein Konzept, das kann funktionieren. Das basiert im Moment auf einer Pilotphase im Niedrig-Inzidenzbereich, sodass man jetzt noch nicht sagen kann, ob das wirklich belastbar ist, wenn die Inzidenz hochgeht. Kann ja sein, dass dann alle Pools positiv werden, dann kann man sich das nicht mehr vorstellen.
Aber wie gesagt, das ist nicht belastet worden, dieses System, und das wird jetzt in den nächsten Wochen belastet werden und wir werden das sehen. Ich glaube zum Beispiel gar nicht, dass in Nordrhein-Westfalen alles schon am Umkippen ist, wie das manchmal in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Ich glaube, man wird das erst in einem Monat ungefähr sagen können, ob das dadurch wirklich zu kontrollieren ist. Und das kann funktionieren. Das ist eine gute Idee und eben auf einer rationalen Überlegung basiert.
Hennig: Kurz nochmal, Sie sagen Nordrhein-Westfalen wird noch nicht umkippen, weil Sie meinen, die Reiserückkehrer spielen in die hohen Inzidenzen mit rein.
Drosten: Genau, da ist diese hohe Inzidenz und da wird jetzt im Moment schon immer gesagt: Ah, da sieht man mal, das klappt ja alles nicht. Ich glaube nicht, dass man das so vorschnell schon sagen sollte. Das andere Modell ist eben, was ich im Herbst schon mal propagiert hatte, auch mit anderen gemeinsam, was wir hier im Podcast immer wieder besprochen haben, was vielleicht in diesem Herbst sogar noch sinnvoller wird, weil eben jetzt noch mal mehr diese Idee, man muss nicht jede Infektion unterbrechen und erkennen, eigentlich zum Tragen kommt, denn die Elternhaushalte und die älteren Geschwister sind geschützt, kann man also sagen, man könnte es sich auch leisten, nur die symptomatischen Kinder per PCR zu testen.
Asymptomatische nicht testen
Die asymptotischen haben kein Problem, die testet man auch nicht. Es geht hier nur um die eigene Gesundheit der Kinder. Also gucken wir doch nur nach Symptomen. Und es geht auch nebenbei noch um etwas anderes, denn wir wollen gleichzeitig auch nicht allzu viele Infektionen sehen. Wir wollen das gar nicht wissen, was da alles unterwegs ist. Wir müssen das nicht mehr wissen, denn die Elternhaushalte, die Geschwister und so weiter, die sind ja durch die Impfung geschützt. Und jetzt können wir über sehr wenig Testaufwand und über praktisch keine extra Logistik, denn wir können ja den Schülerinnen und Schülern sagen, habt ihr Symptome, müsst ihr zum Hausarzt und nicht in die Schule.
Dann wird beim Hausarzt eine PCR gemacht und dann wissen wir gleich mit Sicherheit, weil es eine PCR ist und nicht irgendeine Bande im Antigentest, dass das echt ist. Und mit dieser Sicherheit müsste man dann aber Regularien aufstellen, die sagen würden, weil wir wissen, diese Infektionskrankheit verbreitet sich in Clustern und weil wir ja eine Strategie brauchen, um die Verbreitung in der gesamten Schule, in der gesamten Stadt unter Kontrolle zu halten, müssen wir da immer auch draufhauen auf dieses Geschehen, was da hochkommt.
Ansteckung im Klassenzimmer
Hennig: Und der Schüler der Symptome hat, der hat ja vor vielleicht drei Tagen schon Mitschüler angesteckt.
Drosten: Der hat mit Sicherheit, gerade bei der Delta-Variante, wo wir extrem schnelle Verbreitung beobachten, in den Orten, wo jetzt Ausbrüche sind, der hat mit praktisch hundertprozentiger Sicherheit in derselben Klasse schon andere Schüler infiziert.
Hennig: Trotz Maske.
Drosten: Die werden wir in ein paar Tagen auch positiv sehen. Wenige 20, 30 Prozent von denen kriegen Symptome.
Hennig: Auch trotz Maske.
Drosten: Auch trotz Maske, Delta ist sehr verbreitbar. Man muss sich ja vorstellen, die Kinder treffen sich auch in der Freizeit, die sitzen zusammen im Schulbus und so weiter. Und in dieser Situation muss man sich dann einfach wieder auf dieses alte Prinzip der Kurzquarantäne auf Klassenebene besinnen. Das heißt, man macht dann fünf Kalendertage Kurzquarantäne zu Hause. Das betrifft meistens nur drei Schultage, denn wir haben ja zwei Kalendertage am Wochenende.
Einfache Quarantäneregelung
Unter diesen Kautelen wird man es wahrscheinlich auch hinbekommen, dass man mit wenig Testaufwand und mit einer einheitlich zu regulierenden und einfach zu verstehenden Quarantäneregelung, die nicht sehr eingreifend ist, diesen Schulbetrieb über den Winter zu retten ohne Impfmöglichkeit. Also, dass man sagen kann: Da ist ein Schüler mit positiver PCR. Okay, dann wissen alle Bescheid. Es geht mal wieder für drei Tage nach Hause. Mit Wochenende fünf Tage. Das wird viele Familien wieder sehr belasten.
Aber es wird natürlich eine andere Art von Belastung sein, als ein Schulschluss, wo die Kinder ständig nur zu Hause sind. Und vielleicht gibt es sogar dazwischen Kompromisslinien. Da bin ich mir nicht so sicher. Also ich glaube, man muss sich eher irgendwann für das eine oder das andere Modell entscheiden. Wenn man über den Weg von Testung plus Quarantäne agieren will. Aber ich glaube, das ist dann durchaus möglich. Das ist jetzt keine verfahrene, hoffnungslose Situation, wie das auch manchmal so dargestellt wird.
Maßnahmen in den Schulen
Hennig: Ist aber logistisch relativ anspruchsvoll, wenn man sich überlegt, Herbst, Winter. Kinderärzte berichten, dass sie jetzt schon sehr viele andere Viren bei Kindern sehen. Und Grundschulkinder haben oft Schnupfen. Und Schnupfen kann ein Symptom sein. Das heißt, es muss auch einen schnellen Zugang geben zum PCR-Test für die Eltern, deren Kinder jetzt eine laufende Nase haben. Die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht gar nicht so hoch, dass es Delta ist. Man will es aber wissen.
Drosten: Ja, ich glaube, ich muss das Grundprinzip aber auch dann noch mal wiederholen. Wir wollen gar nicht alle Infektionen sehen. Wir wollen auch nicht alle Delta-Infektionen sehen.
Hennig: Aber die mit Schnupfen wollen wir schon überprüfen?
Drosten: Wir wollen die mit Symptomen sehen. Das Symptom ist vielleicht nicht immer nur ein Schnupfen, sondern auch mal Fieber und so weiter. Die wollen wir sehen. Um ihnen zu helfen wollen wir diese Kinder auch auf der Liste haben. Da wollen wir wissen, dass die möglicherweise, auch wenn sie nicht so schnell wieder gesund werden, dass man sich die genauer angucken muss. Aber insgesamt müssen wir ja eine Kompromisslinie finden, die medizinisch sinnvoll ist, auch im Sinne der Gesundheit dieser Kinder, und da ist es natürlich sinnvoll, nach den Symptomen zu gucken, als auch politisch regulativ machbar.
Es nützt uns ja nichts, wenn wir sagen, wir können jetzt engmaschig testen. Aber hups, jetzt sehen wir überall das Virus. Und die Amtsärzte machen das nicht, weil sie sich letztendlich nicht damit abfinden können, dass sie einen Virusnachweis ignorieren, sodass sie also entweder in das eine Extrem verfallen, gleich alles zu schließen oder in das andere Extrem verfallen, zu sagen, wir wollen gar nicht mehr testen, wir wollen gar nichts mehr sehen. Dann würde man auch die symptomatischen Kinder nicht mehr sehen, bei denen man das medizinisch ja braucht.
Das ist eben schwierig, da die Kompromisslinie zu finden. Und für mich ist es weiterhin so, und das ist leider inzwischen so, dass manche Leute, die so öffentlich sprechen wie ich, da so ihre Einzelauffassungen haben. Das ist jetzt vielleicht so meine Einzelauffassung. Aber ich denke, da müssen wir jetzt relativ bald auf einer regulativen Ebene irgendwo zu einer bindenden Empfehlung kommen, die auch nicht nach drei Wochen wieder umkippt, weil irgendetwas doch nicht bedacht war.
Und da muss man mit viel Erfahrung, viel Frustration, die man angehäuft hat aus dem letzten Winter und Herbst, mit Praktikern zu einer Lösung kommen. Und sagen wir es mal so: Wir können dann nicht mehr in diesem Winter wieder in einer Situation sein, wo sich Verantwortungsträger weitgehend absichern und die Verantwortungsgrenzen abstecken und sich ansonsten aber nicht um Bereiche kümmern außerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs. Das geht dann wieder zu Lasten der Schülerinnen und Schüler.
Hennig: Das heißt aber, das bisherige Modell Screening, regelmäßiges Screening mit Antigentests in der Schule, zwei-, dreimal die Woche, das hätte dann ausgedient, weil das zu viele Unsicherheiten hat, dann doch zu viel Quarantäne verursacht für alle?
Drosten: Ich würde das so pauschal nicht sagen. Ich würde schon sagen, es könnte auch so gehen, dass man mit Antigentestung arbeitet in diesem Betrieb. Gerade, wenn man sagt, wir testen nur Symptomatische mit Antigentest. Da ist ja die Prätest-Wahrscheinlichkeit viel höher. Das Risiko von einem falsch-positiven Test kann man dann wirklich vernachlässigen in diesem Betriebsmodus. Wir haben hier nur ein Problem. Das ist der einzige Grund, warum ich sage, dass das per PCR gemacht werden muss.
Wir haben im letzten Winter die Erfahrung gemacht, dass ein Antigentest für ein Gesundheitsamt nicht ausreicht, um ein Cluster anzuerkennen und dann wird die Quarantäne nicht gemacht. Die wird dann zu spät gemacht. Das Cluster kocht dann schon und da wird immer noch während der Zeit der Antigentest angezweifelt und dann wird eine PCR angefordert, die wird am nächsten Tag genommen und ist am übernächsten Tag fertig. Dann sind zwei Tage Zeit vergangen. Und diese Zeitlücke darf nicht entstehen. Man muss sofort wissen, bei der ersten Diagnose, dass es echt ist.
Darum braucht man die PCR. Ansonsten, wenn man an den Antigentest glaubt, und das würde ich im Schulbetrieb persönlich empfehlen, wäre meine Präferenz, dass mit dem Antigentest zu machen. Ich spreche hier nur aus Erfahrung. Also für mich keine schmerzhafte Erfahrung, aber ich habe viel Arbeitszeit im letzten Winter in Beratungen von Ämtern, Politik, RKI und allen Mitspielern, Lehrerverbänden investiert. Und es war alles aus meiner Sicht, wenn es um dieses Modell geht, relativ wenig fruchtbar, weil das Modell einfach nicht angewendet worden ist.
Hennig: Jetzt sind wir noch einmal bei den Teststrategien angekommen. Wir haben vorhin schon ganz kurz die Situation im Restaurant durchgesprochen. Das wäre dann das Modell 3G. Also wenn wir jetzt nicht nur bei Kindern sind, sondern beim öffentlichen Leben insgesamt und bei Erwachsenen, bei Geimpften und Ungeimpften. Hamburg zum Beispiel, wo wir mit dem NDR ja sitzen, hat als Optionsmodell 2G freigestellt, Restaurantbetreibern zum Beispiel, Kulturveranstaltern, dass sie viel mehr Menschen reinholen können, viel weniger Abstandsregeln haben müssen, und dafür aber wirklich nur Geimpfte reinlassen.
Sorgen um Geimpfte?
Auch wenn Geimpfte das Virus übertragen, muss man da keine Sorge haben? Sagen wir mal, Sie und ich, wir sind beide geimpft. Wir sitzen im Restaurant. Ich bin infiziert, stecke Sie an und Sie tragen es noch weiter. Wissen wir was darüber, wie sehr von Geimpften zu Geimpften so eine Übertragung stattfindet?
Drosten: Genau. Ich hatte ja vorhin schon mal gesagt, es ist nicht schwarz-weiß, es gibt die Graustufen. Und wir sind als Geimpfter dennoch Infizierter, vielleicht eben auf so einem Grauspektrum. Wir sind nicht schwarz, voll infiziert. Wir sind aber auch nicht weiß, ganz clean. Sondern, da ist ein bisschen Virus und die heterologe Kombination ist immer schlecht.
Also ein nicht Geimpfter hat viel mehr Virus und der kann selbst einen Geimpften noch infizieren. Oder ein Geimpfter, der ein bisschen Virus hat, aber der dann auf einen Ungeimpften trifft, der Ungeimpfte ist so empfindlich für das Virus, dass der dann infiziert wird. Gleichzeitig aber, wenn zweimal Grauton zusammenkommt, dann wird das nicht noch schwärzer, sondern dann wird das eher ein bisschen weißer. Warum ich das sagen kann? Also ich sage damit, die Infektion zwischen Geimpften wird nicht mehr so gut weitergegeben.
Hennig: Trotz hoher Viruslast bei Delta?
Drosten: Trotz hoher Viruslast, genau. Ich kann das deswegen mit großer Entspanntheit sagen, weil es Daten gibt darüber. Die sind zwar indirekt, das ist keine direkt erhobene klinische Studie, aber man sieht das in den Meldedaten mehr als offensichtlich. Die sehr guten englischen Meldedaten beispielsweise, die zeigen ganz eindeutig dieses bemerkenswerte Hochkochen vor der Sommerpause, das war fast ausschließlich Delta. Und wir sehen auch dort, und das sehen wir übrigens auch in den Niederlanden, das sehen wir in Dänemark und so weiter, in vielen anderen Ländern, wo bei den alten Leuten besonders hohe Impfquoten erreicht worden sind, dass die alten Leute von diesem drastischen Anstieg nicht betroffen sind.
3G oder 2G?
Wir wissen gleichzeitig, dass die Kontaktnetzwerke bei den alten Leuten vor allem mit anderen alten Leuten bestehen. Und das zeigt uns absolut deutlich, es liegt einfach offen zutage, dass die Übertragung zwischen Geimpften nicht mehr sehr effizient ist. Und darum sage ich weiter auch mit großer Überzeugung, dass wir uns aus dieser Pandemie rausimpfen können, wenn wir über eine Impfquote von 90 Prozent kommen - gesamtgesellschaftlich. Das sollte auch unser Ziel sein.
Und wegen Ihrer Frage zu 3G, auch das verkommt wieder zu einer politisch aggressiven Diskussion, die vollkommen fehlgeleitet ist. Es ist ganz einfach: Wir haben diese Gs, die brauchen wir. Und wenn wir nichts Besseres haben als die Impfung, also wenn 2G nicht reicht, dann müssen wir dieses dritte G einfach dazutun, auch wenn es krepelig ist. Die Testung ist nicht so gut wie die Impfung, weil die Testung an sich keine Infektion unterbindet, sondern nur die darauffolgende Quarantäne, und das auch nur gesellschaftsweit, weil die Tests so imperfekt sind. Und dann eben, wenn wir jetzt wieder zum Kulturbetrieb kommen, Sie sagen jetzt Hamburg, das 2G-Beispiel.
Ich finde das überhaupt nicht falsch. Es ist nur ein bisschen - vielleicht kühn, das jetzt schon zu machen. Die Testung wegzulassen. Aber in diesem Fall wird ja nicht die Testung weggelassen, sondern die Ungeimpften werden einfach nicht zugelassen von vornherein. Das ist ja das Kalkül, das, wie ich finde, auch durchaus meine Sympathie findet, auch wenn man das anders bewerten mag. Auch wenn ich als Wissenschaftler da komplett neutral sein sollte.
2G in der Elbphilharmonie
Denken wir auch an die Elbphilharmonie, 2G oder 3G in der Elbphilharmonie. Also solche Szenarien kann man sich natürlich machen. Und natürlich ist das nicht so, dass, wenn lauter Geimpfte in der Elbphilharmonie sitzen, da ist eine Aufführung, die sitzen da alle eng an eng und dann wird doch mal das Virus eingeschleppt, dass dann die Katastrophe passiert. Das passiert nicht, denn die sind alle geimpft. Und weil die alle geimpft sind, ist die Übertragung schon ganz schön eingedämmt, obwohl wir im Labor eben sehen, da ist noch isolierbares Virus, aber es ist eben doch ein bisschen weniger.
Es gibt ein gewisses Zeitfenster, das müssen wir zugeben, da wird das so sein. Und es wird auch sein, dass sich einzelne Leute in der Elbphilharmonie infizieren und das mit nach Hause bringen und dort vielleicht noch jemand anderen infizieren. Aber auch dort, in einer geimpften Bevölkerung, sind diese Infektionsketten auch wieder begrenzt. Ab einer gewissen Zeit ist die gesamte Bevölkerung geimpft, aber das ist dann schon länger her. Und dann sind die Infektionsketten nicht mehr so begrenzt, dann läuft das Virus auch in der geimpften Bevölkerung und das soll es auch. Denn wir brauchen dieses Impf-Update, das ist dann die endemische Zeit.
Aber wir können da nur hin, wir können über diese Schwelle der vielen Todesfälle, der Krankenhausüberlastung, wahrscheinlich der sehr vielen Krankschreibungen, der Arbeitsausfälle, der Long-Covid-Fälle nur hinweg mit der Impfung. Und im Moment ist das nicht möglich für den Herbst. So weit sind wir leider noch nicht. Und wir müssen alles daransetzen, die Impfquote zu erhöhen. Das ist die beste Antwort, die die Wissenschaft auf all diese Fragen liefern kann.
Als Geimpfter weiter Vorsichtsmaßnahmen beibehalten?
Hennig: Das heißt, das eine ist ja die epidemiologische Lage, wenn man drauf guckt, wie kann man alles steuern. Darüber haben wir jetzt zusammen mit 2G und 3G gesprochen. Das andere ist noch mal mein persönliches Verhalten. Ich kann mir ja auch überlegen, ich muss nicht alles machen, was erlaubt ist, insbesondere in einem 3G-Modell, weil da die Wahrscheinlichkeit auch eher steigt, dass ich als Geimpfter das Virus dann doch in vulnerable Gruppen trage. Wenn ich einmal mit anderen Geimpften zusammen bin, kann ich ein stückweit die Sorge rausnehmen und sagen: Da kann ich mir vielleicht ein bisschen mehr erlauben. Oder würden Sie in der Situation auch noch sagen, generell als Geimpfter, man sollte weiter ganz viele Vorsichtsmaßnahmen beibehalten?
Drosten: Nein. Also um es noch mal zu sagen, wir sind ja jetzt so langsam zum Glück in einer Zeit, in der die Geimpften in der Überzahl sind in sozialen Situationen. So soll das unbedingt sein. Eigentlich wollen wir nur Geimpfte in der Sozialsituation, aber sie sind jetzt in der Überzahl. Und in dieser Situation ist für Geimpfte eigentlich keine Argumentation mehr zu machen, dass die sich dauernd testen lassen müssen. Denn diese Minderheit von Ungeimpften ist wirklich überwältigend in eigener Entscheidungsfreiheit ungeimpft und wird in vielen Modellen gar nicht teilnehmen.
Sie wird auch sagen: Da gehe ich gar nicht hin. Da muss ich mich ja testen lassen, da gibt es ja an dem Eingang eine Kontrolle. Gleichzeitig muss es ja auch eine Motivation geben für die Geimpften. Man muss anerkennen, und das ist der wissenschaftliche Grund, dass man da doch eben weniger Übertragung hat, auch wenn man nicht von der Hand weisen kann, dass da ein bisschen Virus ist. Aber es macht einfach logisch auch keinen Sinn mehr, wenn die Mehrzahl der Anwesenden geimpft ist, dass man zusätzlich zur Testung der wenigen Ungeimpften jetzt alle dauernd testet. Das ist klar. Also man könnte das machen. In dieser kleinen Gruppe.
Aber man kann es nicht mehr in der gesamten Gesellschaft machen. Also die gesamte Logik des Impfprogramms über den Individualschutz hinaus wird damit über Bord geschmissen. Wir leben ja in dieser Logik davon, wir wollen die Gastronomie offen halten, wir wollen den Kulturbetrieb erhalten, dass wir eben jetzt Freiheiten erlauben. Und die müssen wir ja für einen wesentlichen Teil des Publikums, der Bevölkerung, der Gäste erlauben. Und das sind doch die Geimpften. Wir können das über Testung nicht kontrollieren. Das haben wir ja gesehen. Das ist logistisch, technisch, finanziell überhaupt nicht machbar. Und die Tests selber geben das nicht her. Die sind einfach nicht perfekt genug.
Wäre eine Impfpflicht sinnvoll?
Hennig: Herr Drosten, ich würde zum Schluss gerne noch mal auf den Anfang zurückkommen, wo wir ja schon mal so ein bisschen auf den Herbst vorausgeblickt haben. Es gibt die Erfurter Cosmo-Studie, in der das Verhalten und auch die Einstellung der Menschen sozialpsychologisch abgefragt werden in der Pandemie. Und die sagt in der letzten Ausgabe immer noch, eine effektive Impfrate nennen die das, von 83 Prozent. Die beinhaltet Geimpfte und die Menschen, die eigentlich doch sehr impfwillig sind.
Wir haben sehr wenig im Podcast über Länder wie Spanien, Portugal gesprochen in Zusammenhang mit der Impfung, sondern eher im Zusammenhang mit der hohen Inzidenz. Die haben sehr hohe Impfraten, die steuern schon auf die 80 Prozent zu. Sie haben aber andererseits gesagt, das dauert zwei Monate, wenn wir jetzt nochmal anfangen Menschen massiv zu impfen. Weil sie erst jetzt kommen würden. Ich würde mir in einer idealen Welt wünschen, wir können die Menschen überzeugen und sie werden nicht gezwungen.
Andererseits wird jetzt in der Politik wieder verschärft darüber diskutiert. Gehen Sie davon aus, dass wir die Maßnahmen, die wir haben, und vielleicht noch verschärfte Kontaktreduktion bis zum Ende des Jahres haben werden? Es sei denn, die Politik entscheidet sich nach der Bundestagswahl: Wir machen eine Impfpflicht.
Drosten: Na ja, also ich glaube erst mal muss man sagen, man kann das versuchen zu vermitteln. Das ist ja ganz klar. Und natürlich gibt's eine grundsätzliche Offenheit. Ich würde auch nur ganz wenigen nicht geimpften Personen im Moment unterstellen, dass die irgendwie vollkommen verrückte Geschichten glauben und so weiter.
Hennig: Es gibt ja auch oft: Ich bin noch nicht dazu gekommen und ich fand das bisher nicht so dringend.
Drosten: Genau, das ist manchmal vielleicht auch so eine gewisse Gleichgültigkeit. Und natürlich, wenn man die dann in so einer Meinungsumfrage fragt, dann werden die sagen: Klar, nur zu. Aber dennoch sind sie nicht geimpft. Das ist eben die Gleichgültigkeit. Und ich glaube, das ist der Unterschied zu Bevölkerungen wie in Portugal und Spanien. Die hören nicht mehr Nachrichten oder sind nicht wissenschaftsgläubiger oder so.
Sondern die haben eine schreckliche gesamtgesellschaftliche Erfahrung hinter sich, nämlich viele Tote und einen richtigen Lockdown, also einen wirklichen Lockdown, wo man nur zum Einkaufen mit Begründung nach draußen darf. Und auf der Straße patrouilliert das Militär. Das ist ein Lockdown. Das haben wir in Deutschland nicht erlebt. Und wir können, glaube ich, diese Erfahrung in Deutschland nicht im Nachhinein noch simulieren. Das wird nicht gehen. Und darum glaube ich auch nicht, dass wir über Ansprache der Bevölkerung noch viel weiterkommen mit der Impfquote. Und darum glaube ich, dass die Politik eine schwere Aufgabe vor sich hat und bald auch konsequent Entscheidungen treffen muss.
Hennig: Allerletzte Frage, um noch mal vorauszublicken, gibt es etwas, das Sie optimistisch macht in dieser Phase?
Drosten: Also was mich optimistisch macht, ist die hohe Impfbereitschaft bei den 12- bis 17-Jährigen. Ganz eindeutig, das ist extrem positiv zu sehen. Wir haben hier eine junge, auffassungsfähige Bevölkerungsschicht. Ich glaube, dass man das auf die Studierenden auch so übertragen kann. Die Universitäten und auch sonstigen Bildungseinrichtungen für die etwas Älteren, die werden in der nächsten Zeit wahrscheinlich auch noch eine wichtige Rolle spielen. Das ist es, was mich optimistisch macht, diese auffassungsfähigen jungen Leute. Das ist sehr gut.
* Fußnote: An dieser Stelle war im Audio ein Versprecher, wir haben das im Skript nachträglich korrigiert.
Hinweis: Die nächste reguläre Folge gibt es am 14. September 2021. Die acht Kurzfolgen aus unserem Sommerprogramm finden Sie hier.