NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
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AUDIO: Nachdenker: Die letzte Generation von Bahnfahrern (3 Min)

Nachdenker: Die letzte Generation von Bahnfahrern

Stand: 01.12.2022 15:12 Uhr

Viel wird über Protest gesprochen in diesen Wochen. Über mutigen Protest zum einen, aber auch über unliebsamen Protest, der stört - zu dem es aber vielleicht trotzdem Anlass gibt. Alexander Solloch denkt in seiner Kolumne nach.

von Alexander Solloch

Zugegeben: Es ist schon eine weitgehend eindrucksvolle Inszenierung, die da tagtäglich an den 5.700 deutschen Bahnhöfen aufgeführt wird. Die Vortäuschung mobilitätsfördernder Handlungen gelingt bisweilen sogar noch, wenn man nicht allzu genau hinschaut. Doch das ist eben die Wahl, vor der wir stehen: nicht allzu genau hinzuschauen und uns unsere Decke über den Kopf zu ziehen oder laut zu protestieren, ungebärdig und ohne falsche Liebenswürdigkeit. Das Ziel von Protest besteht ja nicht darin, vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz umgehängt zu bekommen.

Deutsche Bahn wird seit langem kaputtgespart

Der Sachverhalt ist eindeutig und kann überhaupt gar nicht bestritten werden: Die Deutsche Bahn wird seit langem von ihrem eigenen miesen Management und von der Politik systematisch kaputtgespart.

Während immer neue Autobahnabschnitte gebaut und umgebaut werden, sind seit der Privatisierung der Deutschen Bahn 1994 mehr als sechstausend Kilometer Schiene stillgelegt worden. Nur ein Fünftel des Güterverkehrs spielt sich noch auf der Schiene ab; der allergrößte Teil vom Rest: auf der Straße.

"Die Rocky-Horror-Lauterbach-Show geht weiter"

Die Bahn - vor einhundert Jahren in Deutschland Ausweis vorzüglichster Modernität - wird mit einer Beharrlichkeit, der kaum noch subtile Elemente beigemischt sind, in die vollkommene Funktionsuntüchtigkeit getrieben. Die Züge, die Schienen, die Bahnhöfe sind in einem Ausmaß Schrott, der einen Weiterbetrieb der Bahn kaum noch möglich erscheinen lässt.

Besser also, man hört endlich auf, dieses einzige zuverlässig klimaschonende Verkehrsmittel zu nutzen. Für diejenigen, die zu blöd sind, diese Botschaft zu verstehen, verlängert man ohne nachvollziehbare Erklärung die Maskenpflicht in den Zügen bis ins voraussichtlich Unendliche. Ein Zugbegleiter soll vor einigen Wochen auf der Strecke Hamburg-München durchgesagt haben: "Die Rocky-Horror-Lauterbach-Show geht weiter. Und deshalb sind Sie verpflichtet, eine Maske zu tragen." Im Ergebnis ist Bahnfahren für diejenigen, die es überhaupt noch wagen - die letzte Generation von Bahnfahrern -, zur Zeit eine einzige Qual.

Zerstörung der Gründungsgeschichte der Grünen in einem Satz

Wen das nicht empört, den empört schon gar nichts mehr. Hierzulande empört uns aber nicht das Empörende, sondern nur die Empörung der Empörten. Was? Menschen kleben sich an den Straßen fest? Bringen den routinierten Aufmarsch der deutschen SUV-Panzertruppe ins Stocken? Konfrontieren uns mit dem Elend unserer verstopften Straßen? Schlimm! "Protestformen, die verärgern, helfen nicht wirklich", hat Wirtschaftsminister Robert Habeck diese Woche doziert - die Zerstörung der Gründungsgeschichte seiner Partei in einem Satz.

Was hülfe denn wirklich? Vermutlich meint Habeck die Besinnung auf die hierzulande immer noch gültige erste Bürgerpflicht: Ruhe. Wenn die gestört wird, die Totenruhe, dann aber gibt es Zunder! Vor der Bildung einer "Klima-RAF" hat der CSU-Abgeordnete Dobrindt gewarnt, der sich, als er noch Verkehrsminister war, lieber die linke Hand abgehackt hätte, als auch nur einen an ihr befindlichen Finger für eine Mobilitätswende zu krümmen. Jetzt hingegen kann es nichts Eiligeres geben, als die Gesetze gegen Störenfriede zu verschärfen.

Mehr Protest im deutschen Betriebsablauf!

Denjenigen, die uns mit radikalem Protest irritieren, wird vorgeworfen, es gehe ihnen doch bloß darum, Aufmerksamkeit zu erregen; ihr eigentliches Anliegen werde hinter ihren seltsamen Aktionen unkenntlich. Tatsächlich besteht aber das große Verdienst der bisherigen Proteste genau darin: aufgezeigt zu haben, wie schnell wir uns über Störungen unseres Alltags erregen und wie gleichgültig uns demgegenüber die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen lässt. Darum ist Grund gegeben für noch mehr Protest, für noch mehr Störung im deutschen Betriebsablauf.

 

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 02.12.2022 | 10:20 Uhr

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