Nachgedacht: Kunst nur bei zertifizierter Gesinnung?
Die Kunst ist frei. Es geht schwerer über die Lippen, wenn Rassismus und Antisemitismus bis in die Kunst vordringen. Und doch muss es gelten, findet Ulrich Kühn.
Im Sommer vor zehn Jahren, als Deutschlands Buben Kick-Weltmeister wurden, habe ich Roman Herzog interviewt. Es war eine andere Zeit. Der Altbundespräsident, dessen Erbe auf einen "Ruck" zusammengeschrumpft ist, empfing mich in einer gar nicht großen Münchener Wohnung. Vorher wurde aber erst gecheckt, ob ich überhaupt als halbwegs unverdächtiger Bürger durchgehe. Okay, bestanden. Ich reise also an, und damit ich vor dem Gespräch nicht durch die Gegend irre, fahre ich am Vorabend schon mal zur angegebenen Adresse. Alles klar, hier muss ich hin, Mehrfamilienhaus, auffällig unauffällig, nicht mal Kameras zu sehen. Am nächsten Tag zur verabredeten Zeit bin ich dort, nebst zwei Herrschaften vom BND, die mich begleiten sollen. Begrüßung: "Grüß Gott, Sie waren ja gestern schon da." Hach, sie sehen alles, sei gepriesen, wachsamer Staat! Und warum fällt mir das jetzt wieder ein? Will ich durchs Erinnern an 2014 den EM-Titel für unsere Kicker-Knaben herbei beschwören?
Die Freiheit der Kunst ist keine Gefahr
Es gibt einen anderen Grund. Die Wachsamkeit des Staats, sie ist gut, sie ist wichtig, stößt aber an Grenzen der Zuständigkeit. Dann ist die Gesellschaft gefragt, also in Wahrheit wir alle. Ein Beispiel:
Die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg hat ein Gesetz entworfen, das einen Check auf Verfassungstreue vorsieht, dem sich auch Künstler, Museumsmenschen, Theatermacherinnen zu unterziehen hätten, wenn sie Fördermittel erhalten wollen. Wer Hass und Ressentiments verbreite und sich gegen die Demokratie wende, dürfe nicht mit Steuermitteln gefördert werden, sagt Badenberg der "Süddeutschen Zeitung". Klingt ja vernünftig. Allerdings ist da auch das im Grundgesetz verankerte Prinzip namens Kunstfreiheit. Man malt sich mühelos aus, wie ein solches Gesetz und die Kunstfreiheit schadenstiftend aneinander rumpeln.
Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda hat die Gesetzes-Idee hart kritisiert. Ebenfalls in der "Süddeutschen Zeitung" bringt er es auf den Punkt: Die Freiheit der Kunst ist keine Gefahr für eine freie Gesellschaft, sie ist "eines ihrer Wesensmerkmale. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen." Brosda hat Recht. Wer an der Kunstfreiheit herumdoktert, um eine sich in Hass verlierende freie demokratische Gesellschaft auf den besseren Pfad zurückzuführen, wirkt zuletzt an ihrem Selbstverlust mit. Die Freiheit der Kunst zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Kunst sie auch dort genießt, wo es unbequem wird. Ist damit alles geklärt? Leider nein.
Kunstfreiheit ist kein Freibrief
Es bleibt ja ein Riesenproblem, wenn sich in freier Kunst zum Beispiel der Hass auf Juden Luft verschaffen will. Kunstfreiheit kann kein Freibrief sein für die Camouflage unappetitlicher, die Menschenwürde verletzender Gefühle. Man kann in diesem Land innerhalb weit gesteckter Grenzen demonstrieren und seine Meinung äußern. Es ist kein schlüssiger Gedanke, in der Absicht, die Grenze zu überschreiten, aufs Gebiet der Kunst auszuweichen, um seinen Hass dort auszutoben. Also doch - eine Gesinnungsprüfung?
Eben nicht. Es ist eine Horrorvorstellung, nur Bücher lesen, Musik hören zu können, die von Menschen mit zertifizierter Weltanschauung produziert und präsentiert werden. Der Rowohlt Verlag hat zu Recht die "Reise ans Ende der Nacht" von Louis-Ferdinand Céline neu herausgebracht, das Romanmeisterwerk eines Mannes, der als Rassist, Antisemit, Kollaborateur auffällig wurde. Kunst, die den Namen verdient, muss, um diskutabel zu sein, frei zugänglich bleiben. Wo sie dazu dienen soll, rassistisches Denken in Form zu bringen, muss der Staat sie nicht fördern. Dafür braucht es aber keine zertifizierten Gesinnungen, eine erwachsene Gesellschaft kommt damit aus sich heraus zurecht. Die Frage lautet also: Wie erwachsen sind wir in der Welt kindlichen Hasses? Vielleicht wäre es gut, die Buben würden Europameister. Vielleicht ginge ein Ruck durch Deutschland. Ein Ruck in Richtung erwachsen und frei - ein Riesenstück weg vom Hass.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.