NachGedacht: Ein Häuflein unterm Mikroskop
Nie zuvor haben sich Kulturredaktionen so hingebungsvoll mit Hundekot beschäftigt wie in dieser Woche. Was sind die vorläufigen Ergebnisse des Grübelns über die Hundekot-Attacke von Marco Goecke?
Noch dauern die Laborarbeiten in den Feuilletons an: Dem Hannoverschen Hundekot muss doch irgendetwas Gehaltvolles zu entnehmen sein, Größeres, so etwas richtig schön Grundsätzliches! Oder kann man in der Untat des bisherigen Ballettdirektors Marco Goecke, einer missliebigen Kritikerin die Exkremente seines Dackels ins Gesicht zu schmieren (von der „taz“ treffend als "Scheißaktion" bezeichnet), wirklich bloß einen Einzelfall sehen?
FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube: Ritterlich der Gattin beigesprungen
Immerhin demonstriert uns diese Affäre die Allmacht der Liebe, wer hätte das gedacht? Die FAZ spricht von einem "Angriff auf die freie, kritische Kunstbetrachtung generell". Für solche unterstellte Generalität ist dieser Übergriff, so sehr er auch erschreckt, wohl doch etwas wenig. Aber in der Entrüstung steckt sicher auch ein gutes Stück Ritterlichkeit des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube, der mit der Kritikerin verheiratet ist. Ob es sich nun gerade bei ihm um den genau Richtigen handelt, den Frevler Goecke öffentlich zu tadeln, das muss die betreffende Redaktion entscheiden und die Leserschaft (die über diese Verbindung von der Zeitung allerdings nicht informiert wurde). Wir haben ja neulich hier in der Französischstunde den schönen Satz von Blaise Pascal durchgenommen: "Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht begreift." Täglich bestätigt sich das. Dass die FAZ aus romantischen Motiven nun ihren ehernen Glauben an die Vernunft preisgibt, ist ja beinahe ergreifend.
Die einigermaßen wirren Einlassungen des Kotschmierers Goecke zeigen unterdessen nur dies: Kulturkritiker können seinem Handeln nicht die Ehre antun, es als symptomatisch für was auch immer anzusehen. Hier sind Spezialisten anderer Disziplinen gefragt. Auch braucht es nun wirklich keine Debatte darüber, ob etwa die Theater-, Ballett-, Opern-, Film-, Literaturkritik prinzipiell zu hart sei, wenn sie doch eine derartige Reaktion hervorruft. Im Gegenteil wüsste ich jedenfalls kaum zu sagen, wann die Kritik in Zeiten von Presse- und Meinungsfreiheit je milder gewesen wäre als heute; milder und: wirkungsloser…
Kritik als journalistisches Genre seit Jahren vernachlässigt
Aber unterm Mikroskop lässt die Hundekot-Analyse doch immerhin drei Probleme erkennen, die tieferes Nachdenken lohnen. Die Verantwortung, die Schuld gar ist in dieser Affäre aufs Allerlangweiligste eindeutig verteilt, und trotzdem dürfen sich alle kulturkritischen Medien, auch wir, fragen, ob zu dieser Enthemmung nicht ein winziges bisschen auch der Umstand beigetragen hat, dass sie seit Jahren schon die Kritik als journalistisches Genre - manche würden vielleicht gar sagen: als Kunstform - vernachlässigen. Die Feuilletons werden immer dünner, die Sendeplätze vielfach kürzer; von den Honoraren wollen wir gar nicht reden! Kritik ist keine Instanz mehr. Für einen Wirrkopf ist sie dann womöglich zum Besudeln freigegeben.
Marco Goecke und die anderen "hart arbeitenden" Menschen
Eben jener Marco Goecke fragt rhetorisch, was denn wohl andere "hart arbeitende" Menschen täten, die von der Kritik "mit Schmutz beworfen" würden. Die Idee, dass Arbeit, wenn sie nur "hart" ist, vor Kritik geschützt sein sollte, scheint originell, folgt aber doch bloß dem jahrhundertealten urdeutschen Glauben daran, dass Arbeit heilig sei, welche Ergebnisse sie auch immer zeitigt. Da hülfe es, weniger zu arbeiten: Man sieht die Welt dann gleich viel ausgeruhter und entspannter an.
Die große Zeit der Empfindlichen und Beleidigten
Und drittens kommt dieser Fall zweifellos ins 89. Kapitel der historischen Studie über unser Zeitalter, die irgendwann einmal erscheinen wird unter dem Titel: "Das feinnervige Jahrzehnt". Ein Jahrzehnt bloß? Ja, sie muss wirklich nicht viel länger dauern, diese große Zeit der Empfindlichen und Beleidigten, wenn wir nur alle mal wieder das weise Wort des Musikers und Schriftstellers Sven Regener beherzigen wollen, diese Einladung zur vollkommenen Souveränität und Freiheit: "Die Welt ist dir nichts schuldig. Du ihr aber auch nicht."