Reeperbahn Festival Tag 2: Mongolische Jazzfolklore bis Mainstream-Pop
Musik kann Erinnerungen wecken, Sehnsucht stillen, wütend machen, zum Tanzen oder Weinen anregen. Am zweiten Tag zeigte sich das Reeperbahn Festival in all seiner Vielfalt: Von mongolischer Jazzfolklore mit Enji bis nostalgischem Mainstream-Pop mit Juli.
Pünktlich zum Reeperbahnfestival ist der Spätsommer in St. Pauli angekommen. Blauer Himmel und Temperaturen über zwanzig Grad locken nicht nur Hamburger*innen ins Festival-Village auf dem Heiligengeistfeld. Aus allen Ecken des Geländes übertönen Sounds den Straßenlärm, der hier gewöhnlich dominiert. Das kostenlos zugängliche Festgelände wird am Donnerstag schon deutlich höher frequentiert als am Vortag. Kinder spielen auf den Skater-Rampen und beinahe alle Chill-Ecken sind am frühen Abend belegt.
Vorbereitung tut Not
Lauscht man dem Stimmen-Mix wird deutlich, dass Musikliebhaber aus aller Herren Länder dem Ruf "Let the Music grow" nach Hamburg gefolgt sind. Doch das Village ist für viele nur der Ausgangspunkt, von dem sie sich in die vielen Bars, Clubs, Restaurants und vor die Bühnen auf die bekannteste Amüsiermeile der Stadt verstreuen. Wo genau es hingehen soll, sollte man am Besten schon zu Hause geplant haben, denn einen Lageplan "to go" gibt es in diesem Jahr nicht. Man spart Papier und entstehenden Müll. Die entsprechend mit Infos überfrachtete Homepage verschluckt sich beim Aufbau allerdings gern, ist auch am Mittwoch schon einmal in die Knie gegangen. Vorbereitung tut Not.
Der Klang von Fernweh: Enji komponiert mongolische Jazz-Folklore
Man kann es auch weniger rational angehen und sich einfach von Club zu Club treiben lassen. Mit etwas Glück trifft man auf diese Weise auf die mongolische Nachwuchsmusikerin Enji. Am frühen Mittwochabend zieht sie das Publikum mit ihrer sinnlichen Stimme und eigenen Kompositionen im Grünspan in ihren Bann. Ihre Performance beginnt sie mit geschlossenen Augen. Es herrscht absolute Stille im Raum. Hochkonzentriert haucht sie ins Mikrofon. Erst nach Minuten wird die Stimme der Sängerin kräftiger und heller. Mehr als zehn Minuten steigert sie sich, stöhnt. Ihre Mischung aus Jazz und mongolischer Folklore irritiert und fesselt das Publikum. Die 33-jährige Wahlmünchnerin erklärt, dass die Folklore eine Brücke in ihre Heimat schlage, wenn sie Heimweh habe. Ein Hall auf dem Mikrofon erzeugt die Illusion von Weite. Enji platziert Elemente des tausende Jahre alten Kehlkopfgesanges neben mongolische und englische Texte. Begleitet wird sie von einer Kontrabassistin und einem Gitarristen. Die Künstlerin gehört zu den Nominierten für den Anchor Award, der am Samstag vergeben wird.
Düstere Performance: Ão im Kaiserkeller
Nach der Illusion von Harmonie und Weite, ermöglicht ein Stopp im Kaiserkeller einen Realitätscheck. Mit jeder Stufe, die man hinuntersteigt, wird die Atmosphäre düsterer. Tiefe Decken und eine vernebelte Bühne in blauem Gegenlicht bilden einen starken Kontrast zum Besuch im Grünspan. Die Vielfalt der Musikperformance schlägt einem hier ins Gesicht. Der Blick zur Stage, von der Bässe wummern und Trommeln schlagen, wird durch die schwarzen Schatten des eng stehenden Publikums erschwert, das laut ist und tanzt. Im Gegenlicht ist ein Lockenkopf zu erkennen. Er gehört zu Brenda Corijn, Frontfrau der vielgelobten Band Ão. Das belgische Quartett verbindet elektronisch verstärkt Saudade, Indie und Folk.
Cowboy Stuzzi sorgt für Sommerstimmung im Mojo Club
Bunte Farben, hohe Decken und ein mit Cowboyhut kostümierter Sänger empfangen das Publikum am Donnerstagabend im schicken Mojo Club. Tanzbar ist die Musik des schwedischen Produzenten. Es scheint sogar ausgeschlossen, nicht zu den Copacabana Vibes, die sich mit Country und Funk verbinden, zu tanzen. Dem Charme des 46-jährigen Entertainers kann sich im Raum keiner entziehen. Alles wippt und lacht. Stuzzi ist ein Gute-Laune-Garant. Eine Frage stellt sich: Was macht der Mann mit der Querflöte auf der Bühne?
Milan Ring schlägt ruhige Töne an
Zurück im Grünspan, steht Milan Ring auf der Bühne. Sie ist nicht nur Sängerin und Gitarristin, sondern auch Produzentin und Toningenieurin. Die Australierin begleitet sich mit der Gitarre und hat einen Looper neben sich stehen, den sie während der Songs bedient. Die R'n'B-Künstlerin, schreibt ihre Songs selbst, kann singen und rappen. Sie bewegt sich selbstbewusst auf der Bühne und begeistert das Publikum mit überzeugender Bühnenpräsenz. Ihr zweites Studioalbum "Mangos" erschien kürzlich.
Juli bringen die Große Freiheit zum wippen
Seit der hessischen Band 2004 mit ihrer Debütsingle "Perfekte Welle" der Durchbruch gelang, ist sie aus der deutschen Popszene nicht wegzudenken. So euphorisch war das Publikum an diesem Abend in keiner anderen der genannten Shows. Waren die Räume im Publikum bislang angenehm luftig, quetscht sich die Menge erwartungsvoll Richtung Bühne als Frontfrau Eva Briegel "Irgendwann im November" anstimmt. "Habt ihr bequeme Schuhe an?", fragt Biegel und fordert das Publikum selbstbewusst zum Tanzen auf. Zu "Elektrisches Gefühl" kommt dann Bewegung in die altersmäßig deutlich erhöhten Reihen. Mainstream at it's best! Alle feiern gemeinsam die Erinnerung. Denn auch dieses Bedürfnis kann Musik befriedigen.
Secret Headliner Ski Aggu zieht mit Überraschungsgast
Als Anfang der Woche der Secret Headliner Ski Aggu bekannt gegeben wird, steht die Frage im Raum, warum die Partybank Donnerstag nach Mitternacht auftreten werde. Müssen nicht am Freitag alle früh raus? Offenbar nicht. Der Raum vor der Bühne Ecke Spielbudenplatz / Taubenstraße, der 1.500 Leute fasst, füllt sich gut. Um 00.10 Uhr betritt der Atzenrapper die Stage der Docks und beginnt damit, sein neues Album "Wilmersdorfer Kind" zu präsentieren. Doch so richtig will der Funke nicht überspringen. Seine Texte sind ironisch und intelligent, aber alleine wirkt er verloren auf der Bühne. Erst als der Secret Headliner seinen Secret Headliner auf die Bühne holt, startet die Party: Mit Otto Walkes und einem Remake dessen Ohrwurm "Freisenjung" landete der 26-Jährige im vergangenen Jahr eine Chart-Hit. Freude kommt auf: Otto geht in Hamburg immer!