MME-Awards: Der europäische Pop von morgen
Im niederländischen Groningen sind beim Eurosonic-Festival die "Music-Moves-Europe-Awards" verliehen worden. Musik bewegt Europa? In Zeiten einer zerrissenen EU, ein fast trotziger Ausruf, meint Mischa Kreiskott.
Musiker wie Carla Bruni, Tokio Hotel oder Adele, Stromae, Milky Chance, Dua Lipa - sie alle haben eins gemeinsam: Sie sind einst ausgezeichnet worden mit dem "European Boarder Breakers Award", dem großen Musikpreis der Europäischen Kommission. Früher eine internationale Fernsehshow, präsentiert von der BBC-Moderatoren-Legende Jools Holland.
Das ist seit dem Brexit vorbei. Großbritannien macht bei europäischer Musikförderung nicht mehr mit. Der Nachfolgepreis, in mehreren Kategorien, wurde nun beim Eurosonic-Festival im niederländischen Groningen verliehen.
"Freekind": Frauen-Duo aus Slowenien und Kroatien
"Ich glaube, dass wir Glück haben, in Europa zu leben, das merken wir jetzt, wenn wir mit Musikern sprechen, die keinen EU-Pass haben, die nicht reisen können, für die es keine Programme, keinen Austausch gibt." Das klingt wie aus einem Imagefilm zu einem europäischen Förderprojekt, aber diese beiden meinen und leben das wirklich so: Sara Gredelj aus Slowenien und Nina Korošak Serčič aus Kroatien. Getroffen haben sie sich an der Musikhochschule im österreichischen Graz. Die Musik, die sie als "Freekind" in die Welt bringen, wirkt, als kämen sie aus Los Angeles, mindestens.
Wer die beiden sieht, traut ihnen diesen Sound kaum zu. Unterschätzt werden? "Alltag für uns!", erzählen Sara und Nina. Beide Anfang 20, eher unscheinbar, wenn man ihnen gegenübersitzt. Der Music-Moves-Europe-Award wird ihnen bei der nötigen "credibility" helfen: "Nach den Konzerten kommen die Menschen oft zu uns, und sagen, sie hätten einen schlechten Tag gehabt, die Musik habe sie aufgerichtet. Häufig sagen die Leute, genau das hätten sie jetzt gebraucht, und nicht so etwas Dystopisches."
Noch nicht weiter definiert: Genre "Comfort Pop"
Die Songs der zwei Europäerinnen scheinen zum noch nicht weiter definierten Genre "Comfort Pop" zu gehören, gerade Musikerinnen tragen solche Konzepte derzeit in die Playlisten: Es geht um seelische Gesundheit in den Texten, um Trost, ein sich aufgefangen Fühlen. Die Arrangements wirken dabei wie eine wohlgewebte warme Decke …
Ein Konzept, das "Freekind" in einer Zeit entworfen haben, in der andere Musikerinnen in Schockstarre waren: Mitten im Lockdown der Pandemie entstand mit "This too shall pass" ihr erster gemeinsamer Song: "Wir waren nie allein, wir hatten einander, und das hat uns Kraft gegeben, etwas Kreatives zu tun, das hat uns gerettet."
Yuné Pinku: Neuer Technio-Entwurf
Erstaunlich überhaupt, wie viele Gewinnerinnen dieses Preisjahrgangs die Pandemie als kreativen Düsenantrieb nutzten: Yuné Pinku - irisch-malaysisch mit Kindheit in London - hat die Zeit gleich für einen neuen Entwurf von Techno genutzt: "Bluff" heißt ihr Pandemietrack. Musik für all jene, die sich in Clubs eigentlich gar nicht so wohl fühlen: "Nightlife can be quite dasy, and can be really fun at the same time" - Yuné Pinku lässt schwere Beats kurven wie Fragezeichen, auch das eine Position neuer europäischer Popmusik.
EU-Kommissar Häusler: "Kultur entscheidend für Europa"
"Ich bin einfach total happy und stolz. Ich meine, das ist Europa" ruft er aus, direkt nach der Zeremonie, der österreichische EU-Kommissar für Kultur und MME-Award Schirmherr Georg Häusler: "Junge Leute voller Energie, voller Kreativität, große Künstler. Wunderbar, Kultur muss entscheidend sein für Europa. Was uns alle zusammenhält, ist Kultur und kultureller Austausch.
Musik bewegt Europa nach vorne? Ja, das wäre eine schöne Utopie für eine taumelnde europäische Idee, immerhin erlebt man in Groningen an diesem Abend Menschen, die für Europa brennen, mit ihrer Musik und ihren Botschaften.
"Bulgarian Cartrader": Leichtfüßiges Spiel mit Ironie und Heimatliebe
"Ich glaube, dass der Westen eine Fantasie hat, wie der Balkan ist", sagt Daniel Stoyanov, der sich "Bulgarian Cartrader", ja Autohändler, nennt. Er ist geboren in Sofia, aufgewachsen in Süddeutschland und lebt in Berlin. Schon sein Künstlername spielt mit Klischees und Zuschreibung: "Das ist teilweise richtig, aber doch ein bisschen auf eine 'Punchline' gebracht." Ein Wilder Osten, wie man ihn aus Filmen und Witzen kennt. "Aber wenn ich mir das alltägliche Leben in Bulgarien angucke, hat das schon andere Facetten", so Stoyanov.
"Bulgarian Cartraders" Social-Media-Team besteht folgerichtig aus drei bulgarischen Großmüttern vom Land, mit Kopftuch, High-Speed-Internet und einem analogen Glücksesel, der "Algorithmus" heißt: "Die Grandma-Media-Group, die machen das komplette Marketing, die machen das mit anderen Strategien, Balkan-Vodoo, und es funktioniert sehr gut, ich bin hier nominiert" …und ausgezeichnet. Allein für dieses leichtfüßige Spiel mit Identität, Heimatliebe, Persona und Ironie hätte der "Bulgarian Cartrader" seinen Preis schon verdient. "Ich bewege mich in so einem Bereich der Fantasien, der Wünsche, der Sehnsüchte und der absurden Unmöglichkeiten. Europa als kultureller Gesamtort, all das gehört dazu. Wir waren schon immer eine kulturelle Einheit."