Gezieltes kreatives Austoben: "The Art Of The Lie" von John Grant
"The Art Of The Lie" - "Die Kunst der Lüge". Ein starker Titel für ein ebenso starkes Album - das neue, sechste Werk von John Grant. Darauf verarbeitet der gebürtige Amerikaner seine traumatische Kindheit.
Seine Erlebnisse aus der Kindheit belasten den 55-jährigen John Grant sehr. Aufgewachsen in einem ultra-religiösen Umfeld hat er seine Probleme mit der mordernen Welt. "Die Verwandlung von Kafka - das ist es, was ich am eigenen Leib erlebt habe. Ich bin eines Morgens aufgewacht und war dieses Monster, das man nicht sein darf. Seitdem will ich nicht mehr Teil dieser Gesellschaft sein - weil darin kein Platz für mich ist."
John Grant sieht sich als Außenseiter. Als Opfer einer homophoben Welt, die ihm seit seinem Outing als Jugendlicher im ländlichen Colorado das Leben schwer macht. Für seine Eltern war der schwule Sohn eine Katastrophe, für die lokale Kirchengemeinde untragbar, für seine Mitschüler eine leichte Zielscheibe. Das hat tiefe seelische Narben hinterlassen.
Ein Spiegel für das moderne Amerika
Auf "The Art Of The Lie" hält Grant dem modernen Amerika den Spiegel vors Gesicht: geballter Hass, scheinheilige Religiosität, der Schulterschluss von christlichen Fundamentalisten und Nazi-Gruppierungen, aber auch die Handlungsunfähigkeit der Politik und die irren Reden eines Donald Trump.
Grants Fazit: America has lost its marbles - Amerika hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. "Es ist ein Theater des Absurden - was jedoch zu den USA mit all ihren Paradoxien passt", beschreibt Grant. "Hier werden das Geld und der Materialismus verehrt. Und das Land basiert auf der Ausrottung der Ureinwohner, die den europäischen Immigranten weichen mussten. Auf den Friedhöfen der Indigenen haben wir dann unsere Einkaufszentren, Spielhallen und Kirchen gebaut."
Kunst als Weg aus der Krise
Bitterböse Systemkritik, die Grant mit therapeutischen Gedanken zu seinen verstorbenen Eltern kombiniert. Hier versucht er späten Frieden zu schließen - und er thematisiert seine persönlichen Probleme als 55-jähriger Mann mit HIV-Erkrankung, der sich heimatlos, weltfremd und verloren fühlt. Damit zeigt er allen, denen es genau so geht: Ihr seid nicht allein, wir sind viele - und wir können etwas ändern.
"Jeder hat seine eigene Geschichte. Aber indem ich meine erzähle, spreche ich auch für andere", sagt John Grant. "Für jemanden wie mich, der sich seit langem unsichtbar fühlt, ist Kunst ein Weg, um gesehen zu werden und sich Ausdruck zu verschaffen - selbst, wenn das nur die Erfahrungen eines einzigen Menschen auf diesem Planeten wiedergibt."
Überzeugend
Musik als Akt der Befreiung und Verwirklichung. Ein spannender Ansatz, den John Grant genauso umsetzt: Die elf Stücke variieren zwischen Ambient, Synthie- und Dreampop sowie New Wave und Funk. Sie weisen viel Atmosphäre, Ecken und Kanten, aber auch verspielte Vokaleffekte und skurrile Sounds auf. Ein gezieltes kreatives Austoben - mit starkem inhaltlichen Konzept.
The Art Of The Lie
- Genre:
- Ambient, Dreampop, New Wave, Funk
- Produktionsjahr:
- 2023
- Label:
- Bella Union
- Veröffentlichungsdatum:
- 14.06.2024