"Wenn ich singe, fühle ich mich frei": Ein Sopranist im Porträt
Samuel Mariño, einer von wenigen männlichen Sopranen auf der Welt, spielt in Händels "Sarrasine" die Rolle des jungen und schönen Zambinella - für ihn eine Oper über die Freiheit der Geschlechter. Sie wird am 31. August beim ARD Radiofestival gesendet.
Eine knappe Stunde vor Beginn der Probe für die Oper "Sarrasine" sitzt Samuel Mariño in seiner Garderobe im Deutschen Theater und breitet seine Utensilien auf dem Schminktisch aus. "Ich benutze nur Naturkosmetik", erklärt er. "Das ist besser für meine Haut und für mein ökologisches Gewissen." Verschiedene Foundations und Schattierungen in Beige- und Brauntönen werden schnell und sicher aufgetupft, -gepinselt und -gestrichen, und schon wirkt das Gesicht ebenmäßiger und markanter. Nach acht Jahren als Balletttänzer weiß Samuel, worauf es ankommt.
Nur bei besonders anspruchsvollen Make-ups nimmt er die Unterstützung einer Maskenbildnerin in Anspruch. Sie lässt auch seine Locken unter einer eng anliegenden Kappe verschwinden, damit die barocke Perücke samt üppigem Kopfputz besser sitzt. Dazwischen fällt das winzige Mikrofon für die Liveübertragung auf NDR Kultur kaum auf.
Uraufführung bei den Göttinger Händel-Festspielen
Im Opern-Pasticcio "Sarrasine", das der Dirigent George Petrou und der Regisseur Laurence Dale nach einer Novelle von Honoré de Balzac neu geschaffen haben, singt und spielt der junge Venezolaner den Kastraten Zambinella. In ihn verliebt sich der Bildhauer Sarrasine, ohne zu wissen, dass die Schönheit mit der herrlichen Sopranstimme in Wirklichkeit ein Mann ist. Als die Täuschung auffliegt, wendet sich die Liebe in Hass. Als Rahmenhandlung dient eine Abendgesellschaft im Paris des 19. Jahrhunderts, mit Balzac selbst als einem der Protagonisten. All das zu Musik von Georg Friedrich Händel, allerdings in dieser Form bisher un-erhört: Petrou und Dale haben nämlich wenig bekannte Arien und Ensembles aus verschiedensten Werken zusammengestellt und mit gesprochenen Dialogen verbunden. Nach fünf Jahren mühsamer Kleinarbeit erlebt die neue Oper bei den Göttinger Händel-Festspielen ihre Uraufführung.
Harte Probenarbeit
Zwei Tage vor der Premiere ist Samuel Mariño müde von den vielen Proben und der anspruchsvollen Partie, gesundheitlich ein bisschen angeschlagen. Eine Erkältung geht um im Ensemble, und eine Zeitlang ist nicht klar, ob das dauernde Husten auf der Bühne zur Figur gehört - ja, das tut es, aber nur am Anfang, als Zambinella sich als alter, kranker Mann unter die feiernde Pariser Gesellschaft mischt.
Sorge für das körperliche und seelische Wohl
Ein Sänger, der ständig physische und emotionale Höchstleistungen erbringt, muss auf sich achten. Zuhause in Berlin - in Deutschland wohnt er aus steuerlichen Gründen - ernährt Samuel sich vegetarisch; auf Reisen ist das schwieriger durchzuhalten. Und: "Wenn ich nicht täglich meine 15.000 Schritte laufe, fühle ich mich unwohl", betont er. Mit Kraftsport kann der feingliedrige junge Mann allerdings nichts anfangen; zu prononcierte Muskeln würden die Silhouetten seiner weiblichen Figuren stören.
Meistens steht Samuel schon morgens um sechs auf und dreht mit Leia seine erste Runde. Leia ist ein King Charles Spaniel, eine Assistenzhündin, die seit sechs Jahren als psychologische Unterstützung mit ihrem Herrchen durch die Welt reist. Denn auch wenn sie sich ständig unter Menschen bewegen, können Künstler ziemlich einsam sein. Gerade Samuel hat sich sein ganzes Leben lang als Exot gefühlt.
Das Schwierigste ist, die Balance zu finden
Die Rolle der Zambinella hat er sich ganz zu eigen gemacht: "Zambinella möchte immer jung und schön und in allem der Beste sein. Aber tief im Inneren weiß er, dass seine Schönheit vergehen wird. Oder es taucht einfach ein neuer Stern am Himmel auf." Ob das auch für Samuel selbst gilt, bleibt unausgesprochen. Für ihn geht es in "Sarrasine" um die Freiheit der Geschlechter, die Freiheit des Ausdrucks, die Freiheit, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist. Außerdem laute die Botschaft, man solle keine Angst haben, etwas Neues auszuprobieren!
All das musste er auch selbst mal lernen: "Eigentlich bin ich ein zutiefst schüchterner Mensch", gesteht Samuel. "Aber auf der Bühne kann ich mich ausdrücken. Wenn ich singe, fühle ich mich frei. Ich lebe das, was ich gerade singe. Das kann gefährlich sein, wenn es zu intensiv wird und man Schwierigkeiten hat, in die Wirklichkeit zurückzukehren." Dann lacht er: "Aber dafür habe ich mein Hündchen. Leia holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück!"
Akzeptieren, wer und was man ist
Zuhause in Caracas wurde Samuel als Jugendlicher jahrelang wegen seiner hohen Stimme gehänselt. Ein außergewöhnliches Phänomen: Der Stimmbruch blieb einfach aus. Das quälte ihn so sehr, dass er erwog, seinen Kehlkopf operieren zu lassen, um endlich auch stimmlich ein Mann zu werden. Doch ein kluger Arzt verdeutlichte ihm, was für ein außergewöhnliches Geschenk eine Sopranstimme für einen Sänger sein könnte - und erst dann entdeckte Samuel, der mit Britney Spears und Beyoncé aufgewachsen war, die Oper für sich. Das venezolanische "Sistema" ermöglichte ihm eine hervorragende musikalische Ausbildung; später ging er ans Pariser Konservatorium und studierte bei Barbara Bonney. Sein erstes professionelles Engagement hatte er 2018 in Händels "Berenice" in Halle.
Wir haben alle dieselben Gefühle
Inzwischen ist Samuel Mariño, gerade 30, angekommen, bei sich und in der Welt der Oper. Er tritt weltweit als Sopranist auf - tatsächlich überwiegend noch in Partien, die für Kastraten komponiert wurden, aber irgendwann, da ist er sich sicher, wird er auch ganz normale Sopranpartien singen können, ohne dass es jemanden kümmert, welchem Geschlecht und welcher Nationalität er angehört: "Wir lieben alle gleich, wir lachen alle gleich, wir haben alle dieselben Gefühle".
Das mit der Nationalität spielt für ihn ohnehin keine große Rolle mehr: Spanisch und Englisch spricht er fließend, Französisch hat er schon als Kind von seiner Mutter aufgeschnappt und die italienische Sprache kam fast von selbst durch die Musik. Nur mit dem Deutschen tut Samuel sich schwer: "Ich nehme zwar Unterricht, aber in Berlin sprechen alle Englisch mit mir." Zum Glück gibt es das Radio: für ihn die beste Methode, sich in die schwierige Fremdsprache einzuhören!
Die Premiere von "Sarrasine" war am 10. Mai im Deutschen Theater Göttingen. Sie wird am 31. August im Rahmen des ARD Radiofestivals 2024 ab 20 Uhr bei NDR Kultur gesendet.