Der Komponist Helmut Lachenmann © picture alliance / dpa Foto: Bernd Weissbrod

Zum Tod von Peter Eötvös: Helmut Lachenmann im Gespräch

Stand: 26.03.2024 18:42 Uhr

Wie kaum ein anderer Komponist hat der 88-jährige Helmut Lachenmann das Hören und das Nachdenken über Musik revolutioniert. Er hat den vor wenigen Tagen verstorbenen Dirigenten und Komponisten Peter Eötvös persönlich gekannt - hier im Gespräch mit Raliza Nikolov.

Lachenmann hat noch einmal neu darüber nachgedacht, was Musik eigentlich ist. Ob er die Musiker den Bogen fest auf die Cellosaiten pressen lässt oder das Klavier als Schlag- oder Zupfinstrument verwendet - Helmut Lachenmann fordert die Musiker und verändert die Hörgewohnheiten des Publikums. In Peter Eötvös hatte er einen Verbündeten.

Peter Eötvös hat etliche Ihrer Werke dirigiert. Wann haben Sie sich kennengelernt?

Helmut Lachenmann: Fünf meiner Kompositionen hat Peter Eötvös uraufgeführt: 1978 bei den Darmstädter Ferienkursen "Les Consolations", für Stimmen, Orchester und Zuspielung; 1984 in Paris "Mouvement - vor der Erstarrung", mit dem Ensemble Intercontemporain; 1986 im WDR Köln das Klavierkonzert "Ausklang", 1992 in Stuttgart "…zwei Gefühle..." mit dem Ensemble Modern; 2018 in München "My Melodies" mit dem Bayerischen Rundfunksinfonieorchester.  Und er hat mich jedesmal - wie so viele andere Komponisten - glücklich gemacht.

Ich hatte ihn schon 1973 erlebt, als mit dem WDR-Orchester in Bonn mein Orchesterstück "Fassade" uraufgeführt wurde, wobei er die Zuspielung von gefiltertem weißen Rauschen steuerte, und ich kannte ihn bereits von fern als - wie Karlheinz Stockhausen es nannte - dessen "Mitarbeiter" in Köln. Im gleichen Rahmen wie meine "Fassade" wurde von ihm ein ans japanische Nô-Theater angelehntes szenisches Werk aufgeführt, in welchem ein großer Holzblock in feierlich geladenen Abständen immer weiter mit einer Axt halbiert wurde, so dass der Klang nach und nach immer heller wurde, und welches per Harakiri mit einem Blutbad endete, und - wenn ich mich richtig entsinne - dies in Anwesenheit eines damals bekannten, sichtbar auf der Bühne stumm dasitzenden japanischen Philosophen.  Es war eine Erfahrung, deren eigenwillige Radikalität mir heute noch als Erinnerung in den Knochen sitzt, tiefer noch als die später mich begeisternde "Chinese Opera".

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Portrait von Peter Eötvös in schwarz/weiß © picture alliance / Karl Schöndorfer

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Peter Eötvös war in den 1970er-Jahren Pianist und Schlagzeuger im Ensemble von Karlheinz Stockhausen. Er lebte mit gleichaltrigen Kollegen in Oeldorf bei Köln in einer Produktionsgemeinschaft und arbeitete im Studio für Elektronische Musik des WDR.

Lachenmann: Vor seiner Einstudierung meiner "Consolations" habe ich ihn in Oeldorf besucht, und wir sind dann zusammen in seinem Pkw nach Stuttgart gefahren. Auf dieser Autoreise haben wir einander persönlich noch näher kennen und mögen gelernt, und ich habe einfach gemerkt, welche selbstlose Begeisterungsfähigkeit und welchen neugierigen Respekt er gegenüber der Musik anderer hatte. Stockhausens "Gruppen für drei Orchester" hat er damals tatsächlich für drei Klaviere bearbeitet. Ich glaube, diese Art von Offenheit gegenüber anderen Welten, nicht zuletzt gegenüber anderen Musikkulturen, gehörten zu seiner eigenen kreativen Potenz.

Sie haben ihn erlebt als Dirigenten Ihrer Werke. Was hat seinen Dirigierstil ausgezeichnet?

Lachenmann: Genaue Kenntnis der Partitur vor den Proben. Das war nicht so selbstverständlich damals. Bei der Einstudierung meines "Mouvement - vor der Erstarrung" - ein Auftragswerk des Ensemble Intercontemporain - fühlten sich viele der französischen Musiker, total auf die Musik eines Pierre Boulez und seiner komponierenden Umgebung eingestellt, von den tonlosen und geräuschhaften und zugleich rhythmisch präzis auszuführenden Spieltechniken meiner Musik überfordert, vielleicht missbraucht. Sie hatten keine Erfahrung und keine Lust, den Bogen in die Faust zu nehmen, ihn hinterm Steg auf die Saiten zu pressen, in die Trompeten tonlos hinein zu pusten oder auf dem Paukenfell hin und her zu wischen.

Und Peter, der nicht nur die Partitur und meine Musik, aber eben auch deren technische und psychische Vermittlungsprobleme kannte, hat mit unglaublich gelassener Konzentration gezeigt, wie man all dieses Ungewohnte sinnvoll überzeugend gestalten und nicht bloß verlegen andeuten und wirkungslos buchstabieren kann. Ich war damals Kummer gewohnt, es gab Dirigenten meiner Musik, die hilflos und verlegen oder ungeduldig und schlecht vorbereitet vor in der Mehrzahl misstrauisch feixenden Ensembles oder Orchestermitgliedern nicht wussten, wie sie einem Streicher oder Bläser spieltechnische Zumutungen erklären sollten, die man in der Ausbildung nie in Betracht gezogen, oft bewusst gemieden hatte. Da hat Peter einfach durch seine zugleich souverän gelassene und respektvoll ansteckende Abenteuerbereitschaft Musiker beeindruckt, oft gewonnen und ich - bestimmt nicht nur ich - verdanke ihm meine besten, mich selbst ermutigenden Aufführungen. Vielleicht war seine sowohl ästhetisch und wie auch spielpraktisch offene Neugier als Komponist ein Teil seiner positiven Ausstrahlung als Dirigent.

Wie würden Sie seine Stellung als Komponist im zwanzigsten Jahrhundert sehen?

Lachenmann: Ich fühle mich durch Ihre Frage überfordert. Wer bin ich? Für mich war Peter Eötvös als brillanter Komponist eine Art Poet. Seine Musik hat auf ganz persönliche und eigenwillige Weise gleichsam Geschichten erzählt. Und aus solcher Perspektive hat er auch meine Erfahrung von Musik expressiv bereichert, aber den Musikbegriff selber nicht strapaziert, so wie es einst die Komponisten der Zweiten Wiener Schule oder in den USA und nach dem Krieg die seriellen Komponisten, um Stockhausen oder um Cage - bewusst oder unbewusst - sich selbst - vielleicht irrtümlich aber "mit Gewinn" - einer ästhetisch schläfrig gewordenen Hörerschaft zugemutet, will sagen zugetraut haben. 

Ich denke manchmal darüber nach, wie Komponisten aus dem osteuropäischen Musikverständnis nach Mitteleuropa blickten und blicken: György Ligeti, der nach dem Ungarnaufstand nach Westdeutschland floh und in Stockhausens Wohnung dessen strukturalistische Partituren bestaunt hat, bevor er selber mit "Apparitions", "Atmosphères" und seinen "Aventures" den irgendwann sklerotisch erstarrten Strukturalismus ins Klangliche befreit hat. György Kurtàg und quasi verirrte und irritierte Darmstadtbesucher wie Krzysztof Penderecki, Witold Lutoslawski, Kazimierz Serocki. Und eben nicht zuletzt Peter Eötvös, letzterer gar als souverän sich öffnender Partner von Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez: Er hat den Klimmzügen eines Stockhausen, Nono, Boulez und ihrer Epigonen zugeschaut. Letztlich sind alle - auch als expressiv neu geladene - ihrem vertrauten Musikbegriff treu geblieben, den ich - nicht nur ich - meinem Traditionsverständnis gehorchend - auf meine Weise öffnen möchte.

Das Interview führte Raliza Nikolov.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | neue musik | 26.03.2024 | 21:00 Uhr

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Klassik

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