Singen hinter Gittern: Musik im Strafvollzug
Manche denken an den Gefangenenchor aus "Nabucco", andere an Jonny Cash in St. Quentin und Folsom Prison - Musik im Gefängnis löst unterschiedliche Bilder aus.
Heute gibt es bundesweit in vielen deutschen Justizvollzugsanstalten musikpädagogische Angebote. Sie sollen auch dazu beitragen, straffällig gewordene Menschen bei der Resozialisierung zu unterstützen. Was bedeutet es für die Menschen, die eine Haft verbüßen, musizieren zu können? Wie arbeiten Musikpädagog*innen in diesem Bereich?
Eine Probe hinter Gittern
"Wo ja wo" singen einige Männer kräftig und motiviert, dass es fast in der gesamten JVA Lübeck zu hören ist. "Klingt voll - und jetzt mal bitte halb so laut und mehr als Frage!" Chorleiter Stephan Fleck beginnt jede Probe mit dem Einsingen. Fleck singt vor, der Chor singt nach. Zehn Männer machen an diesem Nachmittag unter seiner Leitung Musik: mit Stimme, akustischer und E-Gitarre - im Chor der JVA Lübeck. Das Lied der Moorsoldaten, geschrieben 1933 von Gefangenen im Konzentrationslager Börgermoor, steht auf dem Programm.
Eine Initiative der evangelischen Nordkirche
Viele tragen einheitlich grüne T-Shirts und Hosen und schwarze Sneakers. Alle sitzen auf langen Holzbänken. An der Wand des Raums mit Dielenboden und getäfelter Decke hängt ein Kreuz, davor ein Altar, daneben eine Kanzel. Hier werden auch die Gottesdienste in der Haftanstalt gefeiert. Für die Chorprobe hat Stephan Fleck ein elektrisches Klavier geholt. "Machen wir gleich noch mal. Leise beginnen und dabei deutlich reden!" 2019 hat der studierte Musiker den Chor übernommen. Finanziert wird er von der evangelischen Nordkirche. Pastorin Martina Zepke-Lembcke regte an, die musikalische Arbeit nach der Corona-Pause wieder aufzunehmen. Die Gefängnis-Seelsorgerin begleitet den Chorleiter zu den Proben - aus Sicherheitsgründen.
Resozialisierung: Gemeinsames Singen verleiht Perspektive
Wer hier im Chor mitsingen darf, hat eine positive Sozialprognose. Wer teilnehmen möchte, geht freiwillig eine Verpflichtung ein, betont Pastorin Zepke-Lembcke: "Sie können auch in der gleichen Zeit vorm Fernseher sitzen, daddeln, nix machen. Und zu merken, ich kann mehr machen, als ich mir vorstellen kann, das ist ja auch eine Hilfe für draußen - wenn jemand entlassen wird mit dem Gefühl, ich kann mir etwas suchen, was mir guttut." Einer der Sänger ergänzt: "Singen in Gemeinschaft erzeugt ein gutes, lockeres Gefühl. Man vergisst so ein bisschen, wo man ist - für eine Zeit - und trifft auch mal Leute, die man sonst nicht jeden Tag sieht." Dann erklingt John Denvers berühmter Hit "Country roads".
Angst und gemeinsames Singen - das schließt sich aus
Im Verlauf der Probe wird die Stimmung zunehmend gelöster. Das Programm ist eine wilde Mischung aus Rock-, Pop- Countrysongs, Protestliedern und Schlagern. Jeder singt hier jeden Song mit - obwohl die Geschmäcker der Sänger privat verschieden sind. Sie hören "Rock, auch gerne härteren Rock", "Trends und Techno", "Schlager" oder auch "Hip-Hop und allgemein Pop, aber gern auch mal Klassik". Weiter geht es in der Probe mit "Halleluja" von Leonard Cohen. Einige Männer in diesem Chor haben schwere Straftaten verübt - auch körperliche Gewalt gehört dazu. Stephan Fleck und Pastorin Zepke-Lembcke tragen während der Arbeit Personennotrufgeräte. Angst haben sie nicht: "Angst macht Misstrauen, und Misstrauen lässt eine bestimmte Art von Arbeit nicht zu. Wenn ich hier arbeite, ist miteinander im Gespräch zu sein, sich zu kennen - und ich kenne die alle, die beste Voraussetzung dafür, dass nichts passiert."
Musikpädagogik: Von Impulskontrolle bis Selbstwirksamkeit
In musikpädagogischen Angeboten können Menschen Impulskontrolle, Empathie und Disziplin weiterentwickeln - und sie geben den Inhaftierten ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Während der Probe war deutlich zu spüren, dass es den Männern gut getan hat zu singen. Stephan Fleck hat auch schon erlebt, dass sich jemand nach der Entlassung direkt einen neuen Chor gesucht hat. Trotzdem: "Ich bin nicht der 'Gesund-Singer'", sagst Fleck. "Ich darf mit denen hier singen, und dass ich das machen kann, empfinde ich als eine Gnade, würde ich nicht sagen, und bin dankbar dafür, dass es geht." Zum Abschluss singen die Männer noch einen ihrer Lieblingssongs: "Über sieben Brücken musst du gehen". Dann kehrt jeder in seine Zelle zurück. "Tschüss, kommt gut durchs Wochenende, kommt gut durch die Woche. Wir sehen uns nächsten Freitag", verabschiedet sich Fleck.
In der Sendung "Welt der Musik" am morgigen Sonntag gibt es mehr vom Männerchor der JVA Lübeck zu hören. Außerdem wird ein Projekt der Musikhochschule Lübeck und der Jugendarrestanstalt Moltsfelde vorgestellt. Im Gespräch Musikpädagogin Prof. Anette Ziegenmeyer geht es um die Wirkung von Musik im Zusammenhang mit der Resozialisierung straffällig gewordener Menschen.