Wo die Welt schmilzt: Weinende Gesichter im Eis

Stand: 17.03.2023 18:17 Uhr

Ragnar Axelsson fotografiert seit Jahrzehnten im arktischen Eis. Jetzt präsentieren die Deichtorhallen in Hamburg die große Retrospektive "Where the World is melting".

von Katharina Ricard

"Mit Zehn sah ich zu den Vögeln am Himmel hinauf und dachte: Ich will fliegen! Damals versprach ich mir selbst, dass ich eines Tages fliegen werde", erinnert sich Ragnar Axelsson. Seit mehr als 40 Jahren sieht er nun aus der Luft, wie die Welt sich verändert. "Gerade habe ich mir ein Segelflugzeug gekauft, um Gletscher von oben zu fotografieren", sagt der isländische Fotograf. "Meine Freunde, die Wissenschaftler, sagen, dass sie in 150 bis 200 Jahren verschwunden sein werden; das ist ziemlich bald. Deshalb ist es wichtig, sie von oben zu dokumentieren."

Gesichter im Eis

Mýrdalsjökull, Iceland, 2010 © Ragnar Axelsson
Axelsson schuf über Jahrzehnte ein einmaliges Archiv, aus dem jetzt viele, viele Schätze zu sehen sind: Faszinierende Landschaften, die es zum Teil heute nicht mehr gibt.

Auf seinen Schwarz-Weiß-Fotos friert Axelsson das Eis und die arktische Welt ein. Dort wird sie sichtbar bleiben; auch wenn sie verschwunden ist. "Ich sehe eine Menge Gesichter im Eis. Ich betrachte Gletscher als etwas Lebendiges. Wie ein Kind, das in den Himmel schaut und in Wolken Gesichter sieht", sagt Axelsson über seine Fotos. "Wenn Du ins Innere eines Gletschers oder eines Eisberg blickst und dich hin- und herbewegst, kommen Figuren und Gesichter zum Vorschein. Es ist als sähen sie dich an."

Vertrauen mit den Eingeborenen aufbauen

Ein Jäger reist den Arm hoch und macht dabei ein erschrockenes Gesicht. © Ragnar Axelsson
"Die besten Momente fange ich ein - wenn sie sich nicht beobachtet fühlen", sagt Ragnar Axelsson.

Seine Expeditionen führen ihn nach Island, Grönland und Sibirien - an den Rand der Zivilisation. An den Orten, an denen er fotografiert, leben nur die Menschen, die dort geboren wurden. "Ich komme denen, die ich fotografiere, immer sehr nahe. Wenn sie mir vertrauen, kann ich sie begleiten", sagt er. Erst dann fotografiert er: "Ich bin wie eine Fliege an der Wand: Sie denken nicht daran, dass ich da bin." Als Ragnar Axelsson begann, zu fotografieren, bekam er von seiner Mentorin folgenden Rat: Auch, wenn Du glaubst, das perfekte Foto schon gemacht zu haben - du hast es nicht. Mach weiter.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Ragnar Axelsson in seinem Segelflugzeug. © Ragnar Axelsson
Der Fotograf Ragnar Axelsson in seinem Segelflugzeug.

Seit mehr als 40 Jahren reist Axelsson durch die entlegendsten Gebiete der Arktis. Bei jedem Wetter begleitet er Rentierhirten oder Jäger mit ihren Schlittenhunden, notiert ihre Geschichten und Erfahrungen, zeigt die atemberaubende Schönheit 3.000 Meter hoher Gletscher - und seit Menschengedenken zugefrorene Meeresbuchten, die plötzlich eisfrei sind. "Ich habe mal einen Freund von mir, den ich seit 30 Jahren kenne, gefragt: 'Wenn Du einen Wunsch frei hättest, was wäre es?' Und er sagte: 'Gib mir 25 Jahre der Zeit zurück. Als das Eis hier noch sicher war.'"

Ragnar hat diesen Freund schon oft begleitet. Und fotografiert. "Diese Momente seines Lebens werden auf den Fotos bleiben. Auch wenn sich alles verändert - die Welt und er mit ihr. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit." Irgendwann gebe es nur noch die Bilder, die daran erinnern, wie die Arktis und das Leben darin einst waren.

Weitere Informationen
Cover des Buches "The World is melting" von Ragnar Axelsson © Kehrer Verlag/Ragnar Axelsson

"Where The World Is Melting" von Ragnar Axelsson

Er gilt als Großmeister der Naturfotografie. Sein Bildband präsentiert Fotografien aus über 50 Jahren. mehr

Wo die Welt schmilzt: Weinende Gesichter im Eis

Ragnar Axelsson fotografiert seit Jahrzehnten in der Arktis. Die Deichtorhallen präsentieren seine Fotos in "Where the World is melting".

Art:
Ausstellung
Datum:
Ende:
Ort:
Deichtorhallen - Phoxxi
Deichtorstraße 1-2
20095 Hamburg
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 20.03.2023 | 22:45 Uhr

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Fotografie

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