Marcel Reich-Ranicki: Ein Mann der Worte
Lesern ist egal, was im Buche steht, wenn die Kritik interessant ist
Er fand es selbstverständlich, Primus inter Pares zu sein. In einem Fernsehfilm über ihn habe man gesagt, in der deutschen Literaturgeschichte habe "noch nie ein so großes Machtzentrum" existiert wie der Literaturteil der "FAZ", als er Chef war. War es gut für die Literatur? Seine Antwort hieß ja. Er wusste, was Einfluss bedeutet.
Berühmt sein Auftritt 2008, als er live vor Millionen den Deutschen Fernsehpreis ablehnte. Über Medien dachte er illusionslos nach, über Netzwerke auch: "Der Literaturbetrieb aller Länder ist korrupt." Er meinte allerlei Verflechtung. Bestechung gebe es nicht, hat er glaubwürdig versichert. Gefällig hat er nicht kritisiert.
Wer für ihn schrieb, sollte eigene Meinungen mitteilen, nicht die seinen. Hauptsache, gut begründet: Lesern ist egal, was im Buche steht, wenn die Kritik interessant ist. Die Großen von Lessing bis Kerr lese man immer gern, gleich, worüber sie schrieben. Seine eigenen Texte bestehen den Test. Weil seine Liebe zur deutschen Sprache von dieser Sprache erwidert wurde.
Die zwei "Ruhestörer"
Martin Walser, der sich an ihm oft gerieben hat, wie auch er sich an Walser rieb, widmete ihm einen freundlichen Nachruf, in dem es sinngemäß hieß, Reich-Ranicki habe sich gern Einfällen überlassen. Nicht als einziger. In Walsers umkämpftem Roman "Tod eines Kritikers" tritt der Kritiker André Ehrl-König als karikierte Figur auf den Plan. Klischees prägten die Debatte, und Walser sah sich konfrontiert mit dem Vorwurf des Antisemitismus.
Die Begabung fürs Drama besaß der Großkritiker nicht exklusiv. Ein Großschriftsteller wie Günter Grass hat da kräftig mitgehalten. Grass und Reich-Ranicki, ein berühmtes Freund-Feindespaar: Die zwei "Ruhestörer", mit Reich-Ranickis Wort gesagt, gaben sich viel und schenkten sich nichts.
Oft hat Reich-Ranicki betont, er habe mehr gelobt als getadelt. Seinen unermüdlichen Einsatz für Autoren und Autorinnen, von Wolfgang Koeppen bis Ulla Hahn, hat man ihm unendlich gedankt. In Erinnerung aber bleibt der Verriss, hat er gern gesagt. Die es traf, litten schwer. Schwerer noch waren manche getroffen, als er ihre eigene Hinrichtung nicht in seine Sammlung "Lauter Verrisse" aufnahm: leider nicht bedeutend genug.
Ein Außenseiter im Zentrum
Was im Fernsehen oft nur polemisch klang, konnte er hinreißend klug begründen. Dafür stehen seine Bücher und die Autobiografie "Mein Leben", in der er sich als Erzähler zeigt. Man erfährt dort zum Beispiel, warum er sich "Reich-Ranicki" nannte: Für den polnischen Konsul in London fand man seinen Namen "Reich" nicht passend. Er klang nach "Drittes Reich". Etwas Polnisches musste her. Reich entschied sich für Ranicki.
Von Beginn an hat er sich ins Zeug geworfen. Als ausgehend von der "Gruppe 47" das Diskutieren und die Kritik in Deutschland neu eingeübt wurden, nahm er entschlossen Anteil. Jahrelang schrieb er für "DIE ZEIT", ohne zur Redaktion gehören zu dürfen. Als er 1973 zur "FAZ" kam, erschien sein Buch "Über Ruhestörer - Juden in der deutschen Literatur", gewidmet dem Andenken derer, "die von den Deutschen ermordet wurden, weil sie Juden waren". Seine Eltern, sein Bruder gehörten dazu. Als er im September 2013 im hohen Alter starb, ging einer, der Außenseiter war und im Zentrum stand.
Wäre einer wie er noch möglich?
Gute Kritikerinnen gibt’s immer, manchmal auch brillante. Die Frage ist eher: Wäre einer wie er noch möglich in der neuen Welt, in der die Lagerfeuer des Wortes abgelöst worden sind durch dezentrale Wortstationen, digital, non-linear, Podcasts, Blogs mit tausend Stimmen?
Was würde er sagen? Zu einer zerklüfteten Landschaft, in der man Kritik mit Empörung verwechselt und mit Raunen von Verschwörung? Verschont mich? Oder nutzte er seinen Verstand, um die Köpfe zurecht zu rücken?
Was sagt es über Marcel Reich-Ranicki, dass man sich solche Fragen stellt? Es sagt, dass er fehlen könnte.
- Teil 1: Kritik als Unterhaltungskunst
- Teil 2: Lesern ist egal, was im Buche steht, wenn die Kritik interessant ist