Marcel Reich-Ranicki: Ein Mann der Worte
Marcel Reich-Ranicki war der wohl bedeutendste deutsche Literaturkritiker der Nachkriegszeit. Am Montag hat sich sein Todestag zum zehnten Mal gejährt. Welches Vermächtnis hat er der Literaturkritik hinterlassen?
Was würde er dazu sagen? Dass jetzt etliche seiner Deutschen Kritik mit Schlaumeierei verwechseln und mit dem kindlichen Glauben an Mythen? Ausgerechnet in diesem Land, das nach totalem Geistesbankrott die Fähigkeit zur Kritik mühsam zurückgewinnen musste, als Bedingung der Demokratie? Kritik ist nicht Wüten und Wähnen, Kritik ist die Kunst der Unterscheidung. Was also würde er sagen?
Hätte es ihn kalt gelassen? Ihn, den Juden, der mit Mut und Glück dem Warschauer Getto entrann? Der nach dem Krieg der Kommunistischen Partei Polens beitrat, für die Polnische Militärmission in Berlin arbeitete, polnischer Konsul in London war? Wochenlang saß er in Einzelhaft, nachdem ihn die Kommunisten aus der Partei geworfen hatten. Später durfte er in einem Warschauer Verlag ein Lektorat für deutschsprachige Literatur gründen, schrieb Rezensionen und Bücher und übersetzte Kafkas "Schloss". Dieser so besondere Mann, der 1958 der jungen Bundesrepublik sein Vertrauen schenkte, nach allem, was gewesen war, und zwar sein Leben lang: Was wohl würde er sagen?
Kritik als Unterhaltungskunst
Marcel Reich-Ranicki. Dass er hier war und kritisierte, dieser Glücksfall gab Anlass zur Hoffnung, die Deutschen hätten Kritik ein für alle Mal gelernt. Von wem mit Lust, wenn nicht von ihm? Dabei war er ein Mensch mit Makeln. Feinde hatte er genug. Er hielt es für richtig so.
Er lebte für Literatur und Kritik. Und indem er so lebte, wirkte er darüber hinaus. Er hat die Lesenden, später auch die Zusehenden auf seine Art Kritik gelehrt. Er hat ja nicht ungern doziert. Das Wundersame war, dass man es gar nicht immer bemerkte. Es war einfach zu unterhaltsam, wie er, bei schneidender Zunge, seinen Zeigefinger schwenkte. Kritik als Unterhaltungskunst. Er hielt es für richtig so.
Vergnügen zu vermitteln und Lust, das verlangte er von Büchern. Und so hat er Bücher vermittelt, indem er Vergnügen bereitet hat, und sei es durch demonstratives Leiden. Das "schlechte" Buch verschaffte ihm körperliche Pein. Jedenfalls wirkte es so. Ganz sicher konnte man da nicht sein.
Und die Urteilsgründe konnten schwanken. Seine Subjektivität, der er aus Überzeugung folgte, war so bemerkenswert, weil sie als Modell nicht taugt. Sie fußte auf einer Autorität, die in Jahrzehnten erworben war, gespeist aus überlegener Kenntnis, nie versiegender Neugier und dem Mut, sich auszusetzen.
Schlagfertig und charmant
Das "Literarische Quartett". Hier wurde er im schon höheren Alter zum seltenen Fall eines Fernsehstars, der seine große Wirkung nicht den Gesetzen des Mediums verdankt, weil sich stattdessen das Medium seiner Wirkung fügte. Es lag an seiner rhetorischen Gabe: Pathos, also Wortgewalt mit emotionalem Sexappeal. Ethos, also die Glaubwürdigkeit dessen, der mit seiner Person für das Gesagte einsteht. Logos, also die Gabe, schlüssig Beweis zu führen. Schlagfertig und charmant, durch Bildung und Witz gewappnet, wenn es sein musste, rücksichtslos: Man muss das nicht weiter analysieren. Manche haben gesagt, er verrate die feine Sache an den gröberen Erfolg. Dabei war er doch ihr größter Vermittler.
Unter denen, die in der "FAZ" für ihn rezensierten oder für die "Frankfurter Anthologie", seine Großtat fürs Lyrische, über Gedichte nachdachten, gab es etliche Professoren. Seine Bedingung: gut und verständlich schreiben.
Mit Wissen, Fleiß und Leidenschaft
Natürlich hat er Macht ausgeübt. Zärtlich hob er Talente ins Licht. Mit manchmal ätzender Schärfe fuhr er in schwache Romane hinein, gleich, wie berühmt die Urheber waren.
Das alles kam nicht von ungefähr. Er verdankte es gewaltigem Wissen, unerhörtem Fleiß, riesengroßer Leidenschaft und ungeheurem Auftrittstalent. So ist er zur Marke geworden. Man sagt damit nichts Falsches und verrät doch, was er war, was ihm wichtig war. Das gehört zu den Paradoxien dieses singulären Lebens: Indem er die Kritik in der massenmedialen Öffentlichkeit groß gemacht hat wie nie, manövrierte er sie in Gefahren. Auf dem Grat im Scheinwerferlicht wirkte er auf manche wie seine eigene Karikatur. Ein Missverständnis.
Nur scheinbar lässt er sich leicht parodieren. In Wahrheit war er unnachahmlich. Wenn man das R rollt, die Stimme schnarrend hebt, klingt es ähnlich und tönt doch falsch. Es fehlt seine Urteilskraft. Seine Lebensgeschichte. Vor allem seine Befähigung zu nicht erlöschender Liebe.
Der Eklat mit Sigrid Löffler
Marcel Reich, der exzellente Berliner Deutschschüler, von den Nationalsozialisten nach dem Abitur 1938 aus dem Land getrieben, mochte von den Lieben seines Lebens nicht lassen. Nicht von seiner "Tosia", die wie er 1920 geboren war. Sie blieb sein Lebensmensch, von der Heirat im Getto bis zum Tod. Und nicht von der deutschen Literatur, die ihm, wie dem verehrten Heine, ein "portatives Vaterland" war. Dass er wohl auch zurückkam, um ihr physisch nahe zu sein, ist eine bewegende Pointe. Das Körperliche, Erotisch-Sexuelle fand er literarisch bedeutsam.
Dieses Credo irritierte. Im Juni 2000, als das 67. "Quartett" von der Expo in Hannover gesendet wird, der Eklat mit Sigrid Löffler: Ein neuer Roman von Murakami, "literarisches Fastfood", wie Löffler meint. Sie erwähnt eine Stelle, die das Wort "vögeln" enthält. Er nimmt Anlauf: Jedes hoch erotische Buch lehne sie ab. Und dann: "Sie können die Liebe im Roman nicht ertragen." Der Subtext vermittelte Boshafteres. Seine manchmal nicht leicht verdaulichen Ansichten zur Rolle schreibender Frauen wären nicht in zwei Sätzen verhandelt.
- Teil 1: Kritik als Unterhaltungskunst
- Teil 2: Lesern ist egal, was im Buche steht, wenn die Kritik interessant ist