Christiane Peitz © IMAGO / APP-Photo

Krise der Kritik? Lob der Kritik!

Stand: 06.07.2018 18:45 Uhr

von Christiane Peitz

Komplizen der Künste

Wer mit der Freiheit des Denkens etwas anfangen will, das die Kunst ihrem Publikum eröffnet, muss immer auch die Freiheit der Kunst selbst verteidigen. Kritiker sind am Ende weniger Anwälte des Publikums oder Dienstleister der Kulturindustrie als Komplizen der Künste. Quasi hauptberufliche Fans, die sich beim Blumenberg'schen Liebesakt selber über die Schulter schauen, um herauszufinden, was sie da eigentlich verführt, betört oder abtörnt. Im Zweifel nehmen sie die gute Musik gegen das schlechte Konzert in Schutz, den genialen Schauspieler gegen die maue Regie oder umgekehrt.

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Und sie horchen dem Gespräch nach, das die Werke selbst miteinander führen. Georg Seeßlen erwartet von der Kritik "die Schaffung von Zugängen, Lesarten, Vorschlägen und Zusammenhängen". Anthony Scott formuliert es radikaler: "Ein Kunstwerk ist selbst ein Stück Kritik", schreibt er in seinem großartig weitschweifigen Buch. Er meint damit, dass jede Musik, jede Literatur, jedes Drama im Echoraum des bereits Komponierten und Geschriebenen entsteht, auf den Kanon reagiert, ihn fortsetzt, abwandelt - oder bewusst mit ihm bricht. Diese Linie nachzuzeichnen, auch das ist Aufgabe des Kritikers.

Von Anfang an ein schwerer Stand

Die Kritik ist ein Kind der Aufklärung. Sie wurde mit den ersten Fachzeitschriften und den ersten Massenmedien aus der Taufe gehoben. Der Kritiker hatte dabei von Anfang an einen schweren Stand. 1759 erfand Samuel Johnson für das britische Satiremagazin "The Idler" - "Der Müßiggänger" - einen gewissen Dick Minim, einen Kritikertypen, der über alles und jeden Plattitüden zum Besten gibt.

Dick Minim ist eine Niete in der Schule, aber er hat ein Vermögen geerbt, das macht ihn eigentlich unabhängig. Er besitzt einen Stammtisch im Café und einen Stammplatz im Theater und tut sich schon bald damit hervor, dass er Shakespeare Fehler nachweist. 1779 taucht er in modifizierter Form wieder in der Theaterburleske "Der Kritiker" auf, darin heißt er Mr. Puff, Herr Windbeutel. Der versucht sich als Dramatiker, nachdem er mit großem Erfolg Jubelkritiken gegen Bezahlung verfasst hatte. Nicht der Verlag honorierte ihn dafür, sondern das Theater oder der Künstler. Vermutlich hat die Satire einen wahren Kern; schon damals galten Kritiker offenbar als korrupt oder mit dem Betrieb verbandelt.

Die Balance zwischen notwendiger Nähe und gebotener journalistischer Distanz ist oft nicht leicht zu wahren, (ähnlich geht es den Parlamentsjournalisten mit den Hintergrundgesprächen im Bannkreis der Macht). Kunst wird von Menschen gemacht, die es zu respektieren und verstehen gilt. Wer nie in der Theaterkantine sitzt, nie ein Orchester auf Reisen begleitet oder einen Künstler im Atelier besucht, wird sich schwer damit tun.

Zwischen PR, Werkanalyse und Kulturbetriebsprüfung

Seit Mr. Puff bewegt sich die Kritik zwischen PR, Werkanalyse und Kulturbetriebsprüfung. Sie hob Beethoven auf den Sockel, machte das Kino als Schmuddelkind der Musen salonfähig, erklärt Popsongs zu Klassikern, registriert Schulen, Strömungen, neue Talente (und kontrolliert die Qualität wie die Publikumsnähe der subventionierten Häuser). Und sie fördert die Selbstreflexion der Künste. Nicht wenige Künstler verfassten selbst Kritiken, Schumann, Baudelaire, Nietzsche, Fontane, Tucholsky, Claude Debussy, der sich dafür den Spitznamen Monsieur Croche gab. Und die Filmemacher der Nouvelle Vague: Truffaut, Chabrol, Godard, sie alle schrieben in den "Cahiers du Cinéma", bevor sie zu drehen begannen. Noch heute wechselt mancher die Seiten.

Erklär mir die Bilder, erklär mir die Töne, erklär mir die Welt, so ließe sich Siegfried Kracauers Diktum abwandeln, dass der Filmkritiker von Rang nur als Gesellschaftskritiker denkbar sei. Dennoch erschöpft sich die Kunst nicht darin, als Seismograph kollektiver Befindlichkeiten entziffert werden zu können. Aber sie verrät viel über das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Wie kommt das Böse in die Welt? Warum ist Schönheit ein Trost? Diesen leisen Dingen redet auch die Kritik das Wort, dem Müßiggang anstelle der Tüchtigkeit, all dem, was sich der Zwecklogik entzieht. Die Kunst schärft die Sinne, sie rettet die Sinnlichkeit. Die Kritik macht sie kenntlich.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.07.2018 | 19:05 Uhr

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