Christiane Peitz © IMAGO / APP-Photo

Krise der Kritik? Lob der Kritik!

Stand: 06.07.2018 18:45 Uhr

Christiane Peitz macht sich Gedanken, warum die gute alte Rezension vom Aussterben bedroht und dennoch nicht totzukriegen ist, trotz Debattenfeuilleton und Internet-Likes.

von Christiane Peitz

Der Kulturbetrieb brummt, auch in der Sommerpause, von Bayreuth bis zur Blockbuster-Ausstellung. Was sollen da die Nörgler vom Dienst, die Kritiker? In den Tageszeitungen erscheinen auf den Feuilletonseiten längst auch ganz andere Texte: Debattenbeiträge, Interviews, Lektüretipps, Rankings. Die Rezension, traditionell die Königsdisziplin des Feuilletons, hat es schwer in Zeiten von Auflagenschwund und Klickraten im Netz.

Dem Kritiker wird gewöhnlich eine paradoxe Mischung aus Neid, Verachtung und Respekt entgegengebracht, wird er doch für eine Tätigkeit bezahlt, die für andere ein oft kostspieliges Freizeitvergnügen bedeutet. Und ist das im Ernst ein Beruf? Gleichzeitig hat etwa die Oper mit den Börsenkursen gemeinsam, dass ihr fundiertes Verständnis nur Spezialisten zugetraut wird. So oder so gilt die Kritik als Minderheitenprogramm - und als hoffnungslos langsam. Der Sportjournalist stellt seinen Spielbericht wenige Minuten nach dem Abpfiff des WM-Viertelfinales ins Netz; die Opern-Kritik erscheint in der Regel erst am übernächsten Tag. Die Kritik zu verteidigen, heißt auch, das Recht auf Zeit zu verteidigen, Zeit zum Nachdenken - nicht zuletzt gegen den Spott eines Georg Kreisler, der in seinem berühmten Lied vom grundbösen Musikkritiker reimte: "Es gehört zu meinen Pflichten, Schönes zu vernichten."

Die Kritik ist nicht totzukriegen

Der Kritiker, ein Parasit des Kulturbetriebs, dessen schöpferische Karriere scheiterte und der nun mit Minderwertigkeitskomplex auf der Zuschauerbank sitzt, um den Fans die Laune zu verderben? Das Ressentiment ist nicht totzukriegen. Die Kritik selbst aber auch nicht, allen Krisen des Qualitätsjournalismus zum Trotz.

Was daran liegt, dass eine diffuse Sehnsucht nach der Hymne, nach dem Verriss, nach Orientierung und Verbindlichkeit existiert, nach den guten alten Kritikerpäpsten. Aber ist Kritik nicht auf ganz andere Weise verbindlich? Wer ins Kino geht, wer einen Roman liest oder einen Konzertabend besucht, will sich gern vergewissern. Was genau habe ich da gesehen, gelesen, gehört? Was sagen die anderen? Und wenn ich selber nicht dabei sein konnte, wie war's überhaupt? Lohnt sich die Lektüre, der Kino- oder Theaterbesuch? Der Austausch über Erlebtes ist ein Urbedürfnis des Menschen, nicht zuletzt angesichts der Künste redet man sich gern die Köpfe heiß.

Vorkoster, Warentester, Kundschafter

Kritiker sind zunächst einmal Augen- und Ohrenzeugen, Vorkoster, Warentester. Kundschafter, die heimkehren vom Planeten Kultur. Die Beobachtung der Szene, die Grundversorgung mit Informationen über deren ästhetische Hervorbringungen gehört immer noch zum Kerngeschäft des Feuilletons. Dennoch erschöpft sich Kritik im emphatischen Wortsinn nicht in Lob oder Tadel. Anthony O. Scott, Filmkritiker der "New York Times", schreibt in seinem 2017 erschienenen Buch "Kritik üben": "Die Kunst ist dazu da, unser Denken zu befreien, und die Aufgabe der Kritik ist es herauszufinden, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollen." Es lohnt sich, diesem kühnen Satz ein wenig auf den Grund zu gehen.

Buchtipp

Kritik üben. Die Kunst des feinen Urteils
von Anthony O. Scott
Hanser Verlag
Seiten: 320
ISBN: 978-3446254671
Preis: 22,00 Euro

Wer über einen Film spricht, über ein Buch, ein Bild, eine Musik, spricht letztlich über sich selbst. Über das Unsagbare, die Liebe, den Schmerz, das Glück, die Wahrheit, das Unbehagen an der Welt, all das, was den Verstand übersteigt, was nicht zu fassen ist in Slogans oder Schlagzeilen. Das Denken ist damit nicht per se befreit, aber es tut sich doch ein Freiraum auf, in dem sich Ungeschütztes mitteilen lässt. All die "schwer zu beantwortenden Fragen, die an den Rändern unseres Nachdenkens aufflackern", wie Scott es nennt. Kritiker sind Moderatoren dieses mal vorsichtig tastenden, mal streitlustigen, oft wunderbar uferlosen Gesprächs. Eine gute Kritik, die sich nicht mit Standard-Adjektiven begnügt, pflegt bei genauerem Hinsehen einen persönlichen, intimen Ton, der (sich in der Öffentlichkeit sonst eher verbietet. Und der gleichzeitig) nicht zu verwechseln ist mit der Neigung der sozialen Medien zu Voyeurismus und Ich-Sucht.  

Kritiker sind Dilettanten

Die Musik, der Film, der Tanz, viele Künste sind flüchtig. Sie entziehen sich dem Zugriff der Worte und nehmen ihr Publikum eben damit gefangen. Die Kritik spürt dem nach. Sie vermittelt mit dem Hilfsinstrumentarium der prosaischen Sprache und belässt den Künsten doch ihren offenen, volatilen Charakter. Auch der Publizist Georg Seeßlen nennt die Kritik einen durch Gespräch und Erzählung entstehenden Raum, "in dem man sich frei bewegen und debattieren kann".

Kritiker sind in der Regel keine professionellen Kunsthistoriker, Literatur- oder Theaterwissenschaftler, sondern Dilettanten. Amateure im besten Wortsinn, Liebhaber, die nicht müde werden, sich am Objekt ihrer Begierde zu erfreuen. Man kann monatelang kein gutes Konzert erleben und dennoch leidenschaftlicher Musik-Liebender sein, eine Saison lang keine gescheite Neuerscheinung lesen und trotzdem ein Literatur-Afficionado. Erst wenn die Passion erlöscht, wird es schwierig. "Nein, ein ordentlicher Beruf ist das wirklich nicht, eher eine Art Leidenschaft", sagte denn auch der frühere Filmkritiker und heutige Filmemacher Hans Christoph Blumenberg. Über Filme zu schreiben, heiße, "über eine Liebe zu schreiben, manchmal auch: eine unglückliche Liebe".

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