"Anora": Sexarbeiterin trifft auf verwöhntes Oligarchensöhnchen
Der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme beim Filmfestival in Cannes ist ein hochtouriger Genre-Mix. Wie bereits in früheren Filmen geht es Regisseur Sean Baker um soziale Randgruppen.
Ja, die Optik ist stylish, das Tempo hyperdynamisch und die Performance der Hauptdarstellerin atemberaubend. Das kann einen als Zuschauer schon mitreißen. Aber ehrlich - wenn die ersten 40 Minuten eines insgesamt 138-minütigen Filmes fast ausschließlich aus Sex bestehen, dann möchte man dem Regisseur doch vielleicht ein spezielleres Genre ans Herz legen.
Der Regisseur ist Sean Baker, und der hat schon in anderen Filmen mit der Branche Kontakt aufgenommen. In seinem spritzigen und kurzweiligen "Tangerine L.A." zum Beispiel ging es vor zehn Jahren um einen trans Sexarbeiter in Los Angeles.
Luxusleben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Diesmal ist die Protagonistin eine junge New Yorker Sexarbeiterin, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Sie hat ihr Standing und wird von einigen Kolleginnen bewundert. Ani, wie Anora genannt werden möchte, geht zwar mit professioneller Abgeklärtheit im Stripclub auf Kundenfang, aber auch offen und ehrlich, manchmal sogar etwas naiv - eine entwaffnende Mischung. Und ihr Migrationshintergrund - Anis Oma hat nie Englisch gelernt und daher mit der Enkelin nur Russisch gesprochen - kommt ihr zugute, als nicht nur Körpereinsatz, sondern auch Sprachkenntnisse im Job gefragt sind: Vanya ist Russe, zwei Jahre jünger als Ani, und ein Nimmersatt in jeder Beziehung. Er kann einfach nicht genug kriegen, vom Wodka, von Drogen, von Sex, und bestellt Ani noch für einen Privattermin zu sich nach Hause - eine Luxusvilla, wie Ani sie noch nie gesehen hat.
Vanyas Papa ist ein russischer Oligarch und sein wohlstandsverwahrloster Sohn ein infantiler Milchbubi, der auf Daddys Kosten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Ani für 15.000 Dollar für eine Woche zu seiner Freundin macht.
Eine Blitzhochzeit, die zu Komplikationen führt
Bei einer letzten Spritztour nach Las Vegas, bevor Vanya zurück zu seinen Eltern in die Heimat soll, wird es dann ernst:
"Wenn ich eine Amerikanerin heirate, dann muss ich nicht zurück nach Russland."
"Du erwählst mich zu deiner artigen Ehefrau?"
"Ich meine es ernst."
"Drei Karat."
"Wie wäre es mit vier, oder fünf, oder sechs?"
Inzwischen hat Ani auch ganz unprofessionelle Gefühle entwickelt. Es kommt zur Blitzhochzeit, eine kurze, wilde Zeit wird ausschweifend gelebt. Doch als Vanyas Eltern von der Ehe erfahren, ist der Spaß vorbei. Der örtliche Handlanger und sein Schlägertrupp werden geschickt, um die Sache in Ordnung zu bringen und Ani ihren Platz zuzuweisen.
Nach dem romantischen Teil folgt die Konfrontation mit der Realität in Form einer überzogenen Screwball-Komödie, bevor sich das Drama abzeichnet. Das notwendige Verschmelzen der drei Genres gelingt jedoch nur bedingt.
Mikey Madison glänzt in ihrer Rolle als Ani
Am Ende ist das Ganze eine hochtourig gefahrene Buckelpiste, auf der letztlich wenig Strecke gemacht wird. Wie bereits in früheren Filmen geht es dem Regisseur um soziale Randgruppen, menschliche Schutzschilde und Verletzlichkeiten.
Die Hauptdarstellerin gibt und zeigt alles - sie ist fantastisch. Ihre Leistung in "Anora" katapultiert Mikey Madison, die bisher nur in Nebenrollen zu sehen war, ganz sicher in die Star-Liga von Hollywood-Schauspielerinnen.
Anora
- Genre:
- Komödie, Drama
- Produktionsjahr:
- 2024
- Produktionsland:
- USA
- Zusatzinfo:
- mit Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov und anderen
- Regie:
- Sean Baker
- Länge:
- 139 Minuten
- FSK:
- ab 16 Jahren
- Kinostart:
- 31. Oktober 2024